Pfingsten 2000 auf dem Open-Ohr-Festival in Mainz.
Zu verschiedenen Themen gab es Gesprächsthemen, an denen wir teilnahmen.
 
1. Arbeitslos oder Arbeits-Los
TeilnehmerInnen am Forum:
Gunnar Spengel, Pressebeauftragter des Freizeitzentrums Heidepark,
Sabine Neuer, Soziologin, Uni Dortmund,
Herr Dr. Auenmeier, Staatssekretär des Rheinl-Pf. Arbeitsministeriums
 
Gunnar Spengel: Unser Konzept ist, dass unsere Gäste wissen: Heidepark und freie Zeit gehören zusammen.
Sabine Neuer: Zeitfreiheit bedeutet heutzutage: man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit alles machen. In der Agrargesellschaft gab es diesen zeitlichen Dauerstress nicht. Die Zeitabläufe waren in wiederkehrenden Rhythmen durch die Natur vorgegeben. Die Erntezeit war Stress aber unmittelbar einsichtig. Seit der Industriegesellschaft gibt es eine Zeitgebundenheit an den Produktionsrhythmen.
Staatssekretär Dr. Auernmeier: Die Arbeitsbedingungen wirken negativ, weil die Zeitsruktur, z.B. bei Schichtarbeit, nicht der Natur entspricht. Stress entsteht auch aus Mangel an Tätigkeiten in festen Arbeitsverhältnissen oder auch aus Arbeitslosigkeit. Die festen Arbeitszeiten wird es in Zukunft kaum mehr geben. Sie werden trotz des Widerstandes der Gewerkschaften aufgebrochen werden.
Gunnar Spengel: Nach unseren Beobachtungen kommen die Gäste auch in ihrer Freizeit aus dem Hetzen nicht raus. Sie rechnen, was es kostet, und wollen (bei einem pauchalen Eintrittspreis) alles machen. Die Nachfrage boomt. Motivation: totales Erleben einer anderen Welt. Wie das konkret aussieht ist weitgehend vom Alter abhängig. Bei Jugendlichen ist es der Thrill, den das Urlaubserlebnis bringen soll.
Sabine Neuer: Der Freizeit-Trend bei jungen Leuten ist Geschwindigkeit, Risiko und Mobilität. Freizeit ist auch Stress. Man muss seine kostbare freie Zeit nutzen: Zeit ist Geld. In Ostdeutschland hat sich ein gravierender Wandel ergeben. Früher traf man sich, um z.B. Kaffee zu trinken. Heute ist dies völlig anders geworden.
Dr. Auernmeier: In der Arbeitswelt gibt es kein „Mehr” an Muss. Wir haben dort nicht mehr den Stress von früher.
Sabine Neuer: Nur 28% haben Spaß an der Arbeit. Warum gibt es nicht individuellere Arbeitszeitmodelle?
Gunnar Spengel: Wir haben für unsere Mitarbeiter Zeitkontenmodelle. Dies wird wahrscheinlich zur Tendenz in der ganzen Gesellschaft. Dazu gehört eine weitere Tendenz: Die Freizeit ist kostbar. Unsere Gäste erwarten eine hohe Qualität.
Dr. Auernmeier: Der Trend geht zur Flexibilität. Der Einzelne kann einteilen, wieviel Zeit er zur Verfügung stellen will. Wir sind auf dem Weg zur Zeitsouveränität. Überstunden fallen weg, also ein weiterer Gewinn, und die Produktivität steigt. Die 35-Stunden-Woche ist erst der Anfang.
LUST: Also zu solchen Prognosen muss schon etwas gesagt werden. Die Flexibilität gibt doch nicht dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, die Arbeitszeit einzuteilen. Ich nehme an, Ihre Mitarbeiter im Heidepark können auch nicht in den Stoßzeiten freimachen? Wenn Überstunden wegfallen, dann dadurch, dass wegen der Flexibilität die Unternehmer keine Überstundenzuschläge zahlen müssen, obwohl die Arbeitnehmer länger arbeiten, denn sie bleiben dann zu Hause, wenn eine Flaute in der Auftragslage ist und nicht, wenn sie es persönlich bräuchten. Schon vorhin fand ich die Aussage ärgerlich, dass der Stress abnähme. Das Gegenteil ist der Fall. Die Leute sind in den kürzeren Arbeitszeiten viel mehr gefordert und kommen völlig ausgelaugt nach Hause. Bei den festen Zeiten waren immer mal einige Erhohlungsmöglichkeiten während der Arbeit. Heute gibt es solche bezahlten Auszeiten kaum mehr. (Viel Aplaus im Publikum)
Dr. Auernmeier: Das ist eine gewerkschaftliche Position, die ich bestreite. Die Öffnung nutzt auch dem Einzelnen, der das will. Die Zeiteinteilung muss auch von den Arbeitnehmern mitbestimmt werden.
