- 75. LUST, Sommer 03, Juni/Juli/August:
-
- Umgang mit Behinderten in unserer Szene
Eine Behinderung wird oft als Makel
empfunden, bei versteckten Behinderungen ziehen sich häufig
die Partnerinnen bzw. Partner schnell zurück, wenn sie die
Behinderung bemerken. Jede und jeder will die Beste oder den
Besten und empfindet eine Behinderung als Wertminderung.
Ein Gespräch über das Menschenbild in unserer Szene.
-
- Eine hörbehinderte Frau berichtete in
einem Gespräch, wie sie es erlebt hat, dass eine interessierte
andere Frau nach Gründen suchte, sie nicht mehr zu treffen.
Natürlich habe sie nicht gesagt, dass sie wegen der Behinderung
nicht mehr kommen wolle.
-
- 1. Die Entsolidarisierung in der Gesellschaft
2. Schönheitskult und Ausleseverfahren in der Szene
3. Was sind denn
eigentlich Behinderte
4. Die Wahrnehmung eines/r Behinderten
-
- 1. Entsolidarisierung in der Gesellschaft
Vor Jahren erlebte ich in einer Kneipe
folgende Begebenheit: Ein behinderter junger Mann, der mager
aussah und Schwierigkeiten mit seinen Bewegungen hatte, wurde
von einem großen kraftstrotzenden Mann in lauter Stimme
beschimpft. Er hielt ihn wohl für einen der Drogenabhängigen,
die damals hier gelegentlich auch zu finden waren.
Ich sagte dem hünenhaften lauten Mann, als der andere wohl
die Toilette aufsuchte, dass der doch behindert sei und nicht
im Drogenrausch. Dem Hünen beeindruckte diese Aussage überhaupt
nicht. Der sehe trotzdem aus wie der letzte besoffene Penner,
beharrte er, und dass es ihm keinen Spaß mache, solch einen
Anblick zu ertragen.
Die anderen rückten ebenso entsetzt wie ich von dem Schreihals
ab, der nicht aufhörte, sich derart lautstark in besagter
Weise zu äußern, auch noch als der behinderte junge
Mann längst schon wieder zurückgekommen war. Als ich
mich demonstrativ dem Behinderten zuwandte, erstaunte mich dieser,
indem er meinte: Wieso? Er hat doch recht. Ich sehe doch
beschissen aus!, und er verließ das Lokal.
Warum war es mir eigentlich wichtig, fragte ich mich später,
dem Schreihals mitteilen zu wollen, dass der andere doch behindert
ist? Ich glaube, dass ich damals irgendwie eine Schuldfrage in
diesem Zusammenhang sah: Der Behinderte ist unschuldig, der Drogenabhängige
möglicherweise schuldig? Weniger negativ formuliert: Der
Behinderte kann seinen Zustand nicht vermeiden, der Drogenabhängige
schon? Was weiß ich denn, wie er in die Situation geraten
ist? Mache ich mich hier anmaßend zum Richter über
einen anderen Menschen oder gar eine Gruppe von Menschen?
Es ist tatsächlich unverkennbar, dass in unserer Gesellschaft
das Schicksal anderer Menschen kaum noch Anteilnahme erfährt.
Im Gegenteil. Eine Frau konnte die von ihr ersehnte Freundin
nicht als Freundin gewinnen. Jede/r zuckt die Schultern. Na und?
Hat man selbst schon oft erlebt. Das ist einfach eine hinzunehmende
Tatsache, denn man kann ja die angebetete Frau nicht zwingen,
eine von ihr gar nicht angestrebte Freundschaft einzugehen. So
weit so gut. Kann man nicht trotzdem ein Mitgefühl mit der
Frau haben, dass sie unter der Zurückweisung leidet? In
der Szene wird sicherlich in der Regel höchstes schadenfrohes
Gelächter ausbrechen, nach dem Motto: Wer den Schaden
hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Die Entsolidarisierung zwischen den Menschen zeigt sich aber
auch in ganz handfesten Zusammenhängen. Ein Mensch stürzt
auf der Straße zu Boden, blutet vielleicht auch. Viele
Menschen hasten an ihm vorüber, tun als sehen sie ihn nicht.
Wo bleibt die Menschlichkeit? Befragt man diese Menschen, warum
sie nicht helfen, bekommt man viele gute Gründe
zu hören. Man könnte seine neuen Klamotten schmutzig
machen, man könnte sich anstecken, man verstehe nichts davon,
wie man helfen könnte, man habe ihn nicht bemerkt, man habe
einen ganz eiligen Termin, man sei auf dem Weg zum Arbeitsplatz.
