75. LUST, Sommer 03, Juni/Juli/August:
 
Umgang mit Behinderten in unserer Szene
Eine Behinderung wird oft als Makel empfunden, bei versteckten Behinderungen ziehen sich häufig die Partnerinnen bzw. Partner schnell zurück, wenn sie die Behinderung bemerken. Jede und jeder will die Beste oder den Besten und empfindet eine Behinderung als „Wertminderung“. Ein Gespräch über das Menschenbild in unserer Szene.
 
Eine hörbehinderte Frau berichtete in einem Gespräch, wie sie es erlebt hat, dass eine interessierte andere Frau nach Gründen suchte, sie nicht mehr zu treffen. Natürlich habe sie nicht gesagt, dass sie wegen der Behinderung nicht mehr kommen wolle.
 
1. Die Entsolidarisierung in der Gesellschaft
2. Schönheitskult und Ausleseverfahren in der Szene
3. Was sind denn eigentlich “Behinderte”
4. Die Wahrnehmung eines/r Behinderten
 
1. Entsolidarisierung in der Gesellschaft
Vor Jahren erlebte ich in einer Kneipe folgende Begebenheit: Ein behinderter junger Mann, der mager aussah und Schwierigkeiten mit seinen Bewegungen hatte, wurde von einem großen kraftstrotzenden Mann in lauter Stimme beschimpft. Er hielt ihn wohl für einen der Drogenabhängigen, die damals hier gelegentlich auch zu finden waren.

Ich sagte dem hünenhaften lauten Mann, als der andere wohl die Toilette aufsuchte, dass der doch behindert sei und nicht im Drogenrausch. Dem Hünen beeindruckte diese Aussage überhaupt nicht. Der sehe trotzdem aus wie der letzte besoffene Penner, beharrte er, und dass es ihm keinen Spaß mache, solch einen Anblick zu ertragen.

Die anderen rückten ebenso entsetzt wie ich von dem Schreihals ab, der nicht aufhörte, sich derart lautstark in besagter Weise zu äußern, auch noch als der behinderte junge Mann längst schon wieder zurückgekommen war. Als ich mich demonstrativ dem Behinderten zuwandte, erstaunte mich dieser, indem er meinte: “Wieso? Er hat doch recht. Ich sehe doch beschissen aus!”, und er verließ das Lokal.

Warum war es mir eigentlich wichtig, fragte ich mich später, dem Schreihals mitteilen zu wollen, dass der andere doch behindert ist? Ich glaube, dass ich damals irgendwie eine Schuldfrage in diesem Zusammenhang sah: Der Behinderte ist unschuldig, der Drogenabhängige möglicherweise schuldig? Weniger negativ formuliert: Der Behinderte kann seinen Zustand nicht vermeiden, der Drogenabhängige schon? Was weiß ich denn, wie er in die Situation geraten ist? Mache ich mich hier anmaßend zum Richter über einen anderen Menschen oder gar eine Gruppe von Menschen?

Es ist tatsächlich unverkennbar, dass in unserer Gesellschaft das Schicksal anderer Menschen kaum noch Anteilnahme erfährt. Im Gegenteil. Eine Frau konnte die von ihr ersehnte Freundin nicht als Freundin gewinnen. Jede/r zuckt die Schultern. Na und? Hat man selbst schon oft erlebt. Das ist einfach eine hinzunehmende Tatsache, denn man kann ja die angebetete Frau nicht zwingen, eine von ihr gar nicht angestrebte Freundschaft einzugehen. So weit so gut. Kann man nicht trotzdem ein Mitgefühl mit der Frau haben, dass sie unter der Zurückweisung leidet? In der Szene wird sicherlich in der Regel höchstes schadenfrohes Gelächter ausbrechen, nach dem Motto: “Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen”.

Die Entsolidarisierung zwischen den Menschen zeigt sich aber auch in ganz handfesten Zusammenhängen. Ein Mensch stürzt auf der Straße zu Boden, blutet vielleicht auch. Viele Menschen hasten an ihm vorüber, tun als sehen sie ihn nicht. Wo bleibt die Menschlichkeit? Befragt man diese Menschen, warum sie nicht helfen, bekommt man viele “gute” Gründe zu hören. Man könnte seine neuen Klamotten schmutzig machen, man könnte sich anstecken, man verstehe nichts davon, wie man helfen könnte, man habe ihn nicht bemerkt, man habe einen ganz eiligen Termin, man sei auf dem Weg zum Arbeitsplatz.

