- 75. LUST, Frühling 03, Juni/Juli/August:
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- Thema 2003:
Style over substance?
Das Thema des OPEN OHR Festivals 2003
style over substance ? Frei nach dem Motto: Wer nicht schreit,
der nicht gewinnt brüllen uns immer mehr Bilder und Slogans
aus Werbewelt und Politik an. PolitikerInnen konzentrieren sich
auf die Präsentation von Images und nicht auf die Repräsentation
des Volkes. Im privaten Bereich ist Style längst zum Identitätsstifter
geworden. Und auch außerparlamentarische Gruppen haben
dies längst begriffen und inszenieren ihre Forderungen medienwirksam
auf den Strassen von Seattle, Genua und Prag. Ist style over
substance also eine gesellschaftliche und persönliche Sackgasse
oder eröffnen sich dadurch Chancen?
- Um in der Masse zur Wirkung zu kommen,
bedarf es der Reklame. Ihr Lärm ist die Form, in der heute
auch jede geistige Bewegung vor sich gehen muß. (Karl
Jaspers)
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- Laut sind sie alle. Die PolitikerInnen, die
Medien, die WirtschaftsvertreterInnen, die Lobbyisten, die Verbände
und Institutionen. Unüberhörsehbar im alltäglichen
Leben einer jeden einzelnen. Frei nach dem Motto: Wer nicht
schreit, der nicht gewinnt, brüllen uns Bilder und
Slogans aus Werbewelt und Politik an. Da ist der eine schon drin,
während die andere noch Bluna ist. Da behauptete Schröder
Wir schaffen es, Stoiber forderte auf Wahlplakaten,
es sei Zeit für Taten, und die FDP beschränkte
sich konsequenterweise gleich auf inhaltsfreie 18.
Dass solche Slogans mit Inhalt gefüllt werden, ist selten
geworden in der Bundesrepublik. Die Strategie von PolitikerInnen
konzentriert sich heute in erster Linie auf die Präsentation
von Images und nicht auf die Repräsentation des Volkes.
Style dient hier dem politischen Machterhalt. PolitikerInnen
verkaufen sich als Produkte. Und das kommt an. Kein Wunder, leben
wir doch in einer über Jahrzehnte an Werbung geschulten
Gesellschaft, in der sich BürgerInnen ständig selbst
verkaufen müssen. Auch außerparlamentarische Gruppen
haben dies längst begriffen und inszenieren ihre Forderungen
medienwirksam auf den Straßen von Seattle, Genua und Prag,
nutzen den Style also als Mittel, um in einer angeblich politikverdrossenen
Gesellschaft den Finger auf die Wunden zu legen.
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- Ist style over substance also eine gesellschaftliche
und persönliche Sackgasse oder eröffnen sich dadurch
Chancen? Diese Frage gilt es beim Open Ohr 2003 auf drei Plattformen
zu diskutieren: einerseits die politische und wirtschaftliche
Inszenierung, andererseits die individuelle Inszenierung und
ihre Gründe, sowie Style als Chance zur Veränderung.
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- Politische und wirtschaftliche Inszenierung
- Die Strategien von Produkt- und Politikvermittlung
haben sich einander angenähert eine Ökonomisierung
der Politik. Style dient als Beschaffer von Mehrheiten und Absatzmärkten.
Bedürfnisse und Ängste werden bewußt zum eigenen
Machterhalt instrumentalisiert. Da werden PolitikerInnen zu Popstars,
Jeansmarken zu Identitätsstiftern und Möbelhäuser
zu Kämpfern gegen Kinderarbeit. Gemeinsam ist ihnen allen
die pure, zweckdienliche Inszenierung. Inhalte, Erklärungen,
Veränderungsvorschläge treten hinter Showeffekten zurück
der Weg zum demagogischen Populismus ist nicht weit. Der
Faschismus grüßt aus Österreich und
Holland. Probleme werden durch Umettiketierung gelöst. Angriffskriege
werden zu Verteidigungskriegen im Namen der Freiheit. Dieser
Zusammenhang wird wiederum verschleiert, jetzt wird eher auf
den Armani-Anzug als Versinnbildlichung von Seriosität als
auf die eigentliche politische Botschaft geachtet. Politik scheint
zur reinen Bühne geworden zu sein. Klar ersichtlich ist
Machthunger, Konsensbildung bis an die Grenze jeder Logik. Auf
der Strecke bleiben die wirklichen Impulse und damit auch ein
reinigendes Klima der Veränderung.
- style over substance - als Politik- und Lebensstrategie,
ist das die generationsübergreifende Antwort auf eine real
oder zu mindestens scheinbar immer komplexer werdende Gesellschaft?
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- Individuelle Inszenierung und ihre Gründe
- Gleichermaßen obliegt der einzelne
der allgegenwärtigen Doktrin: sei hip, young und stylish.
