64. LUST, Februar/März 01
 
Frau Merkel und die 68er
Bundsaußenminister Fischer hat also in seiner Jugend, sozusagen als Jugendsünde, an Straßenkämpfen teilgenommen, und das nicht allzu zimperlich. Er gehörte, schreiben die Medien, zur Hausbesetzerszene (das große „I“ war damals noch nicht in Mode).

Das ist freilich nichts Neues. Aber die Art, wie die CDU ihre Kampgne gegen Fischer und Trittin führt, die ist neu. Sie führt nämlich in Wirklichkeit die Kampagne nicht gegen die Methoden, mit denen auf den Straßen gefochten wurde, sondern gegen die Inhalte und Ziele der 68er Revolte zugunsten der Zustände, die durch die Revolte zurückgedrängt wurden. Darüber später mehr.

Außenminister Fischer, der die zum Teil auch pazifistisch eingestellten Parteigrünen als Außenminister überraschte, indem er die Kontinuität zur vorherigen Bundesregierung wahrte, behandelte offensichtlich die damaligen GegnerInnen seines Anteiles an der 68er Revolte, die politischen GegnerInnen auch in eigenen Reihen sowie Polizisten so, wie es ihm auf dem Parteitag der BündnisGrünen widerfuhr, als ein(e) Gegner(in) seiner Außenpolitik einen Farbbeutel nach ihm warf und ihn auf dem Ohr traf. Er stellte Anzeige gegen den/die WerferIn und daher kam es zum Prozess gegen den „Mann in Frauenkleidern“.
Stil der Auseinandersetzungen damals
In der Taz vom 15. Januar 01 finden sich sieben Augenzeugenberichte aus den Tagen der Straßenkämpfe mit Schilderungen von Polizeiübergriffen. Am Ende eines jeden Berichtes dieser Art steht der Kommentar, dass sich der entsprechende Polizist, die entsprechende Polizei dafür nicht entschuldigt habe. Diese Berichte umrahmen die kleine Meldung, dass sich Fischer für die von ihm ausgeübte Gewalt bei dem entsprechenden Polizisten entschuldigt habe. Ein Foto eines Polizisten, der mit einer Schleuder irgendetwas verschießt, kommentiert die intendierte Aussage der Seite: Fischer habe sich anständiger verhalten als die Polizei, die damals eben auch „Partei“ war und nicht immer „Das Demonstrationsrecht“ schützte.
Stil der Auseinandersetzungen heute
Frau Merkel, die Fischers Entschuldigung für unzureichend hält und meint, er habe sich nicht deutlich genug von den 68ern distanziert, hat die rassistischen Gewalttäter und Mörder ausländischer MitbürgerInnen unserer Tage mit den 68ern verglichen. Damit wird in Wirklichkeit den rechtsradikalen Gewalttätern der Boden bereitet, etwa nach der Ideologie, dass die 68er Deutschland verändert haben und dass dies von den Nazis jetzt auch erwartet werden kann.

Und an genau dieser Stelle ist der Punkt überschritten, wo es um Parteiengezänk geht und um den schlichten Versuch, soviel wie mögliche Knüppel zwischen die Beine der Regierungspolitiker zu werfen.

Hier geht es um eine konservative Wende, um den Versuch, Zustände zu rechtfertigen, zu verteidigen und zu restaurieren, die durch die 68er Revolte aus gutem Grund in die historische Versenkung geraten waren. Davor müssen wir allerdings Angst haben und dagegen müssen wir uns allerdings wappnen.

Ein kleiner Artikel in der LUST kann natürlich nicht die Zustände vollständig aufzeigen, die in der Adenauer-Republik vorherrschend waren. Und die Gründe dafür, dass die Revolte große Teile einer ganzen Generation ergreifen konnte, waren vielfältiger als es die Medien (aus gutem Grund) berichteten.
Wogegen und wofür demonstrierten die 68er damals?
Glaubt man gewissen Medien, handelt es sich bei der 68er Revolte um eine Musik- und Modebewegung einiger ausgeflippter Jugendlicher, die darüberhinaus noch Drogen nahmen und sexuell unersättlich waren, bis hin zur Abkehr von der Ehe. (Oh schreck!!!)
Was heute Wenige wissen ist, wie das Leben vor der Revolte war.

Die Justiz und die Verwaltung waren voll aus dem vorherigen Hitlerstaat übernommen, denn nun hatte man ja im Zeichen des Kalten Krieges gegen links zu sein. Und so konnte es schon vorkommen, dass man aufgrund erhobener gewerkschaftlicher Forderungen oder einer gesellschaftskritischen Einstellung den Vorwurf bekommen konnte, in Wirklichkeit kommunistischer Gesinnung zu sein.
 