Vieles davon sind ganz offensichtlich Ausreden, es könnten aber auch ernst zu nehmende Befürchtungen sein. Aber ich will auf etwas Anderes hinaus. Nimm einmal an, Du bist auf dem Weg zu Deinem Arbeitsplatz. Jetzt siehst Du den hilflosen Menschen am Boden und hilfst ihm. Du bettest seinen Kopf auf Dein neue Jacke und rufst mit Deinen Handy den ärztlichen Notdienst an. Du wartest, bis das Rote Kreuz oder jemand Anderes kommt und erkundigst Dich noch, wohin sie ihn bringen, um vielleicht später noch einmal nach ihm zu sehen.

Du kommst also drei Stunden zu spät zur Arbeit und erzählst dort den Grund. Dieser Grund wird Dir möglicherweise übel genommen, weil er als Ausrede gewertet wird. Dass man Dir nicht glaubt, sagt man Dir aber nicht ins Gesicht. Jedenfalls könnten das Deine Befürchtungen sein, weshalb du nicht hilfst. Manche Menschen gehen ja auch dann noch zur Arbeit, wenn ein Familienangehöriger krank ist und man nicht weiß, ob er wirklich alleine zurecht kommen wird. Ja manche gehen sogar selbst dann noch auf die Arbeit, wenn sie krank sind. Das tun sie aus der Sorge um den Arbeitsplatz, an dem ja ihre gesamte wirtschaftliche Existenz hängt und die ihrer Familie.

Ich will hiermit zweierlei sagen: 1. Solidarität findet auch Dir gegenüber kaum noch statt, warum solltest Du da das Gefühl verspüren, jetzt solidarisch sein zu müssen? 2. In den bestehenden Strukturen der Gesellschaft ist der Grund für die Entsolidarisierung zu finden, die dazu führt, dass sich die Menschen untereinander kaum noch verpflichtet fühlen, selbst wenn sie sich nahe sind. Es gibt auch Ausnahmen, aber das sind eben Ausnahmen, und das ist wirklich schrecklich.

Ich komme noch einmal auf den vergleichsweise unspekulativen Schmerz einer Frau zurück, der sich ihr ersehnter Freundschaftswunsch nicht erfüllte. Das schmerzt natürlich. Trost oder zumindest Mitgefühl wäre da vielleicht Balsam auf die frustrierte Seele. Dass sie dafür stattdessen vielleicht niedergemacht wird, verspottet oder Schlimmeres, führt sicherlich zu einer zweiten noch schlimmeren Verwundung, die da hingeht, dass sie in Zweifel zu ziehen beginnt, ob sie überhaupt für noch jemanden für liebenswert gehalten werden könnte. Und daher könnte sie in Zukunft sehr zurückhaltend und kaum wahrnehmbar für sich werben, um eine Freundschaft aufbauen zu können, oder sie wird bei ihren Versuchen, sich bestätigen zu lassen, dass sie liebenswert ist, als aufdringlich empfunden und immer noch mehr Zurückweisung in Empfang nehmen müssen.

Und genau diese zwischenmenschliche Kälte ist es, die uns in vielen Bereichen des Lebens ständig zugefügt wird und die sich in Folge davon Menschen dann auch gegenseitig zufügen.

In unserer Gruppe war einmal ein beleibter, lautstarker Mann, der dazu auch noch keine besondere Schönheit war, und der musste sich so manche zwischenmenschliche Demütigung von anderen anhören. Als einmal in einem Soziogramm die erotisch empfundene Nähe oder Ferne dargestellt werden sollte, die wir in der Gruppe zueinander fühlen, wollte ich einen Schritt auf ihn zugehen, weil ich befürchtete, was sich auch herausstellte, nämlich dass niemand seine erotische Nähe suchte. Ich habe deshalb, obwohl er auch für mich absolut nicht in Frage kam, ihn nicht völlig ausgeschlossen. Dies benutzte er dann bei dem nachfolgenden Gespräch, sich von mir in dieser Frage entschieden und beinahe feindselig zu distanzieren, was zu dem besagten schadenfrohen Gelächter über mich in der Gruppe führte.