Vieles davon sind ganz offensichtlich Ausreden, es könnten
aber auch ernst zu nehmende Befürchtungen sein. Aber ich
will auf etwas Anderes hinaus. Nimm einmal an, Du bist auf dem
Weg zu Deinem Arbeitsplatz. Jetzt siehst Du den hilflosen Menschen
am Boden und hilfst ihm. Du bettest seinen Kopf auf Dein neue
Jacke und rufst mit Deinen Handy den ärztlichen Notdienst
an. Du wartest, bis das Rote Kreuz oder jemand Anderes kommt
und erkundigst Dich noch, wohin sie ihn bringen, um vielleicht
später noch einmal nach ihm zu sehen.
Du kommst also drei Stunden zu spät zur Arbeit und erzählst
dort den Grund. Dieser Grund wird Dir möglicherweise übel
genommen, weil er als Ausrede gewertet wird. Dass man Dir nicht
glaubt, sagt man Dir aber nicht ins Gesicht. Jedenfalls könnten
das Deine Befürchtungen sein, weshalb du nicht hilfst. Manche
Menschen gehen ja auch dann noch zur Arbeit, wenn ein Familienangehöriger
krank ist und man nicht weiß, ob er wirklich alleine zurecht
kommen wird. Ja manche gehen sogar selbst dann noch auf die Arbeit,
wenn sie krank sind. Das tun sie aus der Sorge um den Arbeitsplatz,
an dem ja ihre gesamte wirtschaftliche Existenz hängt und
die ihrer Familie.
Ich will hiermit zweierlei sagen: 1. Solidarität findet
auch Dir gegenüber kaum noch statt, warum solltest Du da
das Gefühl verspüren, jetzt solidarisch sein zu müssen?
2. In den bestehenden Strukturen der Gesellschaft ist der Grund
für die Entsolidarisierung zu finden, die dazu führt,
dass sich die Menschen untereinander kaum noch verpflichtet fühlen,
selbst wenn sie sich nahe sind. Es gibt auch Ausnahmen, aber
das sind eben Ausnahmen, und das ist wirklich schrecklich.
Ich komme noch einmal auf den vergleichsweise unspekulativen
Schmerz einer Frau zurück, der sich ihr ersehnter Freundschaftswunsch
nicht erfüllte. Das schmerzt natürlich. Trost oder
zumindest Mitgefühl wäre da vielleicht Balsam auf die
frustrierte Seele. Dass sie dafür stattdessen vielleicht
niedergemacht wird, verspottet oder Schlimmeres, führt sicherlich
zu einer zweiten noch schlimmeren Verwundung, die da hingeht,
dass sie in Zweifel zu ziehen beginnt, ob sie überhaupt
für noch jemanden für liebenswert gehalten werden könnte.
Und daher könnte sie in Zukunft sehr zurückhaltend
und kaum wahrnehmbar für sich werben, um eine Freundschaft
aufbauen zu können, oder sie wird bei ihren Versuchen, sich
bestätigen zu lassen, dass sie liebenswert ist, als aufdringlich
empfunden und immer noch mehr Zurückweisung in Empfang nehmen
müssen.
Und genau diese zwischenmenschliche Kälte ist es, die uns
in vielen Bereichen des Lebens ständig zugefügt wird
und die sich in Folge davon Menschen dann auch gegenseitig zufügen.
In unserer Gruppe war einmal ein beleibter, lautstarker Mann,
der dazu auch noch keine besondere Schönheit war, und der
musste sich so manche zwischenmenschliche Demütigung von
anderen anhören. Als einmal in einem Soziogramm die erotisch
empfundene Nähe oder Ferne dargestellt werden sollte, die
wir in der Gruppe zueinander fühlen, wollte ich einen Schritt
auf ihn zugehen, weil ich befürchtete, was sich auch herausstellte,
nämlich dass niemand seine erotische Nähe suchte. Ich
habe deshalb, obwohl er auch für mich absolut nicht in Frage
kam, ihn nicht völlig ausgeschlossen. Dies benutzte er dann
bei dem nachfolgenden Gespräch, sich von mir in dieser Frage
entschieden und beinahe feindselig zu distanzieren, was zu dem
besagten schadenfrohen Gelächter über mich in der Gruppe
führte.