Gunnar Spengel: Unsere Mitarbeiter identifizieren sich mit den Zielen des Betriebes und sehen das auch ein, wenn sie gebraucht werden.
Dr. Auernmeier: Die Arbeit wird geteilt werden. Die Menschen werden individuelle Arbeitszeitmodelle haben und können Vieles auch zu Hause machen. Damit wird die Trennung zwischen Arbeit und Familie aufgehoben. Die Arbeit zu Hause ist natürlich keine Freizeit.
Aus dem Publikum: Sie verwechseln Selbstbestimmung mit Internalisierung!
Sabine Never: Man muss sich bis in die Familie und die Freizeit hinein mit der Arbeit identifizieren. Aber das Abkoppeln ist auch nötig. Das muss man erkennen und damit umgehen lernen. In der Regel gibt es bei den höher qualifizierten Arbeitsplätzen eine größere Selbstbestimmung. Dort entstehen durch flexible Arbeitszeitmodelle neue Chancen, dass die flexiblen Arbeitszeitmodelle auch familienverträglich durchgeführt werden können, dass es durch Teilzeit Weiterbildungsmöglichkeiten gibt.
LUST: Was können Politiker unternehmen, damit die Flexibilität familienverträglich vonstatten geht?
Dr. Auernmeier: Die Politik nimmt viele Anregungen auf und kann Anschlüsse herstellen, beispielsweise im sozialen Bereich, wo es oft am technischen Wissen fehlt. Gegenüber der Wirtschaft kann die Politik nur mit Anreizen arbeiten.
Sabine Never: Was man von der Politik nicht erwarten kann, sind Visionen. Sie kann die Motivation gegenüber der Flexibilität verbessern: immer mehr Freizeit, die Erwerbsarbeit wird zur Selbstfindung und Existenzsicherung. Man könnte auch an ein Bürgergeld denken, ein allgemeines Grundgehalt und Anreize für unangenehme Arbeit.
Dr. Auernmeier: Wir steuern auf eine Arbeitsgesellschaft mit höherer Beteiligung zu. Vielleicht ist ein Lebensarbeitszeitkonto eine Lösung. Ein Grundlohn oder Bürgergeld ist keine Lösung. Es wird in jeder Arbeitsbiographie Phasen der Arbeit und Phasen der Bildung geben. Die sozial notwendigen Arbeiten müssen allerdings in Zukunft anders behandelt werden, nicht mehr zum Nulltarif.
LUST: Bei einer mehr und mehr durchbrochenen Arbeitsbiographie fehlt den Leuten einfach das Geld.
Gunnar Spengel: Wir bemerken aus unseren Untersuchungen, dass die Leute zwar mehr Freizeit haben, aber ein geringeres Freizeitbudget. Wir reagieren darauf mit gezielten Kurzurlaubsangeboten. Ich sollte hier vielleicht noch anmerken, dass wir bei den gering qualifizierten Jobs einfach keine Leute finden können, die das machen wollen.
Dr. Auernmeier: Die Spanne zwischen dem 630-DM-Job und dem Verdienst von 1.500 DM ist den Arbeitsuchenden zu unatraktiv. Da können wir durch Zuschüsse zur den Sozialversicherungen Übergänge schaffen. Übergänge in den Beschäftigungen werde zunehmen, der Zweitjob ist im Kommen.
Sabine Neuer: Bei solchen kommenden Berufsbiographien gibt es freie Zeit, die sozial sinnlos ist, besonders wenn die Mutter freitags und der Vater dienstags frei hat. Das ist auch keine Zeit der Bildung.
Gunnar Spengel: Die gemeinsame Freizeit nimmt tatsächlich ab, aber dann will jeder etwas Besonderes machen. „Lerneffekte” sind nicht gefragt. Lernangebote machen wir nur, um den Schule die Möglichkeit zu geben, in den Heidepark zu kommen. In der Praxis wollen die Schüler aber nicht lernen. Weil wir ein Delphinarium haben, erklären wir ihnen etwas über Wale. Aber kaum einer ist daran interessiert.
