- 75. LUST, Sommer 03, Juni/Juli/August:
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- Open Ohr 93
- Was die veranstalter mit dem Thema anregen
wollten, konnte man im Programmheft lesen. Das Thema deckte sich mit der
Fragestwellung, die wir in der LUST aufgeworfen hatten, und so
interesierten wir uns für viele angekündigte Veranstaltungen.
- Dieses Mal ergab es sich von der terminlichen
Möglichkeit der anderen Gruppenleute, dass die meiste Zeit
Renate und Joachim den Stand betreuten. Vorbereitet hatten wir
ein Würfelspiel, bei dem die TeilnehmerInnen erst einmal
auswürfeln mussten, ob sie
als Mann oder als Frau am Spiel teilnehmen. Dann musste die sexuelle
Identität festgestellt werden. Zwar haben wir Lesben und
Schwule unsere Identität nicht ausgesucht oder ausgewürfelt,
die Festival-TeilnehmerInnen jedoch konnten es.
Und so drängten sich zwischen den lautstarken Auftritten
auf der Hauptbühne besonders interessierte Teenager am Stand.
Wenn ihr Alkoholspiegel allerdings etwas höher war, hielten
sie es kaum bis zum Ende des Spieles durch. Die Standbetreuerin
des Nachbarstandes (LandesschülerInnenvertretung Rheinland-Pfalz)
hat aber dreimal am Spiel bis zum Ende teilgenommen, einmal gewonnen,
und so konnte sie als Schiedsrichterin von uns in Anspruch genommen
werden. Tapfer akzeptierten heterosexuelle Youngster angesichts
ihrer Freundinnen, dass sie auch einmal als Schwule
durch
den Paarcour gehen mussten, Lesben als Heten-Männer oder
Heten-Frauen als Lesben oder eben auch als Schwule. (Interessierten
Gruppen stellen wir das Spiel gerne zur Verfügung).
Es gab auch viele interessante und für die nachfragenden
Jugendlichen durchaus informative Gespräche, etwa so: Blasen
lassen ist ja OK. Aber ihr Schwulen hab doch richtigen Sex nur
im Arsch, oder? Und ist das denn nicht ekelhaft, in die Scheiße
zu bumsen? Tja, also was ist schon richtiger
Sex´? Ist nur das Bumsen richtig? Aber immerhin, ja, das
machen wir auch. Aber die Scheiße, wenn die dort im Enddarm
wäre, müsstest du dringend aufs Klo. Und da hättest
du natürlich keine Lust, dich bumsen zu lassen. Aber wenn
du nicht aufs Klo musst, ist da auch keine Scheiße. Klar,
wenn man sich nicht gut abputzen würde, könnte da doch
mal was sein, aber das wäre für die beteiligten auch
nicht unbedingt geil. Ach, das hab ich ja gar nicht
gewusst. Und was hat man nun davon, wenn man sich bumsen lässt?
Der Schließmuskel ist sehr empfindlich, alles zwischen
den Beinen ist sehr gefühlsintensiv und nicht nur die Eichel.
Und die Nervenbahnen hier sind mit dem Penis
und
der ganzen Region verbunden. Der Orgasmus am Penis geht in Wellen
durch den ganzen Körper, wenn du ihn mit der Reizung dieser
Nerven verbindest. Ich habe mal eine Zeitlang Sex mit einem Heten
gehabt, der hat unter der Dusche mit sich experimentiert, und
er liebte das Gefühl im Arsch. Und wenn ich ihn gebumst
habe, hatte aber sich dabei immer Bilder von Frauen angeschaut.
Es gibt auch Frauen, die das wollen, weil sie so eine Schwangerschaft
vermeiden können. Soll doch einfach jede und jeder machen,
was ihnen miteinander Spaß macht, oder? So oder ähnlich
können da die Gespräche abgehen.
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- Veranstaltungen
1. Showbühne Politik, Image ist alles Inhalt
ist nichts war eine Veranstaltung auf der Bühne am
Drususstein, wo auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Müntefering
saß. Was heißt da: auch saß? Alle
Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn, auch mindestens zwei Fernsehteams
wuselten rum. Ich blieb nicht lange, jedoch lange genug, um die
Antwort auf
die Frage zu hören,
wie sehr man sich denn in den Medien als Politiker verbiegen
müsse. Er sagte sinngemäß: Überhaupt nicht.
Wenn er auf Veranstaltungen ginge, würde ihm allerdings
gesagt, dass er viel kleiner sei als er in den Medien wirke,
und dass er auch viel freundlicher sei als er in den Medien wirke.