Engagierte Menschen sahen, dass Herr Globke aus Hitlers Propagandaministerium in Adenauers Kabinett aufgenommen wurde, dass Größen aus Staat und Partei zum Beispiel Ministerpräsidenten von Bundesländern wurden, dass Kanzler und sogar ein Bundespräsident eine Nazi-Vergangenheit hatten. Und Nazi-Vergangenheit bedeutete ja nicht, dass man damals lautstark auf der Straße protestierte, im Nazi-Staat ging es um die Ermordung und Unterdrückung aller aufrechter Menschen, es ging um rassistisch, nationalistisch, religiös und sexistisch gerechtfertigten Mord an ganzen Menschengruppen.

Was uns betrifft, galt der von den Nazis verschärfte § 175 StGB weiter. Mannmännliche sexuelle Handlungen waren allesamt verboten, was zu zehntausenden Verurteilungen (mehr als in der Nazizeit) führte. Ein polizeiliches Spitzelwesen existierte an unseren Treffpunkten mit Polizisten als „Agent Provokateur“ (Polizisten, die sich schwul stellten, eindeutige Angebote machten und dann die Leute verhafteten).
 
Freunde wurden unter Druck gesetzt, bis sie ihre „ungesetzlichen Taten“, die „widernatürliche Unzucht“ genannt wurden, zugaben und ihre Partner benannten. Es gab „Rosa Listen“ bei der Polizei, die zum Teil aus der Nazizeit stammten und weiter geführt wurden, in denen „potentielle Kriminelle“ aufgelistet wurden, denn jeder Mann, der der Homosexualität verdächtig war, konnte es ja in seinem Leben irgendwann mal treiben und war damit ein Krimineller und Sexualverbrecher.

Das führte zu zahlreichen Selbstmorden, zu Erpressungen durch eine andere Szene, die kriminell von der Notlage der Schwulen lebte. Und das führte auch zu Morden durch aufgehetzte Bürger, viel häufiger als heute, und diese konnten sich noch rechtfertigen, es ginge ihnen um das allgemeine Wohl oder sie seien angeblich angemacht worden usw.
 
Bei vielen schwulen Männern überwog die Angst, es waren andere Menschen mit einer anderen Identität, als wir sie heute bei selbstbewussten Schwulen kennen. Viele gingen Tarnehen ein und sehr viele standen in den Lokalen rum und beschimpften die neue Schwulenbewegung der 68er Stdenten, die doch nur die Aufmerksamkeit auf uns lenken würde.

Das Bundesverfassungsgericht fand, dass das Konzentrationslager für Schwule kein „nationalsozialistisches Unrecht“ gewesen sei, sondern schlicht eine Bestrafung für kriminelle Handlungen. Das Bundesverfassungsgericht fand auch, dass der § 175 StGB zum Schutz der Jugend und der Ehe existiere und nicht verfassungswidrig sei, denn schon die Form der Geschlechtsorgane würde Männer zu Triebtätern machen, während lesbische Frauen, die weder in der Nazizeit noch in der Adenauer-Republik staatlich verfolgt wurden, aufgrund ihrer Geschlechtsorgane leichter enthaltsam leben könnten. Das waren die Zustände, die durch die 68er Revolte bekämpft wurden und durch die Revolte und ihre Anhänger letztlich auch schrittweise zurückgedrängt wurden. Das heißt aber nicht, dass sich unter den 68ern keine Schwulenfeinde befanden.

Die Sexualität überhaupt war nur in der Ehe möglich und erlaubt. Eltern, die zuließen, dass ihre Kinder als unverheiratete Jugendliche in ihrem Haus oder ihrer Wohnung Sex hatten, wurden wegen Kuppelei verfolgt und bestraft.

Es ging auch um Wohnraum beim Aufstand der 68er. Einerseits war die soziale Kontrolle der jungen Menschen durch die Eltern und später EhepartnerInnen beabsichtigt und erwünscht, so dass junge Leute sich einfach eigenen Wohnraum erstreiten wollten. Dann wurden viele bürgerlichen Häuser im Wirtschaftsboom abgerissen, um Platz für Büroräume zu schaffen. Das ruinierte kleine Stadthausbesitzer und führte vor allem dazu, dass Mieter großer Stadtwohnungen in die Plattensiedlungen am Stadtrand verdrängt wurden.