 
2. Die Schuldenfalle
TeilnehmerInnen am Forum:
Barbara Unmüßig, NGO: Erlass Jahr 2.000
Frau Dr. Köster Lößack, entwicklungpol. Sprecherin der BüGrü
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Entwicklungshilfeministerin
Herr Dr. Majura, Deutsch-Tansanische Gesellschaft
 
Heidemarie Wieczorek-Zeul: Ich bin für den Schuldenerlass, aber nicht ohne Bedingungen. Dazu stehe ich. Schon früher hat Deutschland geholfen, Mittel z.B. zugunsten der Anhebung der allgemeinen Bildung in diesen Ländern zu investieren. Das Neue nun ist, dass dies nicht mehr von einer Nation, sondern durch IWF und Weltbank mit allen Gläubigerstaaten geschieht. Es geht um eine Entlastung von 70 Milliarden Dollar. Etwa 36 Staaten können davon profitieren, andere wie zum Beispiel der Kongo nicht. IWF und Weltbank machen Vorschläge einer Strategie der Entschuldung, die Zivilgesellschaft soll daran beteiligt werden, und es findet eine Orientierung an der Armutsbekämpfung und der Haushaltsstabilisierung statt. Der Einsatz der Mittel soll aufgrund der Vorschläge der Entwicklungsländer und nicht der Geberländer geschehen.
Barbara Unmäßig: Vielleicht ist es nötig, erst einmal zu erklären, dass diese 41 ärmsten Länder mit 2,5 Billionen DM bei Banken und Regierungen der Gläubigerländer verschuldet sind. Die Entschuldung von 70 Milliarden ist zwar ein wichtiger Durchbruch, aber es wird keine tiefgreifende Lösung zum Durchbruch verholfen. Die Länder können nämlich die Schulden nicht mehr bedienen. Die Haushalte sind schon längst nicht mehr ausreichend für irgendeine Form der Tilgung, für die eigene Bevölkerung ist nichts da. 4 X mehr werden von ihnen für den Schuldendienst statt für die Bildung ausgegeben. Es sind keine Gelder für die Gesundheit und für den Straßenbau vorhanden. Die Entschuldung ist keine radikale Lösung, weil der Spielraum zu gering ist. Außerdem soll hier nicht vergessen werden, wie das ganze finanziert wird. Die Entwicklungshilfe der Staaten wird gleichzeitig gekürzt.
Frau Dr. Köster-Loßack: Auf absehbare Zeit werden auch die nördlichen Staaten nicht genug Mittel haben, wirkungsvoller zu helfen. Private Mittel sind nötig. Es gibt zwar Projekte, z.B. im Nordosten von Brasilien, aber es geht kein Geld von den brasilianischen Millionären und Industriellen ein, sondern nur von den europäischen Ländern. Ohne soziale Entwicklung wird es keine wirtschaftliche Entwicklung geben können.
Dr. Majura: Als Tansania unabhängig wurde, hatten wir bei einer Bevölkerung von 20 Millionen nur 4 Menschen mit einem Hochschulabschluss. Wichtig war also das Bildungswesen und die Finanzierung der Ausbildung. Alle Schüler konnten kostenlos zur Schule gehen und wir konnten die Analphabetenrate deutlich senken. Es wurde die medizinische Versorgung und die Wasserversorgung in allen Dörfern erreicht. Dann kam die Wirtschaftskrise und eine Staatsverschuldung von 8,3 Milliarden Dollar. 3 - 4 Generationen müssen an diesen Schulden zahlen. Die Schule gibt es nicht mehr kostenlos und die Analphabetenrate hat wieder zugenommen. Die Krankheiten in den Dörfern nehmen zu. Vieles geht zurück, weil kein Geld mehr dafür übrig ist, denn alles muss für Zinsen ausgegeben werden.
Aus dem Publikum: Es ist nötig, vielleicht einmal zu erklären, um welche Beträge es sich handelt. Die Verschuldung der Ärmsten Länder beträgt 2,5 Billionen Mark. Mit den hohen Zinsen haben die Länder schon das Zehnfache der Schulden bezahlt und es ist aufgrund der hohen Zinslast mit keiner Tilgung zu rechnen. Ständig und ununterbrochen fließen die Werte und Gelder von den Armen zu den Reichen. Der reichste Mann der Welt verfügt über ein Vermögen von 30 Billionen Dollar. Wenn die 500 reichsten Familien der Welt nur 4% ihres Vermögens abgeben würden, dann könnten alle dieser Probleme in kürzester Zeit gelöst werden.