Selbstverständlich und Handwerk des Politiker sei es, dass
sich die Sprache in einer solchen Funktion verändere. Man
dürfe zum Beispiel an bestimmten Stellen keine Pausen machen,
die das Schneiden ermöglichen, wenn man vermeiden wolle,
dass aus dem Zusammenhang gerissene Passagen für falsche
Zusammenhänge missbraucht würden. Na ja, ganz informativ.
Er muss sich nicht verbiegen, sondern er muss halt seinen Job
machen. Wie gesagt, ich blieb nicht lange.
- 2. Eine Filmreihe gab es hier, und zum Schluss
eine Diskussion über das politische Engagement von Jugendlichen,
über die Protestbewegungen überhaupt. Als ich vorübergehend
teilnahm ging es gerade um professionelle Medienarbeit und spontane
Revolten. Die Teilnehmer äußerten sich dazu wie folgt:
Kurt Steinauer (?) aus dem Wendland: Auch früher
gab es professionelle Formen der Erzeugung von Aufmerksamkeit
in vielen Formen, wenn es um inhaltliche Themen ging. Aber die
offiziellen Medien berichten nicht über die Inhalte, sondern
über die Formen, z.B. über eingeschlagene Fensterscheiben.
Christan Rall von Robin Wood:
Medienarbeit ist wichtig, spektakuläre Aktionen mit professionalem
Aussehen, auf Medienvermittlung ausgerichtete Arbeiten. Alleine
auf Pressemeldungen funktioniert heutzutage nichts mehr.
Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter: mediengerechte
Professionalität ist eigentlich nur durch Zentralisation
zu erreichen. Zentralisation führt aber bei Bewegungen zu
Abspaltungen und inneren Widersprüchen. Bewegungen verändern
sich bis hin zu ihren Zielen, und manche frühere Pressemeldung
würde heutzutage in der gleichen Bewegung nicht mehr akzeptiert
werden können. Was die Medienarbeit betrifft, sind die Bewegungen
in einer paradoktalen Falle, es ist falsch, was immer man macht.
Entweder wird man nicht zur Kenntnis genommen, oder man macht
nur Krawalle.
Martin Büssen, Buchautor und taz- Junge Welt- usw.- Journalist:
Die
Jugendkulturen sind immer ein
Patchwork aus Inhalten, Musik, Mode usw. Seit über 30 Jahren
hat sich in den Jugendkulturen nichts substanzielles geändert,
sie waren damals alle links. Seit den 90er Jahre aber kommt eine
rechte Subkultur auf, die in ihren Ausdrucksmittel von den linken
Bewegungen gelernt hat.
Kurt Steinauer aus dem Wendland: Wir hatten früher
keine Karrierepläne, auch nicht in der Politik, denn wir
glaubten, dass die Welt kaputt geht und dass man etwas dagegen
machen muss. Der heutige Protest muss eine kurze Effizienz haben.
Man will, um mitmachen zu wollen, an den Erfolgen teilnehmen.
Nur die Globalisierungsgegner scheinen einen längeren Atem
zu haben, was hoffnungsvoll stimmen kann, aber die haben sich
ja auch den stärksten Gegner ausgesucht.
Was mir nicht gefiel war, dass
der Moderator (Günter Minas) oftmals länger moderierte
als die Redebeiträge der Diskutierenden.
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- 3. Ist Style eine Chance?
- Diese Diskussion sollte am Drususstein stattfinden,
auf die freute ich mich schon. Aber die Bühne am Drususstein
war wegen des heftigen Gewitters abgesoffen und so gingen die
Redner und TeilnehmerInnen in die Katakombe, die wie ein Schalltrichter
wirkte. Geräuschen kamen von draußen recht laut rein,
also wurde das Mikro hochgestellt, daher brummte es oft, also:
nicht auf Dauer auszuhalten.
Luther Blizett wurde als erster angesprochen und er erklärte,
dass der Name, der auf dem Schild vor ihm stehe, von vielen Menschen
getragen werde, es sei der name des kollektiven Ich der Kommunikations-Guerilla.
Um was es ihnen gehe? Um Interventionen: alle Verhältnisse
sind Machtverhältnisse, eine Rede ist auch eine Insigne
von Macht und Herrschaft. Ziel der Intervention sei, diese Verhältnisse
sichtbar zu machen.
Ingo Rüdiger war hier als Historiker und erklärte,
die Situationisten kämen von den Links-Letristen und wollten
Marx und Bakunin zusammenführen (also Sozialismus und Anarchismus).