Ich nahm es dem Unsympaten nicht übel, dass er meine halbherzige
Sympathiebekundung derart herabsetzend zurückwies, denn
damit musste ich ja rechnen, und ich wusste ja auch, dass er
als Angeschlagener nun kein besonderes Feingefühl entwickeln
konnte. Immerhin hatte ich ihm damit die Möglichkeit geben
können, nicht niedergeschmettert, sondern selbstbewusst
aufzutreten, und sei es auf meine Kosten. Was mich ärgerte,
war aber das brüllende und schadenfrohe Gelächter all
der anderen jungen hübschen Herren für die Distanzierung
des Unsympaten mir gegenüber, sie war selbstverständlich
auch als Ablehnung von mir gedacht. Die Meute stürzt sich
eben gerne auf den, der schwach aussieht. Doch auch das war es
nicht, was mich hier beschäftigte. Ich witterte nämlich
hinter diesem Gelächter die Befreiung von einer möglichen
Scham, einen Menschen aus der Runde derart auszugrenzen. Und
ich ärgerte mich, dass man meine hilflose Freundschaftsgeste
dafür nutzte.
Jeder Mensch ist offensichtlich Einzelkämpfer. Es geht nicht
mehr darum, dass sich der einzelne auch einmal um seine eigenen
Belange kümmern soll, aufhört sich zu unterwerfen,
und sich nicht immer nur zurücknimmt. Zur Zeit triumphiert
der krasse Egoismus, der nichts Emanzipatorisches mehr hat, sondern
das Nutzen des eigenen Vorteils gegenüber anderen zum Ziel
hat, was andere zu Opfer macht.
Es muss wohl derzeit im Gegenteil darum gehen, dass noch ein
kleines Bisschen zwischenmenschliche Verbindlichkeit übrig
bleibt, etwas Mitgefühl mit dem anderen Menschen. Warum
denn nicht in der Gruppe und der Gesellschaft Verständnis
für die Sehnsucht nach Partnerschaft und Freundschaft anderer?
Warum denn kein Mitgefühl dafür, das jemand seine Sehnsucht
leider nicht erfüllt bekommt?
-
- 2. Schönheitskult und Ausleseverfahren
in der Szene
Wirst Du von vielen Menschen in der
Szene erotisch begehrt? Wenn ja, bist >Du stolz darauf und
freust Du Dich darüber? Was aber ist, wenn man dich für
zu klein oder zu groß, zu dünn oder zu dick, zu künstlich
schön oder zu hässlich hält? Wenn man die Art,
wie Du sprichst, für zu leise oder zu laut hältt? Wenn
man Dein Verhalten für zu grell oder zu konservativ empfindet?
Du wirst natürlich sagen: Menschen dürfen mich selbstverständlich
auch nicht mögen. Aber ist dir das auch wirklich recht?
Ich glaube, fast jeder Mensch möchte gerne von möglichst
vielen Menschen geliebt werden, zumindest gemocht werden. Wenn
das nicht möglich ist aber doch wenigstens mit Respekt behandelt
werden.
Aber unsere Szene ist anders. Man verhält sich aufmerksam
und interessiert gegenüber den Protektionskindern der Szene,
die aus klar erkennbaren Gründen eben alle positive Aufmerksamkeit
auf sich ziehen, und auch wir können uns dieser Faszination
nicht entziehen. Andere, die genau das selbe tun wie das Protektionskind
oder das gleiche sagen wird man dafür verurteilen oder beschimpfen,
weil man sie grundsätzlich eben nicht für liebenswert
hält. Sie fallen sozusagen durch das Raster. Das kann Menschen
geschehen, die behindert sind, aber es geschieht eben vielen
anderen Menschen auch. Und das geschieht nicht nur beim Werben
nach Freundschaft, sondern im Gespräch selbst. Besonders
in der Szene männlicher Homosexueller.
Der Hintergrund des in der Szene existierende Schönheitskultes
mit seinen Ausgrenzungen ist, dass die Szene eigentlich nichts
als ein Kontaktmarkt ist, auch wenn es nicht immer zugegeben
wird. Wer als Wunschpartner nicht infrage kommt, kommt in der
Regel auch als Gesprächspartner nicht infrage. Wer jung
ist oder so aussieht, wer sich jugendlich also anpassungsbereit
verhält, wer sich bezüglich Mode, Körperpflege
und körperlicher Erscheinung sowie natürlich auch finanziell
als attraktiv aufbauen kann, der hat da also viel mehr Möglichkeiten
als andere. Aber Jugendlichkeit ist da das größte
Pfund, mit dem gewuchert werden kann.
