98.Print-Ausgabe, Frühling 09
Die Grenzen des Normbruchs
an den Beispielen Seitensprung und Barebacking. Ein Beitrag über den geduldeten Fastnachts-Ausbruch aus den Normen, die Normen im Wandel und über die gesellschaftlichen und unsere eigenen Grenzen des Normbruchs.
Die Moral und das Leben
Menschen, besonders Menschen des öffentlichen Lebens sollen sich „untadelig“ und moralisch verhalten, das zumindest verlangen religiöse und konservative politische MeinungsführerInnen.
Über die angeblich oder real nicht eingehaltene Moral werden politische und andere Karrieren beendet, die sogenannte „sexuelle Denunzia-tion” gehört zu den beliebten medialen politischen Machtmittel. Dabei ist die verkündete und sanktionierte Moral nicht unbedingt das Grundprinzip des eigenen Handelns. Die Moral ist ein Leitbild, sie ist nicht die zwischenmenschliche Lebensrealität.

Die MoralverkünderInnen haben ein Interesse daran, dass die von ihnen verkündeten Leitlinien zum zwischenmenschlichen Miteinander zur gesellschaftlichen Norm wird. Gesellschaftliche Normen werden als „normal” ausgegeben und infolgedessen auch dafür gehalten. Die Strukturen des „normalen Verhaltens“ werden durch zahlreiche Rahmenbedingungen der Gesellschaft sowie durch die Gesetzgebung abgesichert. Und so versuchen die Kirchen über die konservativen und/oder rechten Parteien Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsprechnung zu bekommen.

Die Medien befleißigen sich, propagierte „moralische Verhaltensweisen” in Zusammenhängen mit Sympathieträgern zu inszenieren, und die „moralischen Verfehlungen” führen dann in den Inszenierungen zum schlimmen Ende. Jede/r Zuschauer/in sieht ein: das kommt davon.

Die MoralverkünderInnen und NormenvertreterInnen sind nun zumeist keine IdiotInnen und sie wissen auch, dass Auswege anzubieten sind. Alle Appelle sind sinnvoll, wenn Menschen dadurch in ein Dilemma kommen, also in eine Situation ohne Ausweg. Ein Dilemma wäre es zu, Beispiel, wenn ein streng glaubender Moralist an sich selber bemerkt, dass er sich z.B. bei Abbildungen eines nackten Mannes in lustvolle Erregung versetzt fühlt. Meist werden von Religionsverkündern Auswege aus dem Dilemma angeboten. Die Auswege sind so geschaltet, dass das vorübergehende „moralische Verfehlen“ schuldhaft empfunden wird, dass Abbitte geleistet wird und so die Moral wieder hergestellt wird.

Der Nebeneffekt, dass die „geläuterten“ MoralverfehlerInnen ihrerseits nun selber zu VerkünderInnen und VerfechterInnen der Moral werden, oft auch zu VerfolgerInnen der „Unmoral“ ist aus Sicht der Moral-schützerInnen eben nur wünschenswert. Engagierte bzw. fanatische VertreterInnen der Moral haben oft aber auch andere Hintergründe bzw Interessen als die vorgeschobenen Gründe, zum Beispiel in der Politik, in der Religionsverkündung, in den üblichen Medien.

Denken wir an den amerikanischen Präsidenten Klinton, dessen „Fremdgehen“ „entrüsteteten“ Moralisten aus der konkurrierenden Partei kampagnefähig schien, um ihn genüsslich vor aller Welt persönlich und politisch zu beschädigen.
 
Die Normbruchs-Moral
Ein moralisches Leben im strengen Sinne ist derart unerfreulich, dass oftmals ein augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Normbrecher zu spüren ist, wenn man sich übertrieben lauthals über die Unmoral aufregt. Dieses Augenzwinkern zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Das bemerkt man, wenn jemand gewisse Witze erzählt und bei dem lachenden Publikum.
 
Das hört man in der Fastnachtszeit in den Büttenreden genauso wie in den Fastnachtsschlagern, so, als sei zu Fastnacht das erlaubt, was im Grundsatz nicht erlaubt ist.
Homosexualität gehört freilich nicht zu den augenzwinkernd zugestandenen Normbruchs-Auswegen und die katholische Kirche erkennt zwar an, dass es zwischen all den verführten Homosexuellen einige wenige „echte Homosexuelle“ existieren, doch verlangt sie von diesen sexuelle Enthaltsamkeit, da ja die Ehe zwischen Partnern des gleichen Geschlechts gegen Gottes Wille sei, wie eben auch der außereheliche Verkehr.