Dann erzählte er von einer Situationistischen Internationale
bei der ungefähr formuliert worden sei: das kommende Kunstwerk
ist die Situation eines leidenschaftlichen Lebens. Man habe dann
im Zuge der Entwicklung die Überwindung der Kunst angestrebt
und verstärkte die mit dem Rauswurf aller Künstler.
Heutige Situationisten seien zum Beispiel heute: Die glückliche
Arbeitslosen. Ob das wohl die Fragestellung erhellte?
Johannes Süttgens, Meisterschüler (was es nicht
so alles gibt) von Joseph Beus und Mitbegründer des Omnibus
für direkte Demokratie meinte: Sinn der künstlerischen
Arbeit sei es, die notwendigen Veränderungen mit den geeigneten
Mitteln durchzusetzen. Zuerst seien die Ziele zu ermitteln. Seine
Ziele: Wie können wir das Freiheitswesen des Menschens als
Ich-Wesen zur Geltung bringen?
Kunst sei die Frage der Form und
Gestaltung. Und so müsse die Kunst den Menschen als Gleichen
und Rechtswesen stärken. Parteien seien dabei, die Freiheit
abzuschaffen. Wie also können wir das System der Parteiendiktatur
überwinden? Er sei für Einführung von Volksabstimmungen.
Das System solle durch den einzelnen Ich-Menschen entmachtet
werden. Parlamente werden weiterhin gebraucht, aber man soll
Menschen und nicht Parteien wählen. Die hätten die
Aufgabe, uns zu beraten aber nicht, uns zu regieren. Es gehe
um eine alternative Wirtschaftsform, um Grundlagen der Selbstverwaltung
von Bildungs- und Kultureinrichtungen und deren Finanzierung
durch die Konzerne.
(Da frage ich mich doch: gibts die Konzerne überhaupt
noch in einer alternativen
Wirtschaftsform?)
Gregor Kaiser von attac meinte noch: Macht und Herrschaft
sind überall, also ist auch Kunst und Kultur von Macht und
Herrschaft durchzogen. (Na gut. So isses wohl. Und weiter?)
Also die Akustik war abscheulich, ich ging also raus.
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- 4. Ist doch Ehrensache. Das politische
Interesse der Jugend lässt nach und vor allem
zu wünschen übrig. Ein Zeichen von Politikverdrossenheit?
Über diese Veranstaltung berichte ich kaum und war nur kurz
hier, um die Fotos dazu zu machen. Dabei hörte ich:
Thomas Kegel, Leiter der Akademie für Ehrenamtlichkeit:
Nicht das politische Engagement ist in der Klemme, sondern das
parteipolitische. Jugendliche wolle heutzutage projektorientiert
arbeiten und im überschaubaren Rahmen Erfolge erzielen.
Sophie Dieckmann von Schülerinnen
und Schüler gegen den Krieg meinte: Im Prinzip läuft
der Sozialabbau über die Parteien und ein Parteiengagement
führt nicht dazu, dass sich was ändert (demonstratives
Köpfeschütteln bei den ParteienvertreterInnen von SPD
und CDU).
Sie sprach dann aber noch weiter: Jede Generation sucht sich
ein anderes Thema und Atomkraft ist eben Thema der Älteren.
Sie griff dann noch einen Satz des Soziologen Dr. Waldemar
Vogelsang (Trier) auf und meinte: Als Jugendlicher habe man
nicht das Gefühl, durch kollektives Handeln zum Beispiel
einen Arbeitsplatz zu bekommen, sondern man sei durchaus, wie
vorhin formuliert wurde, ein Ego-Taktiker.
Die stellvertretende Juso-Vorsitzende Katrin Molkentin
widersprach ihrer Vorrednerin, indem sie klagte, dass Parteiarbeit
eben auch engagierte Arbeit von Jugendlichen sei, wobei es im
Rahmen des Möglichen durchaus um das Durchsetzen von Zielen
gehe.
Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungen Union Marcus
Klein meinte,
dass das ehrenamtliche
Engagieren von Jugendlichen in der freiwilligen Feuerwehr oder
in kirchlichen Chören oder in freiwilligen Sozialdiensten
einfach zu wenig anerkannt werde, und er beschrieb, welche Verträge
er hier beim Open-Ohr-Festival unterschreiben musste, um hier
auftreten zu können. Niemand applaudierte bei seiner rhetorischen
Pause, was ihn zu irritieren schien. Was aber hat dies mit dem
politischen Aufbegehren und dem Engagement in der politischen
Gegenkultur zu tun?
Das ist also wohl das politische Engagement der Jugendlichen
im Sinne der CDU: Man macht die soziale Arbeit kostenlos und
engagiert, für die der Unionsstaat keine Gelder mehr bewilligt?
