Grußwort zur 79.LUST, Sommer 04
Diese Ausgabe der LUST ist die letzte, die ich als Arbeitnehmer, das heißt unter großen Zeitproblemen hergestellt habe. Ab 01.07.04 befinde ich mich in der passiven Phase der sogenannten Altersteilzeit, die es in einigen Betrieben (meist des öffentlichen Dienstes) noch gibt. Von meinen KollegInnen, die dies offensichtlich mit gemischten Gefühlen sehen, weil es für sie diese Möglichkeit in dieser Form nicht mehr existiert, werde ich gefragt, wie ich mich nun fühle. Na wie fühle ich mich?
Freiwillig würde ein vernünftiger Mensch sich wohl sicherlich nicht in die Lage begeben, sich einem Vorgesetzten zu unterstellen und Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die nicht der eigenen selbstbestimmten Lebensart entsprechen. Dennoch macht man es natürlich, weil man zur wirtschaftlichen Lage der eigenen Wahlfamilie positiv beitragen will und es auch muss. Dabei sagt man sich in den letzten Jahren seines Arbeitslebens, naja, es dauert ja nicht mehr so lange, und dann kann ich alles machen, wofür ich vorher keine Zeit hatte. Das stimmt natürlich, aber kann man das dann noch wirklich? Man ist dann eben auch schon recht alt undwird in der Szene dann auch genauso gesehen, in der hauptsächlich Jugendlichkeit zählt.
Naja, als Jugendlicher gehe ich bei Euch (und auch bei mir selbst) tatsächlich nicht mehr durch. Ich bin eben ein Old-Gayman, wie das auf neudeutsch heißt. Und was werde ich nun empfinden, wenn die berufliche Tätigkeit, der ich in Wirklichkeit mit großer Lust und großem Engagement nachgegangen bin, nun eher als eine Episode aus der Vergangenheit betrachten kann? Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde dafür sorgen, dass die LUST wieder besser wird, obwohl sie trotz allem schon jetzt recht gut ist. Gibt es Lesben und Schwule, die mir dabei helfen wollen? Wenn ja, würde ich mich sehr darüber freuen.
Die LUST ist nötig, weil zu befürchten ist, dass wir es zunehmend mit gleichgeschalteten Medien zu tun bekommen werden. Unsere Szene ist teil der politischen Prozesse des Landes, in der wir leben. Da hilft ein etwas distanzierter Blick aus der Interessenslage von Lesben und Schwulen, die keine Millionäre sind, vielleicht ein bisschen weiter. Und was sehen wir?
Schröder wurde also bei der Europawahl und bei allen anderen Wahlen (Kommunal- und Landtagswahl) vom Wähler abgestraft. Und dies derart "nachhaltig", wie er es wohl im Traum nicht geglaubt hat. Und dies, obwohl er doch so ziemlich alle Wünsche der Unternehmer erfüllte. Nun gut, Menschen, die aufgrund der sozialen Politik der SPD zu ihrem festen WählerInnenstamm gehörten, diese Menschen sehen gar keinen Grund mehr, zur Wahl zu gehen. Der Lohnabbau zugunsten von Niedriglöhnen sowie der Sozialabbau zugunsten privater Versicherungen ist ja schon im vollem Gange. Und es scheint niemand politisch Nennenswertes etwas dagegen zu setzen zu haben. Denn längst sind ja die offiziellen Sprachreglungen der Medien mit denen der Union identisch, wenn es darum geht, die politischen Zustände zu kommentieren. Das ist auch in "unseren" Szene-Medien so.
Die Unternehmer, besonders die in der Union und der FDP organisierten, kritisieren ja auch gar nicht, was rotgrün macht, sondern sagen bei allen Blockierungen durch die Union im Bundesrat, der Wähler wisse ja gar nicht, was die Regierung wolle. Es werde zu wenig betrieben und zu stümperhaft. Und die Union, die ihre Chaotisierung der Bundespolitik von rotgrün betreibt, bereitet sich auf ihre Ernte vor: alle zu besetzenden Posten, für die recht viel Geld bezahlt wird, sollen von ihren ParteigämgerInnen besetzt sein. Wir haben uns auf eine Unionsdiktatur vorzubereiten, bei völliger Gleichschaltung der Medien und ohne wirklicher Kontrolle, ob irgendwo schwarze Kassen zu ihrer Machtfülle beitragen. Und was das für Lesben und Schwule bedeutet, können wir uns denken.
Die Sozialfuzzis von der SPD haben nicht nur Menschen unterer Einkommensgruppen in ihren Reihen. Die Wohlhabenden unter ihnen verdienen ihr Geld als Bezieher höherer Lohngruppen in der Hierarchie von Sozialverbänden, Sozialversicherungen, Gewerkschaften usw. Deren wirtschaftliche Basis wird jetzt angetastet, denn wenn Sozialversicherungen privatisiert werden, drängen sich die Funktionäre und Vorstände der privaten Banken und Versicherungen auf diese Posten. Die Plätze, in denen Geld verdient werden kann, gehören dann denen, den sie auch von Natur zustehen, weil sie schon die Schaltstellen der privaten Wirtschaft und der Medien besitzen.
Wohin soll diese Politik führen? Die Hauptkritik der Union an der SPD-Politik heißt ja, dass der Bevölkerung nicht genug die Notwendigkeit dieser Sozialabbauspolitik klargemacht wird, es komme kein Konzept rüber, denn mit einem Konzept werde die Bevölkerung schon mitmachen. Die SPD benutzt also noch immer nicht genügend völkische und nationalistische Ideologie, um eine große Volksgemeinschaft im Sozial- und im Lohnabbau repräsentieren zu können, die das runderneuerte Vaterland in einer neoliberalen Welt brauche. Immer wieder schimmern bei der SPD noch die sozialen Bedürfnisse kleiner Leute durch die Ritzen. Damit kann man keinen solchen Staat machen, den man für die Zukunft der Marktwirtschaft braucht. Was ist der Hintergrund einer solchen Politik?
Das Abbauen der Sozialsysteme hat die Auswirkung, dass in immer größeren Bereichen der Wirtschaft immer niedrigere Niedrigstlöhne bezahlt werden. Man baut den Standort Deutschland für die Standortskonkurrenz um. Und das führt natürlich auch zu immer größeren militärischen Präsenzen in verschiedenen Teilen der Welt. Auch dazu bracht man Geld, was man im Moment noch zur Stützung der Sozialkassen "verschwendet".
Ich wünsche Euch dennoch, zusammen mit dem LUST-Team, einen "heißen Sommer" und geile CSD-Erlebnisse, denn man muss auch schon vor der Rente was vom Leben haben, denn dann ist man ja alt,
Euer Joachim von der LUST