Zurück nun zu den Auswegen für die anderen. Es ist ja wirklich so, dass traditionell die Karnevalszeit als die Zeit des Seitensprungs und somit des Normbruchs angesehen wurde und in bestimmten Gegenden noch angesehen wird. Allerdings, nach dem Normbruch kommt die Reue und die Moral wird dann wieder hergestellt.

Zu Fastnacht konnte man sich mit einem gewissen Einverständnis frivol anziehen, sich lasziv geben und der Seitensprung ist beinahe guter Ton, wenn am Aschermittwoch „alles vorbei“ ist und die Reue folgt. Doch halt, nur die Menschen, die an und für sich Sexobjekte waren, durften sich frivoler anziehen als sonst: die Frauen, besonders die jungen Frauen. Und Männer konnten sich als Frau verkleiden und dann auch weiblich frivol geben, unter der Gefahr freilich auch, für schwul gehalten zu werden.

Schwule und Transe war lange Zeit in den Medien identisch, Schwule galten als Nichtmänner. Über sie durfte gelacht werden, doch das war kein augenzwinkerndes Lachen, hier war manchmal dann doch recht schnell die Grenze des Normbruchs überschritten. Das ist ja auch klar, weil die sensible und verletzliche heterosexuelle Männeridentität anscheinend keinen anderen Inhalt hat, als nichtschwul und nichtfeminin zu sein und sie so also verdammt dünn ist.

Innerhalb unserer Szene ist der Normbruch nicht unbedingt an eine Jahreszeit gebunden, sondern findet lustvoll und ständig statt. Nicht für alle ist das so, sondern für vergnügungssüchtige junge Männer, schlank und mit Geld oder unerschrocken. Großer Schwanz ist auch hilfreich. Für andere geht es auch, es klappt aber nicht so einfach und nicht immer. Normbruch scheint das Grundlegende in unserer Szene zu sein, und das meine ich gar nicht negativ, weil nämlich Homosexualität generell nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht.

Dies bedingt allerdings, dass das besondere Fastnachts-Augenzwinkern fehlt, und zwar deshalb, weil sozusagen immer Fastnacht ist und dass demzufolge der Aschermittwoch, die Zeit der Reue, dann auch nicht vorhanden ist.

Und dies bedingt allerdings dann für unsere Szene auch, weil sie die Grenzen von außen ohnehin brechen muss, um die Möglichkeit zu haben, einigermaßen zufriedenstellend leben zu können, dass die Grenzen nicht von außen, von der Gesellschaft kommen (denn solche sind zu überwinden), sondern überwiegend aus eigener Überlegung. Brauchen wir denn Grenzen in unserer Szene? Ich meine: „Ja!“.
 
Das Fremdgehen
Wenn man in keiner festen sexuellen Beziehung lebt, kann man auch nicht fremdgehen. Wer also als schwuler Mann zwar in guten und festen Beziehungen lebt, jedoch ohne dort sexuelle Erfüllung zu finden, der sucht sich die Erfüllung außerhalb, ohne dadurch fremd zu gehen. Es gibt weit mehr solcher Beziehungen unter uns, als Ihr glaubt. Zum Beispiel leben viele in der Herkunftsfamilie und suchen Sex in der Szene, andere haben Beziehungen, die früher sexuell war, und suchen nun auch Sex von außen. Aber wenn diese Beziehungspartner trotz nicht vorhandenem homosexuellen Sexleben auf den Verzicht von Sex außerhalb dieser Beziehung, dann entsteht wiederum ein Dilemma. Der auf (nicht erfüllende) Monogamie bestehende Beziehungspartner, versucht so, den Partner zu halten, was unsinnig ist, weil er in Wirklichkeit seinen Partner nur so vertreibt.

Wenn aber beiden Partner eine monogame Partnerschaft anstreben und sie (vorübergehend) auch beide einhalten wollen, dann sollten die Freund von außen, meine ich, diesen Wunsch auch respektieren und nicht trickreich in eine solche Beziehung trennend einzugreifen versuchen.
Überhaupt (auch wenn in einer Beziehung kein Sex vorhanden ist) sollte man hier die Grenzen einer Beziehung einhalten und selbst bei Sexkontakten die Beziehung nicht zu zerstören versuchen.