Ich nahm es dem Unsympaten nicht übel, dass er meine halbherzige Sympathiebekundung derart herabsetzend zurückwies, denn damit musste ich ja rechnen, und ich wusste ja auch, dass er als Angeschlagener nun kein besonderes Feingefühl entwickeln konnte. Immerhin hatte ich ihm damit die Möglichkeit geben können, nicht niedergeschmettert, sondern selbstbewusst aufzutreten, und sei es auf meine Kosten. Was mich ärgerte, war aber das brüllende und schadenfrohe Gelächter all der anderen jungen hübschen Herren für die Distanzierung des Unsympaten mir gegenüber, sie war selbstverständlich auch als Ablehnung von mir gedacht. Die Meute stürzt sich eben gerne auf den, der schwach aussieht. Doch auch das war es nicht, was mich hier beschäftigte. Ich witterte nämlich hinter diesem Gelächter die Befreiung von einer möglichen Scham, einen Menschen aus der Runde derart auszugrenzen. Und ich ärgerte mich, dass man meine hilflose Freundschaftsgeste dafür nutzte.

Jeder Mensch ist offensichtlich Einzelkämpfer. Es geht nicht mehr darum, dass sich der einzelne auch einmal um seine eigenen Belange kümmern soll, aufhört sich zu unterwerfen, und sich nicht immer nur zurücknimmt. Zur Zeit triumphiert der krasse Egoismus, der nichts Emanzipatorisches mehr hat, sondern das Nutzen des eigenen Vorteils gegenüber anderen zum Ziel hat, was andere zu Opfer macht.

Es muss wohl derzeit im Gegenteil darum gehen, dass noch ein kleines Bisschen zwischenmenschliche Verbindlichkeit übrig bleibt, etwas Mitgefühl mit dem anderen Menschen. Warum denn nicht in der Gruppe und der Gesellschaft Verständnis für die Sehnsucht nach Partnerschaft und Freundschaft anderer? Warum denn kein Mitgefühl dafür, das jemand seine Sehnsucht leider nicht erfüllt bekommt?
 
2. Schönheitskult und Ausleseverfahren in der Szene
Wirst Du von vielen Menschen in der Szene erotisch begehrt? Wenn ja, bist >Du stolz darauf und freust Du Dich darüber? Was aber ist, wenn man dich für zu klein oder zu groß, zu dünn oder zu dick, zu künstlich schön oder zu hässlich hält? Wenn man die Art, wie Du sprichst, für zu leise oder zu laut hältt? Wenn man Dein Verhalten für zu grell oder zu konservativ empfindet?

Du wirst natürlich sagen: Menschen dürfen mich selbstverständlich auch nicht mögen. Aber ist dir das auch wirklich recht? Ich glaube, fast jeder Mensch möchte gerne von möglichst vielen Menschen geliebt werden, zumindest gemocht werden. Wenn das nicht möglich ist aber doch wenigstens mit Respekt behandelt werden.

Aber unsere Szene ist anders. Man verhält sich aufmerksam und interessiert gegenüber den Protektionskindern der Szene, die aus klar erkennbaren Gründen eben alle positive Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und auch wir können uns dieser Faszination nicht entziehen. Andere, die genau das selbe tun wie das Protektionskind oder das gleiche sagen wird man dafür verurteilen oder beschimpfen, weil man sie grundsätzlich eben nicht für liebenswert hält. Sie fallen sozusagen durch das Raster. Das kann Menschen geschehen, die behindert sind, aber es geschieht eben vielen anderen Menschen auch. Und das geschieht nicht nur beim Werben nach Freundschaft, sondern im Gespräch selbst. Besonders in der Szene männlicher Homosexueller.

Der Hintergrund des in der Szene existierende Schönheitskultes mit seinen Ausgrenzungen ist, dass die Szene eigentlich nichts als ein Kontaktmarkt ist, auch wenn es nicht immer zugegeben wird. Wer als Wunschpartner nicht infrage kommt, kommt in der Regel auch als Gesprächspartner nicht infrage. Wer jung ist oder so aussieht, wer sich “jugendlich” also anpassungsbereit verhält, wer sich bezüglich Mode, Körperpflege und körperlicher Erscheinung sowie natürlich auch finanziell als attraktiv aufbauen kann, der hat da also viel mehr Möglichkeiten als andere. Aber Jugendlichkeit ist da das größte Pfund, mit dem gewuchert werden kann.
 