-
- Die Gespräche eines begehrten Jugendlichen
können absolut blöde oder oberflächlich sein,
der junge Mensch kann dumm wie die Nacht sein, das macht alles
nichts, denn bei erotischer Faszination geht es um körperliche
Ausstrahlung, es geht um Fleisch und nicht um Geist. Das schreibe
ich ohne Verurteilung, denn Fleischeslust ist eben der Genuss,
den die heterosexuelle Welt den schwulen Männern verwehrt,
was die Männer in die Subkultur treibt. Das ist die Kernaussage.
Um diesen Kern herum gibt es noch viele Variationen. Je deutlicher
Beziehungsfragen in die Fleischwahl hineingreifen, umso schärfer
werden die Auswahlkriterien, denn mit dem Partner will man sich
ja über Jahre sehen lassen können usw.
In der Lesbenszene ist das komplizierter. Frauen haben gelernt,
nicht direkt auf das Fleisch loszugehen. Hier ist die Erziehung
zu der Fragestellung, dass der gewünschte Mann auch als
Vater der Kinder Figur machen muss, verinnerlicht und auch in
der Lesbenszene zu spüren: in Form von Beziehungs- oder
Ehefähigkeit.
Dass die Fleischeslust natürlich in einer Sublimierten Form
im Hintergrund steht, brauche ich sicherlich nicht zu erwähnen.
Zugegeben wird im wesentlich nicht sexuelles Verlangen, sondern
Liebessehnsucht. Besonders in großstädtischen Szenen
gibt es auch das Verhalten der sexuellen Beutesucherin, die da
sehr direkt sein kann. Hier ist aber für den Erfolg nötig,
dass die Cliquenwirtschaft der Lesbenszene zurückgedrängt
ist oder in den wichtigen Einzelfällen zurückgedrängt
werden kann. Im eher kleinstädtischen Bereich, den es zweifellos
auch in der Großstadt gibt, gibt es den Familienersatz
Clique, in der eine regelrechte Hierarchie existiert. Und wer
sich nicht in irgendeine Clique hineindient, hat in der kleinstädtischen
Lesbenszene kaum eine Chance. Die Cliquenmitglieder passen nämlich
mütterlich auf und schirmen sich gegenseitig vor außen
ab. Wer von außen kommt, ist erst einmal eine Feindin.
Und die informelle Führerin einer solchen Clique ist auch
häufig die Meinungsführerin, was die Beurteilung betrifft,
welche Frau als liebenswert erscheint und welche nicht.
Wenn eine Frau als nicht liebenswert erscheint, kann die Ablehnung
äußerst verletzend und durchaus brutal sein. Es fehlen
da nicht nur oft Mitgefühl oder zumindest Takt, es wird
da oft derart niedergemacht, in Formen von Mobbing oder anderem
Intrigantentum, dass dies schwere Verwundungen nach sich zieht.
Solch eine Behandlung ist aber von Frauen gegenüber für
nicht liebenswert gehaltenen werbenden Männern auch durchaus
üblich. Nur umgekehrt eher nicht. Also, von Männer
abgelehnte Frauen bekommen das nicht derart drastisch gesagt.
Meistens. Eine begehrte Schönheit kann aber auch für
eine Cliquen-Chefin eine Konkurrenz sein, also gilt es, sie als
beziehungsunfähig oder ähnlich darzustellen. Also,
der Schönheitskult zeigt sich hinter vielen Vorhängen
verborgen, hat aber doch eine recht große Wirkung.
Wer neben dem Schönheitsideal liegt, ist es zum Beispiel
nicht wert, an einem Tisch in einer vollen Gay-Kneipe einen Platz
zu beanspruchen, so geschehen gegen einem alten Mann, der auch
wenig Geld hatte, in einer kleinen Kneipe. Wenn der dort sitz,
setzt sich niemand an diesen Tisch. Der ganze Tisch steht dann
den ganzen Abend leer. Niemand redet mit ihm. Und hier könnte
doch ein paar jugendliche Angeber sitzen, die teure Getränke
bestellen ... Tja, man kann doch niemanden zwingen, sich neben
ihn zu setzen oder mit ihm zu reden? Eigentlich ist er auch taktlos,
die anderen Gäste, die jemand Hübsches und Junges kennen
lernen wollen, in solch eine Lage zu bringen. Durch seine Anwesenheit.
Es gibt doch in Altenheimen auch recht nette Plätze für
ihn?