Aus der rebellischen Jugend von gestern werden Leute, die ehrenamtlich
den Sozialabbau unterstützen sollen, indem sie ihn aufopferungsvoll
abmildern?

Am Pfingstmontag legten eine junge Herren, die aussahen wie Betriebswirtschaftsstudenten
oder Mitglieder der Jungen Union (ältere) eine Decke neben
unseren Stand. Auf den legten sie ihr Material aus. Sie seien
Teile einer weltweiten Bewegung gegen die Ausbeutung, formulierten
sie in ihren Texten. Eine Adresse, wo diese Initiative zu finden
wäre, findet man in ihren Unterlagen nicht, aber eine E-Mail-Adresse,
wo man sich an sie wenden könnte. Sie sammelten Adressen
und verteilten auch einen Fragebogen über die empfundene
Ausbeutung, und bei viele Fragen wurde die Ausbeutung durch die
gegenwärtige Bundesregierung nahegelegt, ohne dass sie irgendwo
erklärten, was denn aus ihrer Sicht Ausbeutung sei.
- Welche Länder beuten die Menschen mehr
aus: Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen, Bayern, Hessen
...? Was soll man auf solch eine unsinnige Frage antworten?
Und als Beispiel der Ausbeutung in der sogenannten
3. Welt wird der burische Bauer im Süden Afrikas
genannt. Durch wen? Durch die neue schwarze Regierung in Südafrika?
Das steht da nicht. Die setzen offensichtlich auf die Naivität
linker Leute. Na ja, was solls denn.
Es war die ganzen Pfingsttage drückend heiß, die Luftfeuchtigkeit
war sehr hoch. Pierre vom Nachbarstand von Radio Quer hats umgehauen,
er kam ins Krankenhaus. Am Sonntag Nachmittag kann dann das entspannende
Gewitter und die Windböen hoben auch unseren Stand an, obwohl
der rundum geschlossen war, und da war es ein Glück, dass
4 Leute im Stand waren, die alles festhielten, so dass bei uns
nichts passierte. Gut dass das Gewitter nicht in der Nacht kam,
wo niemand aufpasst.

Das Woodstock-Gefühl stellte sich für einige Festival-BesucherInnen
wohl durch intensives Schlammbaden ein. Es war kühler und
das Gewitter kam noch einmal zurück, immer mal wieder regnete
es. Nach dem Gewitter fiel mir auf der Bühne, die eigentlich
nur durch laute Geräusche Gespräche am Infostand unmöglich
machte, der Sound-Check auf, denn mit heller Stimme sang ein
jungen Mann Zarah-Lieder, und zwar so, dass er den weiblichen
Part sang und Männer umschwärmte. Hmm, das musste ich
mir mal ansehen. Und er sah auch tatsächlich sehr gut aus.
Später in seiner Nostalgie-Maskerade gefiel er mir weniger.
Es war das Nostalgie-Orchester, dem es gelang, die nassen und
teilweise auch frierenden Festival-BesucherInnen wieder in Stimmung
zu bringen.

Das Festival ist für die StandbetreiberInnen wie für
die BesucherInnen jedes Jahr ein wichtiges und unvergessliches
Erlebnis. Und unvergessliche Erlebnisse setzen sich aus purem
Lebensglück, freudigen, alltäglichen und auch ärgerlichen
Elementen zusammen. Leider konnte das Festival, trotz meiner
Besuche gewisser Veranstaltungen und vieler Gespräche uns
von der Zeitschrift LUST nicht bei unserer Fragestellung weiterbringen,
ob und wenn ja, welche gesellschaftlichen Zielvorstellungen Jugendliche
heute haben, im Gegensatz zu den Jugendlichen, die wir mal waren.
Vielleicht ist uns aber die Antwort dennoch gegeben worden, wir
konnten sie nur nicht akzeptieren? Sind die heutigen Jugendlichen
also schon in einem gewissen Rahmen an sozialen Zielen interessiert,
nur eben eher an kurzfristigen? Verzichten sie
auf
längerfristige Strategien und längerfristig zu erreichende
Ziele? Sind sie außerdem gesellschaftspolitisch eher naiv
und ansonsten durchaus selbstbewusste und oft recht professionelle
Ego-Taktiker?
Für uns wars wieder sehr
schön und aufschlussreich. Man muss das Team bewundern,
was es jedes Jahr hier auf die Beine stellt. Wenn es sich machen
lässt, werden wir im nächsten Jahr wieder dabei sein.
Und, wer weiß, vielleicht auch wieder mal mit etwas mehr
Personen? (rolü: rs/js)
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