Die Gespräche eines begehrten Jugendlichen können absolut blöde oder oberflächlich sein, der junge Mensch kann dumm wie die Nacht sein, das macht alles nichts, denn bei erotischer Faszination geht es um körperliche Ausstrahlung, es geht um Fleisch und nicht um Geist. Das schreibe ich ohne Verurteilung, denn Fleischeslust ist eben der Genuss, den die heterosexuelle Welt den schwulen Männern verwehrt, was die Männer in die Subkultur treibt. Das ist die Kernaussage. Um diesen Kern herum gibt es noch viele Variationen. Je deutlicher Beziehungsfragen in die Fleischwahl hineingreifen, umso schärfer werden die Auswahlkriterien, denn mit dem Partner will man sich ja über Jahre sehen lassen können usw.

In der Lesbenszene ist das komplizierter. Frauen haben gelernt, nicht direkt auf das Fleisch loszugehen. Hier ist die Erziehung zu der Fragestellung, dass der gewünschte Mann auch als Vater der Kinder Figur machen muss, verinnerlicht und auch in der Lesbenszene zu spüren: in Form von Beziehungs- oder Ehefähigkeit.

Dass die Fleischeslust natürlich in einer Sublimierten Form im Hintergrund steht, brauche ich sicherlich nicht zu erwähnen. Zugegeben wird im wesentlich nicht sexuelles Verlangen, sondern Liebessehnsucht. Besonders in großstädtischen Szenen gibt es auch das Verhalten der sexuellen Beutesucherin, die da sehr direkt sein kann. Hier ist aber für den Erfolg nötig, dass die Cliquenwirtschaft der Lesbenszene zurückgedrängt ist oder in den wichtigen Einzelfällen zurückgedrängt werden kann. Im eher kleinstädtischen Bereich, den es zweifellos auch in der Großstadt gibt, gibt es den Familienersatz Clique, in der eine regelrechte Hierarchie existiert. Und wer sich nicht in irgendeine Clique hineindient, hat in der kleinstädtischen Lesbenszene kaum eine Chance. Die Cliquenmitglieder passen nämlich mütterlich auf und schirmen sich gegenseitig vor außen ab. Wer von außen kommt, ist erst einmal eine Feindin. Und die informelle Führerin einer solchen Clique ist auch häufig die Meinungsführerin, was die Beurteilung betrifft, welche Frau als liebenswert erscheint und welche nicht.

Wenn eine Frau als nicht liebenswert erscheint, kann die Ablehnung äußerst verletzend und durchaus brutal sein. Es fehlen da nicht nur oft Mitgefühl oder zumindest Takt, es wird da oft derart niedergemacht, in Formen von Mobbing oder anderem Intrigantentum, dass dies schwere Verwundungen nach sich zieht. Solch eine Behandlung ist aber von Frauen gegenüber für nicht liebenswert gehaltenen werbenden Männern auch durchaus üblich. Nur umgekehrt eher nicht. Also, von Männer abgelehnte Frauen bekommen das nicht derart drastisch gesagt. Meistens. Eine begehrte Schönheit kann aber auch für eine Cliquen-Chefin eine Konkurrenz sein, also gilt es, sie als beziehungsunfähig oder ähnlich darzustellen. Also, der Schönheitskult zeigt sich hinter vielen Vorhängen verborgen, hat aber doch eine recht große Wirkung.

Wer neben dem Schönheitsideal liegt, ist es zum Beispiel nicht wert, an einem Tisch in einer vollen Gay-Kneipe einen Platz zu beanspruchen, so geschehen gegen einem alten Mann, der auch wenig Geld hatte, in einer kleinen Kneipe. Wenn der dort sitz, setzt sich niemand an diesen Tisch. Der ganze Tisch steht dann den ganzen Abend leer. Niemand redet mit ihm. Und hier könnte doch ein paar jugendliche Angeber sitzen, die teure Getränke bestellen ... Tja, man kann doch niemanden zwingen, sich neben ihn zu setzen oder mit ihm zu reden? Eigentlich ist er auch taktlos, die anderen Gäste, die jemand Hübsches und Junges kennen lernen wollen, in solch eine Lage zu bringen. Durch seine Anwesenheit. Es gibt doch in Altenheimen auch recht nette Plätze für ihn?
 