Ich selber hatte jahrelang einen Sexkontakt mit einem jungen Mann, der in einer solchen Beziehung lebt (lebte?), in der sein Freund mit ihm zwar keinen Sex mehr hat, sie sich aber immer noch lieben, und er seinen Partner aus Angst ihn zu verlieren drohte, wenn er fremd gehe würde er die Beziehung beenden.

In mir traf er einen Mann an, mit dem er sich sexuell sehr gut ergänzte und ich lebe ja selber in einer homosexuellen Beziehung, in der kein Sex mehr stattfindet, während wir uns aber noch sehr lieben, wir haben aber die Vereinbarung, dass Sex mit Außenstehenden akzeptiert wird.
In der Verantwortung von jedem von uns liegt es nun, bei sexuellen Außenkontakten so zu verfahren, dass die Beziehung nicht gefährdet wird.

Sie kann durch ein Missverständnis bei den Außenstehenden gefährdet werden. Viele von ihnen meinen nämlich, eine Beziehung in der keine brisante Sexualität stattfindet wäre so etwas wie ein Abbruchhaus, wo sie sich auch beziehunsmäßig bedienen können. Hinter dieser Auffassung steht die Ehe-Ideologie mit ihrem Alles-oder-Nichts-Anspruch. Sie hält aber der Realität des Be-ziehungslebens nicht stand.

Daher meine ich, dass die Arrangements, die Menschen mit ihren PartnerInnen getroffen haben, von den Freunden und außenstehenden Sexpartnern auch zu akzeptieren sind.
Abmachungen und Absprachen sind einzuhalten. Diese Grenzen werden nicht durch die Gesellschaft an uns herangetragen, sondern sie sind deshalb besser einzuhalten, weil die vernünftig und für unser Leben hilfreich ist.

Abmachungen und Absprachen sind auch im Zusammenhang des anderen Bereichs sinnvoll und notwendig, von dem ich hier nun berichte.
 
Das Barbacking
Das „Reiten ohne Sattel“, also das Ficken ohne Condom, ist seit ungefähr einem Jahr Diskussionsthema in der Szene.

Natürlich ist dieses Losficken, ohne sich mit dem lästigen Gummiding beschäftigen zu müssen, durchaus reizvoll und entspricht wohl schon dem, was wir eigentlich wollen.

Die deutsche Aids-Hilfe hat auf dieses Phänomen mit ihrer neuen Anzeigen-Kampagne reagiert und wirbt nun mit Themen, die das schwule Sexleben, wie es sich zeigt, eher zutreffend beschreiben.

Schon die Anzeige in den November-Ausgaben 2008 zeigte diesen neuen Stil, wenn auch das appellhaft Belehrende der vorherigen Kampagnen zu spüren war.
Das Problem ist aber gar nicht, dass man die Männer unserer Szene belehren müsste, denn die meisten wissen recht gut, welche Gefahren bei was existieren. Einige gehen die Gefahren trotzdem ein.

Die Serie „Ich weiß, was ich tu“ geht nun anders vor. November: „Ich habe immer einen Gummi dabei, meinen Schwanz vergesse ich ja auch nicht.“. Ganz klein „Beim Sex benutze ich beides“, und darunter die Angabe www.iwwit.de für Tipps und Infos.

Aber schon die Dezember-Anzeige ging ordentlich in die Vollen. „Ich bin Positiv und lebe mein Leben.“ hieß sie. Und es ist ja auch logisch, dass Menschen mit einem positiven Sero-Status nicht aufhören, ihr (schwules) Leben zu leben. „Das Leben hat viel zu bieten. Auch mit HIV“ hieß hier der kleingeschriebene Text.

Und auch deshalb kann man die Verantwortung für vernünftiges Verhalten nicht auf andere abschieben. Man muss sich selber vernünftig verhalten. Und im übrigen, wer sich in dieser Frage nicht vernünftig verhält, wird dies in Beziehungsfragen und in anderen Fragen auch nicht tun.
Im Januar hieß der Text nun „Wir machen‘s ohne nur mit Test.“ Und hier geht es ja um Barebacking in einer Beziehung oder längeren Sexbeziehung. Denn man kann sich bei unterschiedlichem Sero-Status ja gegenseitig infizieren, also wenn einer positiv und einer negativ ist.

Will man dies nicht riskieren, als Positiver an einer Infektion des Partner beteiligt zu sein, oder als Negativer sich selbst zu infizieren, muss man eben den Sero-Status kennen. Der kleiner dargestellte Text bringts auf den Punkt: „In einer Beziehung ohne Gummi? Das setzt viel voraus!“ Es setzt natürlich auch voraus, dass hier Absprachen und Vereinbarungen eingehalten werden. Auch hier sind vernünftige Grenzen hilfreich und nützlich.