-
- 3. Was sind denn eigentlich Behinderte
Eine Behinderung ist eine Einschränkung
von Möglichkeiten gegenüber den Menschen, die als nicht
behindert gelten. Behinderte Menschen können zum Beispiel
nicht laufen, sind infolge dessen in einer Welt der Läufer
auf Rollstühle, Rampen und Aufzüge angewiesen, leider
allzu oft auch auf hilfreiche Hände, wenn Rampen usw. fehlen.
Hier haben Menschen, die laufen können, schlicht mehr Möglichkeiten.
Es gibt Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Behinderungen,
die äußerlich sichtbar oder nicht sichtbar sind, mit
mehrfachen körperlichen Behinderungen, mit geistigen beziehungsweise
psychischen Behinderungen, was von der Umwelt bemerkt werden
kann oder nicht usw. Eine Behinderung ist in der Regel keine
Krankheit, kann aber das sichtbares Anzeichen oder die Folge
einer vergangenen oder noch existierende Erkrankung sein. Gesetzlich
gibt es einen Unterschied zwischen Behinderung und Krankheit.
Von der Landesfürsorgestelle bekommen die Behinderten einen
Behinderungsgrad zugeteilt, was Auswirkungen auf ihre Lage in
der Arbeitswelt hat. Wer 50% mehr behindert ist, gilt als schwerbehindert.
Für ihn gilt das Behindertenschutzgesetz, das ihm im Arbeitsrecht
einige Erleichterungen bringt, die andererseits Unternehmen veranlassen,
die Einstellung von Schwerbehinderten zu vermeiden. Dies ist
unsinnig, denn wer zum Beispiel gehbehindert ist, kann z.B. durchaus
nahezu alle Büroarbeiten ohne Behinderung durchführen.
Menschen mit Behinderung sind in bestimmten Lebenssituationen
im Vergleich zu anderen Menschen tatsächlich real behindert.
Die Ursache einer Behinderung kann vielfältig sein, unabhängig
davon, ob angeboren oder, wie man so schön sagt, erworben.
Behinderungen haben für den Behinderten Auswirkungen im
körperlichen oder geistigen Bereich, je nachdem um was für
eine Behinderung es sich handelt, und sie haben auf vielfältige
Weise Auswirkungen im gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen
Bereich. Schließlich haben sie noch Auswirkungen im Bereicht
der psychischen Verfasstheit des Behinderten, denn der muss ja
damit zurechtkommen, dass er anders ist als andere, und zwar
in benachteiligter Form. Es gibt aber auch einen gesellschaftlichen
Aspekt von Behinderungen.
Die Leitlinien der Gesellschaft für die Ausrichtung der
Menschen als gesellschaftlich erstrebenswertes Leitsymbol sind
an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit
geknüpft, vielleicht sogar Hochleistungsfähigkeit.
Wie die Kämpfer in der antiken römischen Arena sind
die Menschen angehalten, sich als körperlich und geistig
allumfassend kraftstrotzend zu präsentieren und keine sogenannten
menschlichen Schwächen aufzuweisen. Und eine Behinderung
gilt da als Einschränkung der Leistungsfähigkeit selbst
dann, wenn sie real für diese Situation keine Behinderung
bedeutet. Aber auch nichtbehinderte Menschen, die als nicht (mehr)
hundertprozentig leistungsfähig gelten, zum Beispiel wegen
ihres Alters, werden entsprechend behandelt. Erotische Anziehung
wird mit dem Bild der Leistungsfähigkeit verknüpft
und erscheint so als Belohnung für Leistung. Daher werden
sexuelle Bedürfnisse oder Sehnsüchte von behinderten
oder älteren Menschen gegenüber den begehrenswerten
Menschen eher als negativ angesehen.
Viele Menschen, die nicht darüber nachdenken, sondern unkritisch
solche Trends einfach nur befolgen, könnten viel schneller
als es ihnen gefällt auch davon betroffen sein. Schließlich
nimmt die körperliche und die geistige Leistungsfähigkeit
tatsächlich bei jedem Menschen im Alter ab, während
das sexuelle Begehren zumeist doch noch vorhanden ist. Und dann
werden sie eben so behandelt, wie sie vorher andere behandelt
haben, allerdings geht es den nachdenklichen Menschen, die das
schon immer auf sich zukommen sahen, dann auch genauso schlecht
wie den unbedenklichen Menschen.
