96. Print-LUST, Herbst 08
 
Der Klassenkampf
In einer bayerischen Schulklasse spielte sich Unerhörtes ab. Eine engagierte Lehrerin, Sabine Tschernii, schaffte es, dass alle ihrer Grundschulkinder die Gymnasialreife erreichten. Dieses Ergebnis führte dazu, dass sie für die Schule „untragbar“ wurde. Sie hat tatsächlich unmerklich aus besten pädagogischen Absichten in ihrer Klasse die „Klassenfrage“ gestellt.

„Die einen kommen erster Klasse zur Welt“. „Die andern kommen zweiter Klasse zur Welt“. „Die einen werden gebildet“. „Die andern werden ausgebildet“. „Die einen stellen danach was dar“. „Die andern stellen danach was her“. „Die einen verdienen“. „Die anderen dienen“ ...

So beschrieb die Rockgruppe „Floh de Cologne“ in den frühen 70er Jahren das Schulsystem in der Bundesrepublik. Und ich hatte in meinem Lehrer-Studium so Manches zu verarbeiten. Wir analysierten die damaligen drei Schulzweige.

Die CDU wollte damals gegen die damals als Lösung ausgegebene integrierte Gesamtschule das dreigliedrige Schulsystem erhalten. Es ging um die politschen Führunskräfte, die die Infrastruktur um die wirtschaftlichen Führungskräfte bildeten. Ihren Kindern ging es auf den Gymnasien erstklassig, ihr beruflicher Aufstieg war gesichert. Voraussetzung: nur sie durften ins Gymnasium, damit es keine Konkurrenz aus niedrigeren sozialen Schichten geben kann.

Damit man in den niedrigeren sozialen Schichten Hoffnung haben konnte, gab es für sie auch einen Weg. Manche Arbeiterklasse stiegen in die Vorarbeiterschule auf, die Mittelschule. Und einige Mittelschüler konnten sogar ein über einen komplizierten Weg von Betriebskarriere und Lehrgängen ein Ingenieurstudium beginnen. Alle anderen Schüler wurden drittklassig unterrichtet.

Drittklassige Schule? Das ist doch für Menschen mit einem drittklassigen Einnahmen vollkommen normal. Auch bei der Bahn gabs die dritte Klasse, die Holzklasse, für die Leute mit weniger Geld.

In unserem Studium hatten wir z.B. die Schulbücher für Hauptschüler, für Realschüler und für Gymnasiasten verglichen. Das war politisch brisant und genau deshalb machten wir es. Es galt, den verborgenen Klassencharakter des Schulsystems zu entlarven. Das gelang uns zwar, doch kamen diese Erkenntnisse nicht aus den Studentenzirkeln hinaus. Die Schulbücher bewiesen es: Die Unterschiede waren gravierend. Eindeutig wurden zum Beispiel die Hauptschüler in eine enge miefige hierarchische Welt geführt, voller moralsicher und religiöser Bezüge. Die zukünftigen Gymnasiasten haben eine eher karriereorientierte Welt kennen gelernt, die ihnen auch mehr individuellen Spielraum bot.

In der Vorbereitung zum Deutschunterricht (ich war u.a. Deutschlehrer) lernte ich in Soziolinguistik die Bildungsbarrieren kennen, die mittels Sprache gerade für sogenannte Unterschichtskinder existieren und wir erarbeiteten Strategien, diese Barrieren zu unterlaufen.
In Hessen unter Kultusminister Ludwig von Friedeburg (SPD, das war noch eine andere SPD) flossen unsere Arbeiten in die Rahmenrichtlinien ein, gegen die besonders die CDU Sturm lief.

Damals wurde von den Bildungspolitikerinnen der Union behauptet, man wolle alles politisieren und überall Konflikte schaffen. Man wolle außerdem statt Deutsch die Konfliktfähigkeit in der verbalen Kommunikation schulen. Heute verteidigt die Union die Hauptschule mit dem Argument, man könne dort Konfliktfähigkeit lernen.

Damals war durch den Bau der Mauer der Zustrom gut ausgebildeter Industriefachkräfte aus der DDR gestoppt worden, was Schulreformen nötig machte. Doch der sogenannte Mittelstand befürchtete, dass die traditionell Drittklassigen mit ihnen konkurrieren könnten, was ihren reibungslosen Durchmarsch in die höheren Gehälter gefährden könnte.

Die CDU-PoliterInnen begründeten ihr Festhalten am alten System mit dem menschenfreundlichen Hinweis, dass man doch Kinder, die für höhere Bildungswege gar nicht infrage kämen, mit Lehrinhalten nicht quälen müsse, die ihnen später in dem ihnen angemessenen Beruf im Wege stehen könnten.

Die älteren im Dienst ergrauten Lehrer wussten und wissen, was von ihnen erwartet wurde und wird. Selbst bei gleichen leistungsmäßigen Voraussetzungen waren und sind die Prognosen in Hinblick auf den Schulwechsel, wie bei Umfragen festgestellt wurde, unterschiedlich. Die Kinder von Eltern, die weder die finanzielle und die bildungsbezogene Voraussetzung hatten, ihr Kind nach Kräften zu fördern, erhielten und erhalten eine ungünstigere Prognose und somit eine weniger häufige Empfehlung zum Gymnasium. Und da gibt es dann immer den einen Schüler mit Migrationshintergrund, dem die entsprechende Empfehlung zum Gymnasium gegeben wird, was belegt, dass jeder, der sich nur richtig anstrengt, die gleiche Chance hat.

Und dann gibt es noch die Kurve vom alten Gaus. In der Gausschen Kurve bekommt der Beste Schüler der Klasse eine 1, der Schüler mit weniger guten Ergebnissen eine niedrigere Note, was es ermöglicht, immer etwa die gleiche Anzahl von Schülern zu jeder Note zu haben. Mögen die Differenzen oft auch minimal sein, die Schüler-Innen sehen so ein, dass sie eben nicht so gut sind wie die anderen.
Heute wird die Hauptschule von der CDU mit der „Vielfalt der Angebote“ gerechtfertigt. Durch das dreigliedrige Schulsystem, ergänzt durch staatlich geförderte private Eliteschulen kann gewährleistet werden, dass jeder das erhält, was für ihn sinnvoll ist. Eine solche Gewähr bietet die Einheitsschule auf jeden Fall nicht. Und die Finanzierung der Privatschulen aus Steuermitteln ist absolut wichtig, weil die Bildung die Zukunft unserer Gemeinwesens garantiert. Und unser Gemeinwesen ist eben darauf aufgebaut, dass sich Leistung auch lohnen soll.

Übrigens, die hessische FDP, die damals mit der SPD die Gesamtschulen wollte, ist jetzt auch für das dreigliedrige Schulsystem.
Aber junge Lehrerinnen wie Sabine Tschernii, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, sind nur stolz darüber, dass sie, im Gegensatz zu den anderen LehrerInnen, jede und jeden durchbekommen können. Da fehlt ihnen doch der Blick fürs Gesamte. Und so ist sie mit ihren „Erfolgen“ für die Schule einfach untragbar. Sie hat, ohne es überhaupt zu realisieren, mit ihrem ungestümen Vorgehe etwas getan, was nicht verziehen wird. Sie hat in ihrer Klasse die Klassenfrage gestellt. (js)
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