Im Frankfurter Westend gab es zum Beispiel den Häuserkampf, an dem auch gutbürgerliche Menschen teilnahmen, deren Miethäuser abgerissen wurden. Sie bildeten die Infrastruktur bei den Straßenkämpfen. In den Kirchen in dieser Gegend fanden die Straßenkämpfer Schutz vor der Polizei, und wenn wieder mal ein Haus brutal von Schlägertrupps der Spekulanten entmietet wurde, machten sie großen Wirbel auch in den Medien, weil die Polizei erst nach einer Stunde auftauchte, ob wohl sie ja auch schneller kommen konnte, nämlich dann, wenn Häuserkämpfer die Entmieter bei ihrer Arbeit störten.

Die 68er Revolte richtete sich auch gegen den unerklärten aber blutigen Vietnamkrieg der Amerikaner und die deutsche Außenpolitik, die den Krieg und zum Beispiel das blutige Schah-Regime unterstützte. Bei den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch 1967 wurde der demonstrierende Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Kurras erschossen.
 
Er habe sich in putativer (nicht wirklicher aber doch irgendwie potentielle) Notwehr befunden, hieß es im Freispruch. Das alles radikalisierte die Auseinandersetzungen immer mehr. Man darf nicht vergessen, dass wir uns als Teil einer weltweiten Bewegung empfanden, zusammen mit den Studenten im kalifornischen Berkeley und in Paris, wo es den Studenten dort gelang, zusammen mir Gewerkschaften und Teilen der Arbeiterschaft den Staat derart zu erschüttern, dass dort erwogen wurde, Militär einzusetzen.
 
Auch die Kalten-Kriegs-Parolen taten ihr übriges, denn weil vieles derart verlogen war, was uns gesagt wurde, glorifizierten wir die Zustände in Osteuropa. Und heute entdecken wir im Gespräch mit Menschen aus Osteuropa, dass ihr Leben tatsächlich nicht so schlimm war, wie man uns weismachen wollen, aber wirklich bei weitem nicht so war, wie wir es für uns erträumten.

Schüsse auf Rudi Dutschke, die hetzende Springerpresse, Mord an den Kennedys und an Martin-Luther-King, all das radikalisierte die Szene, weil man das auch auf sich bezog. Einige der Revoluzzer verstiegen sich in die Auffassung, dass dies ein Bürgerkrieg sei und dass sie die Kämpfer gegen den Staat insgesamt seien und dass sie es mit dem Staat und ihren Organen aufnehmen müssten.
 
Das spaltete die 68er Revoluzzer, weil ihnen nur ein kleiner Teil der Szene dabei folgen wollte und es so sah. Überhaupt hat die immer höher aufgeschaukelte Gewalttätigkeit von beiden Seiten (Staatsorgane und Revolutzer) zahllose Romantiker einer schönen demokratischeren und sozial gerechteren Welt abgeschreckt, andere in die entstehenden K-Gruppen getrieben, die sich maoistisch und stalinistisch gaben, was angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit etwas sektiererisches hatte.

Die Jusos zum Beispiel gaben die Parole aus, den Gang durch die Institutionen wagen zu wollen, das heißt, dass man eine Veränderung der Gesellschaft dadurch hinkriegen wollte, indem man versuchte, in Schlüsselpositionen zu kommen, von denen aus man die Zustände verbessern könnte.
 
Es zeigte sich aber, dass viele der höheren Posten nur zu erringen waren, wenn man die entsprechende schlimme Gesinnung dazu hatte, und die galt es durch Taten unter Beweis zu stellen. So erreichten viele 68er zwar führende Positionen in Gesellschaft und Wirtschaft, aber von ihrem Wirken auf diesen Plätzen war man in der Szene allgemein enttäuscht.

Dennoch war die Gesellschaft nach der Studentenrevolte, der 68er Revolte, der Sexrevolte und wie man das alles noch nennen mag, nicht mehr die gleiche wie vorher. Bis in die hintersten Winkel im finstersten Bayern drangen neue Gedanken und drang neuer Lebensmut durch. Die kommerzielle Kulturszene und die Medien machten zwar ein unpolitisches Revoluzzertum aus den Auseinandersetzungen dieser Jahre, aber das, was frech, selbstbewusst und erotisch zum Beispiel über das Fernsehen und in den Kinos bis in die tiefsten Winkel der Republik verbreitet wurde, hatte dennoch politische Auswirkungen.
 
Ich kann mich noch an einige Szenen als 16- oder 17Jähriger erinnern, wie ich damals in Südbayern in der Nähe von Lindau eine Zeitlang auf einem Bauernhof lebte. Die alte Bäuerin beklagte sich, dass in Isny immer mehr Evangelische leben würden, worauf der Sohn meinte, dass dies doch auch Menschen seien. Ich kann mich erinnern, wie wir mit dem Gogomobil nach Isny ins Kino fuhren und dort Filme mit Conny und Peter (Kraus) sahen, deren Kessheit (die hier heute nur Gelächter hervorrufen würde) dort in dieser Zeit absolut revolutionär waren.
 
