78. LUST, Frühling 04
Arbeit abschaffen
Das Thema des OPEN OHR Festivals 2004
Auch in diesem jahr wollen wir wieder zu Pfingsten
am Mainzer Open-Ohr-Festival auf der Zitadelle teilnehmen, unter
anderem auch deshalb, weil wie in jedem Jahr politische Aktionen
zu den aktuellen Themen der Zeit hier in zahlreichen Veranstaltungen
breit debattiert und untersucht werden. Wer also noch nicht weiß,
was sie/er zu Pfingsten machen will: besucht uns doch mal an unserem
schönen Infostand. Hier nun der Text der Festivalbetreiber
zum Thema:
Weißt du schon, was du mal werden
willst? Eine Frage, die fast jede von uns spontan mit einem
Beruf beantwortet. Dass kaum jemand mit glücklich
oder alt antwortet zeigt deutlich, wie stark Berufe
unsere Identität bestimmen. Wir sind Maurerin, Sozialpädagogin,
Feuerwehrfrau, Ärztin, Automechanikerin, Lehrerin, Webdesignerin
usw.. Daraus ergibt sich dann ein Problem, wenn sich die Wahl
von Ausbildung, Beruf oder Arbeitsplatz nach Verfügbarkeit
und nicht nach Interesse oder Begabung richtet. Arbeit haben
in Arbeit sein hat in unserer Gesellschaft einen extrem hohen
Stellenwert. Arbeit ist unsere Hauptbeschäftigung, sie bestimmt
unseren Alltag, sie bestimmt unseren Tages- und Lebensrhythmus,
sie bestimmt unser Ansehen bei unseren Mitmenschen und nicht zuletzt
ist sie maßgeblich für unser Selbstwertgefühl
in einer statusorientierten Gesellschaft. Selbst unsere Freizeitgestaltung
wird durch den Lohn, den wir für unsere Arbeitskraft bekommen,
bestimmt.
Menschen erfahren sich selbst vor allem, indem sie sich
arbeitend entäußern, in diesen Entäußerungen
von andern anerkannt werden und das, was sie dabei erfahren haben,
lernend, in ihrem Selbst wachsend, in sich zurücknehmen.
(Grottian,Narr,Roth: Sich selbst eine Arbeit geben, FR vom 29.11.2003.)
Arbeit heißt 2004 immer noch in erster Linie Lohn- bzw.
Erwerbsarbeit, was sich darin zeigt, dass andere Tätigkeiten
wie Ehrenamt, Erziehungs- oder Beziehungsarbeit nicht als Arbeit
wahrgenommen und dementsprechend nicht oder schlecht entlohnt
werden. Beziehungsarbeit bezeichnet die psychische Dimension verschiedener,
nicht produktiver Tätigkeiten, vor allem im Bereich der Familie,
in Pflegeberufen, sowie in pädagogischen Berufen. Auch das
System der Entlohnung von Tätigkeiten, die als Arbeit wahrgenommen
werden, ist insgesamt undurchsichtig warum verdient eine
Spitzenmanagerin das Vielfache einer Schulleiterin, eine Ost-Arbeiterin
immer noch weniger als ihre West-Kollegin oder eine leitende Angestellte
weniger als ihre männliche Kollegin in der gleichen Position?
Gesamtgesellschaftliche Relevanz, Macht, Verantwortung, erbrachte
Leistung, Bedarf sind das Kriterien, die die zum Teil enorme
Diskrepanz der Bezahlung erklären? Viele Menschen müssen
sich grundlegenderen, nämlich existentiellen Problemen stellen:
Was passiert, wenn es heißt, meine Arbeit sei bzw. habe
weniger Wert als bisher? Wie kann es sein, dass ich trotz mehrerer
Jobs und einer 60-Stunden-Woche am Rande des Existenzminimums
lebe? Was passiert mit mir, wenn ich aus diesem von Arbeit determinierten
Leben hinauskatapultiert werde, weil ich meinen Arbeitsplatz verliere?
Die offizielle Arbeitslosenzahl betrug im Dezember 2003 3,8 Millionen,
was einer Quote von 9,3 % entspricht. (Quelle: Bundesagentur für
Arbeit)
Wenn der Lohn, den ich für meine Arbeit bekomme, nur für
die Zeiten reicht, in denen ich arbeite? Die Existenz eines Sozialstaats
lässt erwarten, dass hier unterstützend eingegriffen
wird., doch der aktuelle Reformdschungel lässt Zweifel aufkommen.