Im Februar fand ich dann: „Ich liebe meinen Mann - und mach‘s auch mit anderen.“ Das ist doch nun wirklich mitten aus dem Leben gegriffen, für Männer unserer Szene. Und der klein dargestellte Text führt aus: Ich treib‘s wild, aber safer.“ Das zeigt die realistischen Möglichkeiten auf. Und immer „Ich weiß was ich tu“.

Im März nun: „Ich hätte nie gedacht, mal mit einem Positiven zu ficken.“ Nun ja, es soll ja welche geben, die nicht wissen, was sie tun. Aber hier natürlich weiß man, was man tut, ob man nun selber positiv ist oder negativ. Der kleine Text: „Jetzt ist es für mich das Normalste der Welt“, denn man weiß ja, was man tut.

Diese Serie wird sicherlich unser Leben rundum ansprechen, das setze ich mal voraus und ich kann nur sagen: sie ist gut, denn sie trifft gut das Leben, wie es ist und nicht wie es einige vielleicht gerne hätten.

Es bringt ja nichts, sich und anderen etwas vorzumachen. Das leben würde dadurch nicht einfacher oder vorteilhafter, sonder eben nachteiliger und unvorteilhafter.

Barbacking-Parties sind etwas ganz anderes. Wer dort hingeht weiß sicher auch, was er tut, beziehungsweise worauf er sich dort einlässt. Wer hier negativ ist und hingeht, der muss aber sehr genau wissen, was er tut, um sich nicht zu infizieren. Ich rate ja, als Negativer dort nicht hinzugehen.

Wenn man selber zwar weiß, was man tut, aber viele dort Anwesende eben nicht, begibt man sich unnötig in Gefahr.

Kannst Du das, dort den Unvernünftigen Grenzen zu setzen? Das kann dort durchaus verdammt schwierig sein. Wer nun selber positiv ist, kann der wirklichannehmen, dass all die anderen auch positiv ist, also niemand neuinfiziert werden kann?

Aber auch dann. Es gibt ja nicht nur HIV. Und wenn man selber positiv ist, ist es äußerst schwierig, so manche andere Krankheit durch eine erfolgreiche Behandlung bei geschwächter Immunabwehr zu bekämpfen.

Also ich rate hier eher, sich nicht unbedingt in diese Gefahr zu begeben. Gut, manchmal kann man sich vielleicht nicht entziehen, glaubt man. Doch dann ist wichtig, sagen zu können: „Ich weiß, was ich tu“. Sex sollte doch etwa Lustvolles, Erfüllendes sein und nicht eine Sache mit einem üblen Nachgeschmack.

Sexuelle Freiheit muss nicht tödlich sein
Wir haben uns unsere sexuelle Freiheit über Generationen hin teuer erworben. Dabei musste der Einfluss der Kirchen auf den Staat und das Staates über die Betten zurückgedrängt werden.
Die größtmögliche sexuelle Freiheit ermöglicht es uns, gangbare Wege zu finden.

„Bist Du bereit, für Deine sexuelle Freiheit zu sterben?“ das war der Spruch eines US-amerikanischen Gay-Magazins, als die Aids-Krise in der Szene bewusst wurde.
Sich ohne Einschränkung sexuell verhalten zu dürfen wurde im Gegensatz zu den Safer-Sex-Appellen gesehen.

Diesen Gegensatz kann ich so nicht billigen, er existiert nicht. Die sexuelle Freiheit wird von außen bedroht, durch die Religionskampag-nen und Regierungen, die Homosexualität verbieten, bestrafen usw. möchten. Aber wenn wir in dieser Form nicht gegenwärtig nicht spürbar bedroht sind, ist es an uns, gangbare Wege zu finden.

Zu diesen gangbaren Wegen gehört auch, unsere Kreativität darauf zu verwenden, sinnvolle Wege zu beschreiten, bestimmte Grenzen zu akzeptieren, die ganz einfach für unser Leben vernünftig sind.

Und daher sind vernünftige Verhaltensweisen vorrangig in den beiden Bereichen, die ich hier aufgeführt habe, die solide Grundlage, den Spielrauch, den wir haben, sinnvoll und klug für uns selber und unser Leben zu gestalten. (js)
 
 
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