Die Sprüche, die auch ich als Jugendlicher in diesem Alter von Eltern und anderen Erwachsenen zu hören bekam waren bis dato: Lass dir die Haare schneiden (männliche Jugendliche mit langen Haaren wurden bisweilen an diesen Haaren übers Straßenflaster geschleift), höre nicht diese Negermusik (eine eigentliche Jugendkultur und Jugendmusik gab es hier nicht), bei Adolf hättest du so nicht rumlaufen dürfen (und, was sollte das heißen?), führ dich nicht auf wie in einer Judenschule und anderes mehr.
 
Heute nun
Mit den gleichen dumpfen Parolen wie vor der Revolte war keine Politik mehr zu machen. Allerdings, nach dem Anschluss der DDR an die BRD, eigentlich schon vorher in der Regierungszeit Kohl, wurde das gesellschaftspolitische Klima immer nationalistischer. Das damals Erreichte wird kaum mehr als Fortschritt sondern als Unglück angesehen, die Scharfmacher von rechts, so signalisiert nun die Propaganda, sollen nun recht behalten, sie sollen moralisch integer sein.
 
Es gibt unter den Jugendlichen heute viele, die eine diffuse rechtsradikale Gesinnung haben, die uns zumindest mit solchen Argumenten begegnen. Zunehmend gibt es auch rassistisch begründete Terrorakte und Morde an Menschen, die nicht so blass aussehen, wie man als Deutscher angeblich aussehen soll. Diese Leute werden durch diese verantwortungslose Propaganda der CDU Auftrieb bekommen, sich zumindest ermutigt fühlen.
 
Um was es in der Ademauerzeit damals ging, über die Inhalte wird nicht diskutiert. Wer damals lebte, war vielleicht nicht in seinen Taten, wohl aber in seinem Empfinden entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Man diskutiert heute über die Methoden der Auseinandersetzung. Trittin konterte Angriffe auf ihn in einer Talkshow mit dem Hinweis, dass März sich nun damit brüste, mit anderen Mitgliedern der Jungen Union eine linke Kneipe plattgemacht zu haben. Das bringt mich wieder in unsere Realitäten zurück, weg von unseren damaligen Sehnsüchten.

Machen wir uns nichts vor. Der Union geht es mit ihren Angriffen auf Fischer und Trittin nicht um ein Angebot, die Vergangenheit der 68er und auch ihre eigene ehrlich aufzuarbeiten. Es geht auch nicht vorrangig um das Umschreiben der Geschichte der 68er, die Deutschland, ohne es in dieser Form angestrebt zu haben, demokratisiert haben, wie von allen Seiten zugegeben wird. Wir sehen es an der Bewegungsfreiheit der Schwulen, zum Beispiel.
 
Wir sehen es deutlicher an der Frau und ihrer Rolle in der Gesellschaft, die in der Adenauer-Zeit nur berufstätig sein durfte, wenn der Ehemann zustimmte, da ihre Aufgabe der Haushalt war. Durch die Anfänge einer Kampagne gegen den Rechtsradikalismus in Deutschland fühlte sich die CDU in die Enge getrieben. Koch äußerte sich sinngemäß so, das sich diese Kampagne gegen national gesonnene Menschen richte, die in die CDU integriert gehörten.

Durch diese Kampagne ist es trotz des immer fortschreitenden Rechtsrutsches geglückt, den Feind wieder links zu suchen. Dabei schlägt man auf ehemals Linke ein, den beiden Ministern, die in Wirklichkeit überwiegend die Politik der CDU-Regierung fortsetzen, zumindest Fischer. Er setzt fort, was unter Kohl begann: dem Umwandeln der Bundeswehr von einer reinen Verteidigungsarmee in eine Armee, die nach Belieben überall, wo man es für sinnvoll hält, eingesetzt werden kann.
 
Das Einschlagen auf ehemalige Linke trifft die heutigen Linken. Amüsiert lesen die Spiegel-LeserInnen das Interview mit Cohn-Bendit und ein Spiegel-Interviewer sagt zu ihm, in der Frankfurter Szene sei bekannt, dass Cohn-Bendit nicht einmal eine Fliege totschlagen könne, er würde sie totlabern.

In der Zeitschrift Konkret wundert sich Herausgeber Gremlitza, dass man Fischer wegen dessen Gewalttätigkeit angreife, weil er auf einen Polizisten geschlagen habe, statt dies wegen der Bomben im Krieg gegen Jugoslavien zu tun. (Joachim Schönert)
 
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