Heidemarie Wieczorek-Zeul: Das neue bei der Entschuldungskonzeption, über die wir reden, ist die Beteiligung von Weltbank und Währungsfont. Es wurden dazu Teile der Goldreserven der Weltbank verkauft, um dies finanzieren zu können. Die europäischen Entwicklungshilfeministerinnen, durch Zufall sind wir alle Frauen, haben damit doch, im Gegensatz zur früheren Bundesregierung, eine Entwicklung in die richtige Richtung begonnen. Wir erleben nun Blockaden von den entsprechenden Ministerien von Brasilien und besonders Mexiko. Ich habe selten einen Menschen getroffen, der eine derart neoliberale Haltung hat. Manche Staaten möchten soziale und politische Änderungen verhindern.
Es ist schon erstaunlich, wenn ein Land ein Flugzeug für den Staatschef genau in der Höhe von 36 Millionen Mark bestellt, wenn aus Europa Gelder für ein Entwicklungsprojekt in Höhe von 36 Millionen Mark in das Land gebracht werden. Es war sehr mühselig, dafür zu sorgen, dass das Flugzeug nicht aus diesen Mitteln finanziert wird. Eine Reihe von Regierungen verlangen, dass nur unpolitische NGOs der hungernden oder unter Seuchen leidenden Bevölkerung Hilfe leisten kann. Aber dagegen werden wir mit aller Kraft angehen. Es muss in diesen Ländern auch um politische Änderungen gehen und unpolitische Hilfe gibt es ohnehin nicht. Das sehe ich auch anders als die frühere Regierung.
Was die Seuchen betrifft, so müssen wir darum kämpfen, dass manche Regierungen überhaupt erst einmal anerkennen, dass zum Beispiel AIDS nicht nur eine gesundheitliche Katastrophe für die Betroffenen ist, sondern längst auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Über 20% der erwerbstätigen Teile der Bevölkerung sind Aidsinfiziert. Das geht nur durch Verhaltensänderungen, Auch in Deutschland wurde durch Verhaltensänderung ein Durchbruch erreicht. Dazu muss man aber erst einmal in den katholischen oder moslemischen Ländern anerkennen, dass dieses Problem existiert, um die entsprechenden Programme wirksam werden zu lassen.
Barbara Unmäßig: Die Bereitschaft zur Entschuldung ist leider immer noch abhängig ausschließlich vom Norden. Was ist eine tragfähige Verschuldung? Das wird leider immer noch von IWF und Weltbank definiert. Die USA sind komplett nicht bereit, ihren Beitrag am Entschuldungskonzept zu bezahlen. Es entscheiden immer noch die Gläubiger im Pariser Club alleine, und wir NGOs wollen ein Insolvenzrecht auf internationaler Ebene erreichen.
LUST: Wie könnte sich denn ein solches internationales Insolventsrecht vorstellen?
Dr. Majura: Dazu gibt es schon verschiedene Vorschläge. 1. Den Vorsitz soll nicht eine Partei des Insolvenzverfahrens stellen, sondern eine neutrale Instanz. 2. Alle Forderungen sollen in einem Verfahren geregelt werden. 3. Vor Begleichung muss das Schuldnerland die Basisbedürfnisse bedienen können. 4. Anhörungsrecht des Schuldners ...
LUST: Es handelt sich hier also erst noch um einen Forderungskatalog und noch nicht um ein Konzept, um das politisch gerungen werden kann?
Dr. Köster-Loßack: Wenn das Teil des Völkerrechts werden soll, dann müssen wir noch Jahre warten. Und wenn es juristisch durch ist, dann ist es noch nicht umgesetzt. Unsere Energien müssen wir auch für kürzere Lösungsversuche aufwenden.
Was sind NGOs? Die Non-Gouverment-Organisations, die Nicht-Regierungs-Organisationen also, sind Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Medico International oder Menschen für Menschen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, unabhängig der politischen Regimes der jeweiligen Länder den Menschen zu helfen, die von Seuchen, Hunger und anderen Katastrophen bedroht sind.
 
3. Für eine Ökologie der Zeit
TeilnehmerInnen am Forum:
Professor Dr. Hans Bibler, Historiker,
Frofessorin Dr. Sabine Hofmeister, Ökologin, Frauenfragen.
