- 86. LUST, Frühling 06
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- Komm näher und ich beiß dich
- Die Kolumne von Sandra Wöhe
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- Ich habe mich getrennt, überfiel
Irma mich, als ich den Telefonhörer abnahm.
Warum? fragte ich. In ihrer Beziehung hatte sie Probleme,
aber nicht besonders tragisch, darum hatte ich den Knall nicht
vorausgesehen.
Sie nervt mich. Irmas Stimme hörte sich kalt
an.
Was? Erst nach fünf Jahren? Manchmal litt meine
Busenfreundin an einer Meise.
Ich war bei der Gynäkologin, erzählte Irma
gleichgültig, meine Ärztin fand eine Geschwulst
in meiner Brust. Ich sage dir, meine Laune war hin.
Mein Magen zog sich zusammen. Mein Frühstück stand
auf dem Kopf. Krank wurden andere Menschen, aber nicht Frauen,
die ich liebte und schätzte. Das gab es nicht.
Und? wählte ich ein neutrales Wort, das alles
oder nichts heißen konnte. Ich biss auf meine Nägel.
Was sollte ich sonst tun? Den Händchenhalten-Jargon, von
Heerscharen von Psychologen propagiert, fand ich taktlos: Jede
Krise ist eine Chance, Krankheit als Weg und denke positiv. Irma
hätte mich totgebissen.
Sie nervte!, wiederholte Irma. Und setzte zum Erklären
an: Ultraschall, Mammographie, Biopsie hatte ich hinter
mir. Dann haben wir auf die Ergebnisse gewartet. Eine Woche lang.
Mich interessierte das Resultat momentan auch sehr. Ehrlich gesagt,
interessierte mich nichts anderes.
Mehrmals am Tag rief meine Exliebste an. Ihre Angst machte
mich noch irrsinniger, sagte Irma und unterdrückte
die Wut in ihrer Stimme. Ich verlor den Boden unter den
Füßen. Mein Wolkenkuckucksheim geriet außer
Rand und Band.
Meine Fantasie uferte aus. Ich hörte den Schwanengesang,
der vom Sensenmann angestimmt wurde.
Ihre Stimme wurde leiser. Ich kann nicht mit einer Frau
leben, die durchdreht, weil meine Brust so eine kleine Geschwulst
beherbergt.
Es war nicht der Zeitpunkt mich auf die Seite ihrer Ex zu schlagen.
Oder die Verständnistrommel für sie zu schlagen und
Irma zu bitten, über die Angst ihrer Liebsten großzügig
hinwegzusehen.
Stell dir vor, Mette, mich hätte wirklich ein
Krebs in die Brust gebissen. Was heutzutage nichts Außergewöhnliches
ist. Leider, seufzte Irma.
Was dann? Ich hätte während des Behandlungsmarathons
ein Nervenbündel an meiner Seite. Nein, danke.
Ich wischte mir den Schweiß von der Hand an der Hose ab:
kein Brustkrebs.
Unser Alltag funktionierte bis dahin reibungslos, aber
in der Not verließen sie alle guten Geister. Irma
schrie beinahe. Wir werden älter. Mit den Jahren wird
Krankheit zu einer perversen Banalität.
Nicht jede Frau hat Nerven wie Drahtseile. Mit so einem
Verdacht muss eine erst mal fertig werden. Nun schlug ich
mich doch auf die Seite ihrer Freundin.
Allein schon das Wort Krebs haut um. Gleichgültig,
wer die Arschkarte gezogen hat.
Quatsch. Es wäre mein Krebs gewesen. Nicht ihrer.
Ich hörte sie atmen. Alter und Krankheit helfen einer
zu würdigen, was sie mal konnte. Irma flüsterte.
Krebs ist nicht schlimmer als eine Grippe.
Ihren Vergleich fand ich absurd, auch wenn ich ihn ihr innerlich
gestattete: Einerseits konnte eine an einer Grippe sterben und
andererseits war Krebs heutzutage kein Todesurteil mehr.
Krankheit ist trivial. Sie hörte sich an, als
ob sie sich selbst überzeugen wollte. Ein Päckchen,
das jede mit sich trägt. Ob es Krebs heißt oder einen
anderen Namen hat, der einer die Laune verdirbt, hat keine Bedeutung.
Irma knallte den Hörer auf.
Ich zog meine Schuhe an, um sie ohne Voranmeldung zu besuchen.
Dabei nahm ich mir vor so lange vor ihrer Tür auszuharren,
bis sie mir öffnen würde.
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