75. LUST, Frühling 03, Juni/Juli/August:
 
Homosexualität und Behinderung
Zunächst stellt sich die Frage, wo fängt Behinderung an und wo hört sie auf. Ist eine chronische Krankheit auch eine Behinderung im klassischen Sinne?? Der Begriff wurde im Bundessozialhilfegesetz wie folgt definiert: “... eine nicht nur vorübergehende erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf anderen Ursachen beruht. Weiterhin liegen Behinderungen bei einer nicht nur vorübergehenden erheblichen Beeinträchtigungen der Seh-, Hör- und Sprachfähigkeit und bei einer erheblichen Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Kräfte vor.” Wenn man aber in der Pädagogik nachschlägt, gibt es die folgende Formulierung: “... die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung. Behinderungen können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens, der Sprache, der Stütz- und Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der Emotionalität sowie von bestimmten chronischen Krankheiten.”

Welches stimmt nun wirklich?!? In jeder Formulierung birgt eine große Wahrheit. Fakt ist doch, dass jede/r Behinderte/r sich von der gesellschaftlichen Umgebung ausgestoßen fühlt. Sei es wegen seinem aussehen (mongoloid oder contergangeschädigt), weil man keine Treppen steigen kann (Rollifahrer) oder weil die Schwerhörigen / Gehörlosen für dumm erklärt worden sind. Jede der auf irgendeine Form von Hilfe angewiesen ist, wird in der Heterowelt betreut. Die vielfältigen Problemen, die dabei auftauchen, kann man mit Hilfe von dem betreffenden Betreuer lösen. Alles Alltagskleinkram, was ist aber mit den Herzensangelegenheiten ?? Dabei wird ganz leicht vergessen, dass jeder Mensch ein ganz eigenständiges Individuum ist und somit seine eigenen Bedürfnisse hat. Vertraut sich jemand mal seinem Betreuer an, dass man homosexuelle Neigungen hat, so ist der Betreuer mit Sicherheit damit überfordert und die Problematik wird auf irgendeine Weise ins Lächerliche gezogen. Abschließend wird es dann ignoriert. Es wird eben einfach nicht mehr darüber gesprochen. Dabei wird die Situation zwischen dem Pfleger und dem Betreffenden erheblich belastet. Je nachdem, wo man wohnt, wird die Homosexualität immer noch als Krankheit dargestellt. Dann wird der betreffende Behinderte seelisch umgepolt bis hin zur Selbstzerstümmelung. Dadurch fühlt man sich von der Umwelt doppelt ausgeschlossen. Behindert sein und homosexuell sein, ist gleich nicht lebenswert und liebenswert?

Warum also, so fragt man sich, darf ein Behinderter seine ureigenen Bedürfnisse - sprich seine homosexuellen Neigungen - nicht ausleben, in einer ach, so perfekten Welt? Selbst, wenn man nach einer Gruppe innerhalb der Homosexuellenebene in seiner Stadt sucht, wird er vergeblich suchen. Erst im Internet kann man fündig werden. Literatur über Literatur wird angeboten, wenn man Pech hat, ist seine Behinderung nicht dabei, zumindest nicht auf Anhieb. Weggehen mag ein Rollstuhlfahrer nicht gerne, da sich in der Szene bestimmt keine behindertengerechte Toilette befindet. Ein Hörbehinderter kann sich nicht mit einer guthörenden Person unterhalten, da sich die Situation als schwierig und umständlich gestaltet. (Vielleicht dröhnt gerade aus den Lautsprecherboxen so laut “Living on my own” von Freddy Mercury.) Selten, viel zu selten macht sich einer mal die Mühe, sich mit einem Behinderten zu unterhalten, aber nein, der Betreffende wird noch dumm angemacht. Als ob er nicht schon genug zum Tragen hat. Es würde ihm viel mehr helfen, einen schönen Abend zu verbringen mit wirklich Interessierten, ganz spontan. (as)
 
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