Jetzt, da es wichtig wäre, starke Gewerkschaften und Sozialverbände
zu haben, verschwinden diese zunehmend in der Bedeutungslosigkeit,
während Arbeitgeberinnen und Lobbygruppen in scheinbarer
Allmacht die Richtlinien der Arbeit diktieren und die Allzweckwaffe
Standortfrage als Druckmittel gebrauchen. Die Folge
ist die rigide Aushöhlung der Arbeitnehmerinnenrechte sowohl
in Zeiten der Arbeit als auch in denen der Arbeitslosigkeit. Die
permanent geschürte Angst vor Arbeitslosigkeit prägt
dabei nicht nur das Arbeitsleben, sondern auch schon Entscheidungen
bezüglich Berufs- und Ausbildungswahl. Alle diese Probleme
sind Teil einer systemimmanenten Debatte, wie sie momentan von
einer breiten Öffentlichkeit geführt wird. Ziel des
OPEN OHR 2004 ist es aber nicht, nur in diesen ausgetretenen Pfaden
zu verbleiben. Wir wollen über den Tellerrand der kapitalistischen
Arbeitsgesellschaft hinausblicken und Fragen diskutieren, die
in einem System, das Arbeit in den Mittelpunkt stellt und den
Menschen nur als Arbeitskraft definiert, nicht auftauchen.
Es versteht sich zunächst von selbst, daß der
Arbeiter seinen ganzen Lebenstag durch nichts ist außer
Arbeitskraft, daß daher alle seine verfügbare Zeit
von Natur und Rechts wegen Arbeitszeit ist, also der Selbstverwertung
des Kapitals angehört. (Marx: Der Kampf um den Normalarbeitstag,
Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, 1867, S. 391)
Jenseits von Hartz und Rürup
Wir leben in einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die sich
durch Sachzwänge und Leistungsdruck auszeichnet und sich
mittels dieser stabilisiert.
Alternativmodelle und Visionen:
1) Der Aussteiger
Manfred, 38 Jahre: In zwei Jahren werde ich aufhören
zu arbeiten. Bis dahin habe ich genug Geld verdient und angelegt,
um davon leben zu können. Was ich dann machen werde, weiß
ich noch nicht genau, erst mal möchte ich wieder anfangen,
Musik zu machen. Ich habe früher in einer Band gespielt,
hatte aber die letzten Jahre keine Zeit mehr dazu. Das war aber
auch o.k. für mich, weil ich mich vor einigen Jahren entschieden
habe, lieber noch einige Zeit richtig ranzuklotzen und dann gar
nicht mehr arbeiten zu müssen. Ich kann mir auch vorstellen,
dann ins Ausland zu gehen, woanders zu leben. Nein, ich habe keine
Familie, Frau und Kinder und eine 7-Tage-Woche unter einen Hut
zu bringen, stell ich mir sehr schwierig vor, aber wer weiß
was die Zukunft bringt.
2) Die Produktivgenossenschaft
Die Idee dahinter ist, dass in einem Unternehmen alle Mitarbeiter
zu gleichen Teilen auch Eigentümer der Firma sind und somit
in erster Linie für sich selbst arbeiten und nicht für
Dritte. Entscheidungen, die den gesamten Betrieb betreffen, werden
demokratisch gefällt.
3) Der Kommunismus
Der Kommunismus ist der Sprung des Menschen aus dem Reich der
Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. (Frei nach Engels Die
Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.)
4) Die Grundsicherung
Grundsicherung ist eine Form nach der jede, unabhängig von
ihrer Arbeit und ihrem Vermögen, einen festen Betrag zur
Verfügung gestellt bekommt, der ihr ein der Gesellschaft
angemessenes Leben ermöglicht. Die Grundsicherung ermöglicht
es den Menschen dadurch, ohne Existenzangst zu leben und sich
ihre Arbeit frei von Lohnzwängen zu wählen.
5) Keine Trennung zwischen Arbeit und Leben
Arbeite, als bräuchtest Du kein Geld!
50 h Woche ? Na und. Ich liebe meine Arbeit!
- ein Arbeitsbegriff, weg von Pflicht und Gründen des Lebensunterhalts
- Arbeit als Erfüllung und Zufriedenheitspotential
Arbeit = Leben = Arbeit
Arbeit = Leidenschaft = Erfüllung = nicht-entfremdet = Leben
= Arbeit = Freizeit =
Leben = Arbeit = Leben
6) Die Arbeits-Lose
Obwohl wir im Zeitalter der immer umfassenderen Automatisierung
leben, werden Tausende von Menschen zu zumutbarer Arbeit
gezwungen und in Umschulungsprogrammen oder ABM-Maßnahmen
geparkt. Muss das so sein? 21. Jahrhundert und Vollbeschäftigung
gehen nicht mehr zusammen und müssen es auch nicht. Es ist
deshalb an der Zeit, Modelle einer Nicht-Arbeitsgesellschaft zu
diskutieren. Ne travaillez jamais! wurde 68
in den Straßen von Paris zum Schlachtruf einer Bewegung,
die Nicht-Arbeiten nicht als Provokation oder Schmarotzertum begriff,
sondern als notwendige Abkehr von einer Gesellschaft, die Arbeit
als Lebens- und Gesellschaftsmittelpunkt versteht.
Also?
Lieber LUST-LeserInnen, der Text oben hat Euch hoffentlich angeregt,
zu uns an unseren Infostand zu kommen. (ROSA LÜSTE)
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