Fritz Reheis, Autor des Buches
“Die Reaktivierung der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung”
Tanja Brenner, Juso-Sprecherin
Prof. Dr. Bibler: Urlaub und arbeitsfreie Zeit gab es früher nur für die Reichen. Noch nie hatten Arbeitnehmer so viel Freizeit und ein so langes Leben.
Professorin Dr. Hofmeister: Wenn wir so viel freie Zeit haben, wo bleibt sie denn? Wir glauben, Kontrolle über die Zeit zu haben. Wir verändern die natürlichen Zeiten und greifen in die Natur ein. Wir setzen voraus, dass alles bereitgestellt wird, dass die Kinder erzogen werden. Durch die Rollentrennung zwischen Männern und Frauen schaffen wir ein Vermittlungsproblem.
Tanja Brenner: Die Ökologie wird in den Hintergrund gedrängt. Es gibt das Problemfeld „Ökologie der Zeit” und Massenarbeitslosigkeit. Es gibt viele Leute, die sich ein Mehr an Arbeitszeit wünschen. Die empfinden ihre freie Zeit nicht als Zeitwohlstand
Fritz Reheis: Der Blick auf die Vergangenheit ist bei Prof. Dr. Bibler etwas eingeschränkt. Die These „Noch nie hatte der Arbeitnehmer so viel Zeit” stimmt nicht. Im Mittelalter gab es im Jahr 120 bis 190 Feiertage. Im Altertum waren für die Nahrungsmittelsuche vielleicht 2 -3 Stunden täglich nötig. Und was die freie Zeit betrifft, sind wir heute wirklich so frei?
Ökologie der Zeit? Wir verzeichnen eine Verdichtung der Zeit. Pro Tag verbrauchen wir so viel fossile Energie, wie die Natur zu ihrer Erzeugung in 1.000 Jahren benötigte.
Wir brauchen keine zunehmende Beschleunigung sondern Entschleunigung. Die einen erbringen so viel Leistung, dass sie den anderen die Möglichkeit nehmen, Leistung zu erbringen. Eine Kapitalismuskritik muss hervorgeholt werden, weil die kapitalistische Wirtschaft alles zu unterdrücken droht.
Prof. Dr. Bibler: Was ihre Kritik der heutigen Beschleunigungs-Prozesse angeht, Herr Reheis, da bin ich der gleichen Meinung wie Sie. Aber die Gesellschaften früher waren auch Gesellschaften des Mangels. Was aber Ihre Forderung nach Entschleunigung angeht, wie wollen Sie das den Arbeitslosen vermitteln?
Oder gehen Sie mal in andere Länder, zum Beispiel die Urlaubsländer, oder bei uns in kleinere Gemeinden. Dort gibt es sie nicht, die Non-Stop-Gesellschaft.
Eine Kapitalismuskritik ist der falsche Ansatz, sondern bestenfalls die Kritik der industriellen Produktionsweise.
Tanja Breuer: In den kleinen Gemeinden und den Urlaubsländer ist es noch nicht so weit. Die Globalisierung wirds richten. Nicht die industrielle Produktion alleine schafft die Probleme der Verdichtung der Zeit, sondern die Industriegesellschaft unter kapitalistischen Bedingungen. Die Industrie ist letztlich nur ein Werkzeug und es geht um andere Formen des Nutzens dieses Werkzeugs. Wir benötigen mehr Eigenzeit in den sozialen Systemen, den Organismen der bestehenden Zeitabläufe. Eigenzeiten müssen zu ihrem Recht verholfen werden, und zwar, das kann ich durchaus unterstützen, durch Entschleunigung.
Professorin Dr. Hofmeister: Es muss mehr sein als die Entschleunigung. In der Frage, ob die Marktwirtschaft oder die Industriegesellschaft bin ich ohne Ehrgeiz. Aber die Verlangsamkeit gibt es auch im Interesse der Industrie, denn die Beschleunigung eines Teils der Bevölkerung hat die Verlangsamung eines anderen Teiles zur Folge. Nehmen Sie den Bau einer mehrspurigen Autobahn, was zu einer Beschleunigung der dort Fahrenden führt. Aber bei den Zubringern und Abfahrten entstehen dann die Staus und dadurch die Verlangsamung.