3. Was sind denn eigentlich “Behinderte”
Eine Behinderung ist eine Einschränkung von Möglichkeiten gegenüber den Menschen, die als nicht behindert gelten. Behinderte Menschen können zum Beispiel nicht laufen, sind infolge dessen in einer Welt der Läufer auf Rollstühle, Rampen und Aufzüge angewiesen, leider allzu oft auch auf hilfreiche Hände, wenn Rampen usw. fehlen. Hier haben Menschen, die laufen können, schlicht mehr Möglichkeiten.

Es gibt Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Behinderungen, die äußerlich sichtbar oder nicht sichtbar sind, mit mehrfachen körperlichen Behinderungen, mit geistigen beziehungsweise psychischen Behinderungen, was von der Umwelt bemerkt werden kann oder nicht usw. Eine Behinderung ist in der Regel keine Krankheit, kann aber das sichtbares Anzeichen oder die Folge einer vergangenen oder noch existierende Erkrankung sein. Gesetzlich gibt es einen Unterschied zwischen Behinderung und Krankheit.

Von der Landesfürsorgestelle bekommen die Behinderten einen Behinderungsgrad zugeteilt, was Auswirkungen auf ihre Lage in der Arbeitswelt hat. Wer 50% mehr behindert ist, gilt als schwerbehindert. Für ihn gilt das Behindertenschutzgesetz, das ihm im Arbeitsrecht einige Erleichterungen bringt, die andererseits Unternehmen veranlassen, die Einstellung von Schwerbehinderten zu vermeiden. Dies ist unsinnig, denn wer zum Beispiel gehbehindert ist, kann z.B. durchaus nahezu alle Büroarbeiten ohne Behinderung durchführen.

Menschen mit Behinderung sind in bestimmten Lebenssituationen im Vergleich zu anderen Menschen tatsächlich real behindert. Die Ursache einer Behinderung kann vielfältig sein, unabhängig davon, ob angeboren oder, wie man so schön sagt, “erworben”. Behinderungen haben für den Behinderten Auswirkungen im körperlichen oder geistigen Bereich, je nachdem um was für eine Behinderung es sich handelt, und sie haben auf vielfältige Weise Auswirkungen im gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereich. Schließlich haben sie noch Auswirkungen im Bereicht der psychischen Verfasstheit des Behinderten, denn der muss ja damit zurechtkommen, dass er anders ist als andere, und zwar in benachteiligter Form. Es gibt aber auch einen gesellschaftlichen Aspekt von Behinderungen.

Die Leitlinien der Gesellschaft für die Ausrichtung der Menschen als gesellschaftlich erstrebenswertes Leitsymbol sind an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit geknüpft, vielleicht sogar Hochleistungsfähigkeit. Wie die Kämpfer in der antiken römischen Arena sind die Menschen angehalten, sich als körperlich und geistig allumfassend kraftstrotzend zu präsentieren und keine sogenannten menschlichen Schwächen aufzuweisen. Und eine Behinderung gilt da als Einschränkung der Leistungsfähigkeit selbst dann, wenn sie real für diese Situation keine Behinderung bedeutet. Aber auch nichtbehinderte Menschen, die als nicht (mehr) hundertprozentig leistungsfähig gelten, zum Beispiel wegen ihres Alters, werden entsprechend behandelt. Erotische Anziehung wird mit dem Bild der Leistungsfähigkeit verknüpft und erscheint so als Belohnung für Leistung. Daher werden sexuelle Bedürfnisse oder Sehnsüchte von behinderten oder älteren Menschen gegenüber den begehrenswerten Menschen eher als negativ angesehen.

Viele Menschen, die nicht darüber nachdenken, sondern unkritisch solche Trends einfach nur befolgen, könnten viel schneller als es ihnen gefällt auch davon betroffen sein. Schließlich nimmt die körperliche und die geistige Leistungsfähigkeit tatsächlich bei jedem Menschen im Alter ab, während das sexuelle Begehren zumeist doch noch vorhanden ist. Und dann werden sie eben so behandelt, wie sie vorher andere behandelt haben, allerdings geht es den nachdenklichen Menschen, die das schon immer auf sich zukommen sahen, dann auch genauso schlecht wie den unbedenklichen Menschen.
 