-
- 4.Die Wahrnehmung eines/r Behinderten
und seines/ihres Umfeldes
Aus der Sicht mancher Heten sind homosexuelle
Menschen schon irgendwie behindert. Und wenn man fragt wieso?,
wird erzählt, dass wir eben deshalb, weil wir an Homosexualität
leiden würden, eben nicht befähigt seien, die wahren
menschlichen Ziele anzustreben: Familie und Kinder. Und es gibt
auch Menschen unter uns, die dies tatsächlich als Lebensziel
anstreben und darunter leiden, dass sich dies für sie in
dieser Form nicht erfüllen kann. Andererseits gibt es Lesben
und Schwule, die als junge Leute in diese Lebensziele und Lebensformen
hereingerutscht sind und nun beklagen, dass sie ihre homosexuellen
Sehnsüchte nicht befriedigen können, ohne ihr bisheriges
Leben zu gefährden.
An einem der vorübergehenden Runden Tischen
trat ein homosexueller Mann auf, der seinen Nichtaufstieg an
seinem Arbeitsplatz als Beleg antihomosexueller Unterdrückung
ansah. Dies wurde kühl aufgenommen. Natürlich ist der
tägliche Selbstbehauptungskampf eines homosexuellen Menschen
geeignet, dass man den Faktor Homosexualität überbewerten
könnte. Und da sehe ich eine reale Gemeinsamkeit mit behinderten
Menschen. Vieles, was im Leben einem behinderten und anderen
Menschen geschieht, hat für den Außenstehenden nichts
mit seiner Behinderung zu tun. Man unterstellt ihn, dass er in
seinem täglichen Selbstbehauptungskampf diesen Aspekt überbewertet.
Banal ist es nun, zu sagen: Das kann sein oder auch nicht.
Denn es stimmt in Wirklichkeit Beides.
Wir werden zumeist nicht offen diskriminiert, sondern hinter
vielen Verhaltensweisen sind kaum erkennbare Signale verborgen.
Seit es die Sprache der political korrectness gibt,
bekommt man in der Arbeitswelt und auch in der Freizeit nur selten
offene Ablehnung, doch ist oft auch hinter der geschäftsmäßigen
Höflichkeit eine kühle Distanz zu spüren, manchmal
auch eine feindselige Stille. Und wenn uns dann etwas schief
läuft, dann ist dies natürlich nur deshalb geschehen,
weil die Lesbe da ... Und das hat natürlich gar nichts mit
Diskriminierung zu tun. Und so etwas kann man nicht erklären,
nicht nachweisen, es existiert also nicht, wir bilden uns das
nur ein.
Aber nehmen wir die andere Situation, dass es Leute gibt, die
uns besonders zugetan sind, gerade deshalb, weil wir so sind,
wie wir sind. Sie wollen uns in ihre mütterliche oder wie
auch immer Obhut nehmen. Sie sind stolz deshalb, dass sie nicht
so ablehnend sind wie die anderen Leute und ziehen persönlichen
Gewinn daraus, dass sie endlich jemanden haben, dem sie Gutes
tun können. Sie erwarten für diese Zuwendung Dankbarkeit
und sind sauer, wenn sie nicht kommt. Auch das ist nicht das,
was wir wollen.
Gut, das war allgemein für alle Gruppen von Menschen, die
in irgendeiner Weise negativ oder, wie es auch sein kann, gerade
deshalb als besonders positiv gesehen werden. Was hat das nun
mit unsrem Thema zu tun? Na:
Behinderte werden zumeist nicht offen diskriminiert, sondern
hinter vielen Verhaltensweisen sind kaum erkennbare Signale verborgen
(usw. siehe oben). Daraus ergibt sich, dass es für Behinderte
einfach nicht einfach ist, feindselige oder negative Signale
so einzuordnen, dass es allen anderen Menschen immer gefällt
und sie es für richtig halten können.
Ich halte es auch nicht für nötig, immer so zu sein,
dass es der nichtbehinderten (oder heterosexuellen) Mehrheit
der Gesellschaft gefällt, denn der Maßstab, den wir
dann lernen und ihn akzeptieren müssten, ist der oben beschriebene
Maßstab der Leistungsmaximierung als oberstes Werturteil
auch für uns.
Ich persönlich kann in Menschen noch andere Werte erkennen,
als den der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, so wie
es auch viele Bereiche der menschlichen Zivilisation gibt, die
sich marktwirtschaftlich nicht rechnen, also nicht genug Gewinn
für einige Herrschaften abwerfen, die ihn einstreichen wollen.
Und die Marktwirtschaft wie ihre Werturteile sind eben nicht
die einzige menschliche Sichtweise. (js)
-
- Dein Kommentar zum Artikel: hier
-