Fritz Reheis: Die Zeit wird beschleunigt, indem sie gewaltsam umverteilt wird. Entschleunigung ist nach meinem Verständnis kein generelles Konzept, sondern die Gesellschaft lässt sich nicht mehr vorschreiben, wie schnell sie ist.
LUST: Was kann die Politik machen? Wie kann sie steuernd eingreifen?
Tanja Breuer: Einmal durch Umverteilung der Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern. Ich spreche hier ja nicht für die Regierung, sondern bin hier durchaus Opposition. Patentrezepte kann es nicht geben, sondern nur kleine Schritte. Dann z.B. Produktion und Konsum in den Regionen, Einsatz von Solarenergie usw. Ich finde, es muss auch darum gehen, die Eigenzeiten zu vergrößern.
Professorin Dr. Hofmeister: Ich kann nicht finden, dass sich durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit die Eigenzeiten vergrößert haben, die Fragen haben sich nur vervielfältigt. Die Familien sind aufgrund unterschiedlicher Arbeitszeiten nicht mehr zusammen usw. Irreversibel nehmen wir Einfluss auf die Natur. Was z.B. das Treibhausklima für Folgen haben wird, wirft wieder neue Fragen auf.
Fritz Reheis: Wenn wir alle etwas fauler wären, hätten andere die Möglichkeit zu mehr Fleiß. Individuelle Möglichkeiten sind begrenzt. Eine staatliche Zeitpolitik muss den belohnen, der sich Auszeiten nimmt, also Prämien für Faulheit, damit die Arbeit gerechter verteilt wird.
Professorin Dr. Hofmeister: Gerechte Verteilung der Arbeit, diese Formel ist zu einseitig. Wer erwerbslos ist, ist deshalb nicht ohne Arbeit. Es gibt Arbeitsbereiche, die keinen Erwerbscharakter haben. Man müsste den Zugang zu hochdotierten Stellen an einen Nachweis von solcher Arbeit, von Versorgungsleistungen knüpfen.
Tanja Breuer: Dort wäre der Politikansatz das Verbot von Sonntagsarbeit und Einführung von mehr Feiertagen.
Professor Dr. Bibler: Der Siegeszug der Industriegesellschaft erzeugte die zunehmende Entfernung von der Natur. Dies wurde als Befreiung empfunden. Ein wesentlicher Punkt ist die Bildung. „Entschleunigung” oder „Zurück zur Natur”, das kann heute kein Rezept sein. Wichtig ist die Reflektion über die Folgen. Die Änderungen kamen aus der industriellen Produktionsweise heraus. Vieles in der industriellen Zivilgesellschaft ist zu konfortabel, um alles infrage zu stellen. Welche Hoffnung kann man auf die Politik haben? Die Politik tut das, was sie immer tat, zu beschreiben vielleicht mit „rasender Stillstand”
 
4. Beruf und Frauenrolle
Teinehmerinnen am Forum:
Ursula Groden, Vermögensberaterin für vermögende Privatkunden und CDU-Stadträtin
Gisela Abts, Sachverständige im Zeitmanagement
Ina Domke, Geschäftsführerin und Unternehmensberaterin
für Problemfeld Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Andrea Kettman, Soziologin, Uni Mainz, Geschlechterforschung
Andrea Kettman: Die Beschleunigung in der Spätmoderne hat die starren Zeiteinteilungen und die Geschlechterverhältnisse revolutioniert. Es gibt keine Rechtfertigung mehr für die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Die Zeit bietet die Chance, das Geschlechterverhältnis auszugleichen.
Gisela Abts: Frauen, auch besser ausgebildete, werden von Männern überholt, wenn sie sich um die Kinder kümmern müssen. Mädchen werden immer noch reduziert auf die kleine Welt des Haushaltes, lernen Tugenden und Bescheidenheit, sollen ordentlich und sauber sein und bekommen solche Verse immer noch ins Poesiealbum geschrieben. Sie lernen, dass sie nicht geliebt werden, wenn sie sich verweigern.
Ursula Godem: Ich hatte andere Voraussetzungen, denn ich war in einer privaten reinen Mädchenschule und habe dort gelernt, mich mit Frauen auseinanderzusetzen.
Ina Domke: Frauen sollen stolz auf ihre Arbeit sein können. In der Schwangerschaft sind sie sehr schnell aus dem Rennen. Dagegen können sie sich nur schützen, wenn sie auch in dieser Zeit Kontakt mit dem Betrieb und dem Arbeitgeber halten. Das ist bei all den Aufgaben, die sie für ihr Kind zu übernehmen haben, sehr schwer. Und dann gibt es noch die Aussage: Berufstätige Mütter sind bessere Mütter, weil sie loslassen können.