4.Die Wahrnehmung eines/r Behinderten und seines/ihres Umfeldes
Aus der Sicht mancher Heten sind homosexuelle Menschen schon irgendwie behindert. Und wenn man fragt “wieso?”, wird erzählt, dass wir eben deshalb, weil wir an Homosexualität leiden würden, eben nicht befähigt seien, die wahren menschlichen Ziele anzustreben: Familie und Kinder. Und es gibt auch Menschen unter uns, die dies tatsächlich als Lebensziel anstreben und darunter leiden, dass sich dies für sie in dieser Form nicht erfüllen kann. Andererseits gibt es Lesben und Schwule, die als junge Leute in diese Lebensziele und Lebensformen hereingerutscht sind und nun beklagen, dass sie ihre homosexuellen Sehnsüchte nicht befriedigen können, ohne ihr bisheriges Leben zu gefährden.

An einem der vorübergehenden “Runden Tischen” trat ein homosexueller Mann auf, der seinen Nichtaufstieg an seinem Arbeitsplatz als Beleg antihomosexueller Unterdrückung ansah. Dies wurde kühl aufgenommen. Natürlich ist der tägliche Selbstbehauptungskampf eines homosexuellen Menschen geeignet, dass man den Faktor Homosexualität überbewerten könnte. Und da sehe ich eine reale Gemeinsamkeit mit behinderten Menschen. Vieles, was im Leben einem behinderten und anderen Menschen geschieht, hat für den Außenstehenden nichts mit seiner Behinderung zu tun. Man unterstellt ihn, dass er in seinem täglichen Selbstbehauptungskampf diesen Aspekt überbewertet.
Banal ist es nun, zu sagen: „Das kann sein oder auch nicht.” Denn es stimmt in Wirklichkeit Beides.

Wir werden zumeist nicht offen diskriminiert, sondern hinter vielen Verhaltensweisen sind kaum erkennbare Signale verborgen. Seit es die Sprache der „political korrectness” gibt, bekommt man in der Arbeitswelt und auch in der Freizeit nur selten offene Ablehnung, doch ist oft auch hinter der geschäftsmäßigen Höflichkeit eine kühle Distanz zu spüren, manchmal auch eine feindselige Stille. Und wenn uns dann etwas schief läuft, dann ist dies natürlich nur deshalb geschehen, weil die Lesbe da ... Und das hat natürlich gar nichts mit Diskriminierung zu tun. Und so etwas kann man nicht erklären, nicht nachweisen, es existiert also nicht, wir bilden uns das nur ein.

Aber nehmen wir die andere Situation, dass es Leute gibt, die uns besonders zugetan sind, gerade deshalb, weil wir so sind, wie wir sind. Sie wollen uns in ihre mütterliche oder wie auch immer Obhut nehmen. Sie sind stolz deshalb, dass sie nicht so ablehnend sind wie die anderen Leute und ziehen persönlichen Gewinn daraus, dass sie endlich jemanden haben, dem sie Gutes tun können. Sie erwarten für diese Zuwendung Dankbarkeit und sind sauer, wenn sie nicht kommt. Auch das ist nicht das, was wir wollen.

Gut, das war allgemein für alle Gruppen von Menschen, die in irgendeiner Weise negativ oder, wie es auch sein kann, gerade deshalb als besonders positiv gesehen werden. Was hat das nun mit unsrem Thema zu tun? Na:
Behinderte werden zumeist nicht offen diskriminiert, sondern hinter vielen Verhaltensweisen sind kaum erkennbare Signale verborgen (usw. siehe oben). Daraus ergibt sich, dass es für Behinderte einfach nicht einfach ist, feindselige oder negative Signale so einzuordnen, dass es allen anderen Menschen immer gefällt und sie es für richtig halten können.

Ich halte es auch nicht für nötig, immer so zu sein, dass es der nichtbehinderten (oder heterosexuellen) Mehrheit der Gesellschaft gefällt, denn der Maßstab, den wir dann lernen und ihn akzeptieren müssten, ist der oben beschriebene Maßstab der Leistungsmaximierung als oberstes Werturteil auch für uns.

Ich persönlich kann in Menschen noch andere Werte erkennen, als den der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, so wie es auch viele Bereiche der menschlichen Zivilisation gibt, die sich marktwirtschaftlich nicht rechnen, also nicht genug Gewinn für einige Herrschaften abwerfen, die ihn einstreichen wollen. Und die Marktwirtschaft wie ihre Werturteile sind eben nicht die einzige menschliche Sichtweise. (js)
 
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