Man sehnt sich danach, zu den schillernden, chillenden Erfolgsmenschen
zu gehören, wie es einem die Werbung suggeriert. Also sind
wir stylish, jagen den Trends und dem scheinbar individuellen
Lifestyle und Image hinterher. Der Style wird zum Identitätsstifter.
Spätestens mit der Feststellung der im jeweiligen Milieu
dominanten Marke wird klar: Mann und Frau unterliegt dem Diktat
der Masse, diese wiederum den Trends der Wirtschaft. Schließlich
bedarf es der Konjunktur in unserem vermeintlich konjunkturschwachen
Land. Ein Bedürfnis muß her, das den Menschen Glück,
Erfolg und vor allem die Gewißheit vermittelt, einen höchst
individuellen Lifestyle zu leben, wenn sie genau dieses Mobiltelefon,
diese Hose haben oder jenes Auto fahren. Doch wo wurzelt dieser
stylische Materialismus? Möglicherweise ist
der Kapitalismus doch an allem schuld? Möglich, daß
die Art und Weise, wie die politischen Prozesse ablaufen und
von den Medien transportiert werden, Verunsicherung und Ohnmacht
zur Folge haben. Möglich, daß die äußere
Form, der Style, Halt und Sicherheit gibt. Bedeutet in Zeiten
der politischen, wirtschaftlichen und emotionalen Bankrotterklärungen,
also in Zeiten der kollektiven Krise, trautes Heim wieder Glück
allein? Es muß aber mein Auto, mein Haus, mein Rechner
sein, alles vom örtlichen Discounter, bei 0,00 % effektivem
Jahreszins. Und so heißt es: chillen statt konzipieren,
politikverdrossen aber spaßversessen. Eine vollkaskoverliebte
Gesellschaft im passiven, aber spaßigen und vor allem stylischen
Jammertal...?
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- Style als Chance zur Veränderung
- Ganz so düster sieht die Misere ja nun
doch nicht aus. Das Zusammenwirken von Form und Inhalt ist so
alt wie die Menschheit und vielleicht auch einfach menschlich.
Jede Epoche hat sich selbst inszeniert. Und die Jugend im Jahr
2003 ist mit einer allgemeinen Medialisierung und einem immensen
Waren- und Unterhaltungsangebot aufgewachsen. Daraus resultieren
zwangsläufig neue Fähigkeiten und Rezeptionsgewohnheiten.
Deshalb ist beispielsweise politische Bildung durch VIVA, im
Stil eines Videoclips, nicht ein Zeichen von Spaßgesellschaft
und Werteverfall, sondern ein Beleg für eine neue Informationskultur.
Hippe VJs erklären ihrem Publikum wie Demokratie funktioniert.
Neben diesen eher konventionellen Versuchen politische Inhalte
mediengerecht und klientelorientiert darzustellen, entstehen
auch neue Formen der politischen Auseinandersetzung, in denen
sich eine neue Form politischen Handelns manifestiert.
- Auch im sogenannten privaten Bereich ist
es jeder einzelnen freigestellt, sich selbst zu inszenieren,
indem er sich aus verschiedenen Images ihre eigene Identität
konstruiert. Die bewußte Instrumentalisierung dieser Ästhetik
des Styles mit einem adäquaten Konzept dahinter wäre
vielleicht die 68er Bewegung von morgen und diesmal ohne die
Ankunft in den Institutionen, bitte! Neue Protestbewegungen verwenden
die Inszenierung nicht nur zur Mobilisierung, sondern auch als
kämpferisches Mittel. Als konsequenteste Umsetzung dieser
neuen Strategie kann die im Jahr 2001 durchgeführte Kampagne
Deportation Class angesehen werden, in der die Werbestrategie
und die Selbstinszenierung der Lufthansa kopiert und umgekehrt
wurde. So wies das schicke Werbematerial, verteilt von vermeintlichen
Angestellten - zumindest ließ die Kleidung das vermuten
- nicht auf neue Super-Spartarife, sondern auf Menschenrechtsverletzungen
hin. Solche Aktionen wurden internetgestützt und real bei
wirtschaftlich relevanten Treffen durchgeführt. Bei einer
solchen Protestform wird die Nebelwirkung von Style bewusst zum
Angriff genutzt, ebenso wie das werbegeschulte Sehen benutzt
wird. Andererseits liegt in der zunehmenden Inszenierung von
Protestbewegungen, wie man es zur Zeit bei Attac beobachten kann,
die Gefahr, dass sich hinter dem selbstgewählten Etikett
Bewegung der Bewegungen der inhaltliche Leerlauf
verbirgt. Style als Drahtseilakt: Absturz in die Belanglosigkeit
oder Weg in die wirkliche Veränderung? Können Menschen,
die zusammen feiern nicht auch entdecken, dass Geiz nicht geil
ist, sondern Solidarität? Können Menschen, die zusammen
chillen nicht auch zusammen aktiv werden? Müssen wir die
heutigen Ausdrucksformen nicht erst dekodieren lernen, um sie
dann entweder als sinnentleert zu demaskieren oder als bedeutend
zu identifizieren?
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