Gisela Abts: Unternehmer stellen junge Frauen ungern ein, weil sie schwanger werden können und dann längere Zeit ausfallen. Die Arbeitszeiten und die Versorgungszeiten müssen geteilt werden, dann ist dieses Risiko nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei den Männern.
Andrea Kaufmann: Reproduktive Arbeit wird noch immer als Frauenarbeit angesehen und auch so praktiziert. Nicht die Frauen müssen vorrangig in die Arbeitswelt integriert werden, sondern die Männer in die reproduktive Arbeit. Sie müssen in den Haushalt integriert werden.
Ina Domke: Frauen haben die soziale Kompetenz für Teamarbeit, weil sie den Haushalt mit den Kindern organisieren lernen mussten.
Ursula Godem: Ich möchte Kinder und mich auch um die Kinder kümmern. Aber, das ist bei meinem Job ganz einfach: wenn ich nicht arbeite bekomme ich kein Geld.
Gisela Abts: Das ist es ja. 2/3 aller gesellschaftlicher Arbeit werden weltweit von Frauen verrichtet, aber aufgrund der unterschiedlichen Bewertung von Arbeit können sich nur 28% der Frauen selbständig ernähren. Auch in der Bundesrepublik verdienen Frauen nur 2/3 von den Männergehältern bei gleicher Arbeit. Das war in der DDR anders, das war sogar durch die Verfassung gerantiert und es gab eine entsprechende Infrastruktur, die es Frauen besser ermöglichte, der Erwerbsarbeit nachzugehen.
Andrea Kettmann: „Weibliche Tugenden” am Arbeitsmarkt anzubieten, das ist der falsche Weg. Das führt zur geschlechtlichen Arbeitsmarktsekretion. Ich halte es auch falsch, dass Frauen ein hohes Gehalt für die Kinderversorgung aufbringen müsen, denn Kinder sind eine gesellschaftliche Aufgabe, mit der die Frauen nicht alleinegelassen werden dürfen.
Ursula Godem: Es ist nicht richtig, immer die Schuld bei den Männern zu suchen. Man kann den Männern nicht vorwerfen, wie sie auch durch Frauen erzogen wurden. (Viel Aplaus bei verschiedenen Männern)
Gisela Abts: Jeder erwachsene Mensch kann sein Leben reflektieren (Aplaus bei Frauen und Männern). Im Patriarchat wird mehr Geld zur Subventionierung des Ehe- und Familienmodells aufrgewendet als für die Kinder.
Ursula Godem: Agebote wie Kindergärten soll es für Frauen geben. Aber besser ist es, wenn ich mehr Zeit für die Kinder erübrigen kann. Vielleicht sollten wir davon wegkommen, Kindergärten in den Wohngegenden zu bevorzugen, sondern in den Betrieben.
Einwand von einem Mann aus dem Publikum: Die Kinder sind doch das Kostbarste, was wir haben. Es ist nicht in Ordnung, wenn Frauen so egoistisch sind, dass sie Karriere machen wollen und die Kinder an die Gesellschaft, an Heime und andere Verwahranstalten abgeben.
Ina Domke: Es ist nicht so, dass Frauen mit Kindern Karriere machen wollen. Viele müssen einfach arbeiten, weil das Gehalt des Mannes nicht ausreicht.
Gisela Abts: Berufstätige Mütter sind keine Rabenmütter. Die Einteilung, wer für die Kinder verantwortlich ist und wer das Geld verdient, ist einfach überholt. Außerdem, jede 2. bis 3. Ehe wird geschieden. Das ist nicht das Zukunftsmodell.
Ina Domke: Eine Grundsicherung jedes Menschen als Grundversorgung würde vielleicht weiterhelfen. Die ehemalige DDR hat uns hinterlassen, wie Kinder sinnvoll sozialisiert werden können.
Gisela Abts: Wie die Aufgaben in einer Beziehung aufgeteilt werden sollen, dass müssen die beiden Menschen aushandeln, wenn die Liebe noch groß ist. Es geht um ein sinnvolles Zeitmanagerment. Davon gewinnen beide. Und den Kindern kann man das faire Umgehen mit der Zeit durch Vorleben am besten vermitteln.
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