65. Print-LUST, Sommer 08
 
Die Deutungshoheit über die 68er
Filme aus dem Jahr 68, die Ereignisse in Frankreich und Deutschland, aber auch in den USA und Prag, die eine ganze Generation geprägt haben, auch die Gegner, wecken bei vielen älteren Menschen Erinnerungen: Älteren Menschen? Das Jahr 1968 ist 40 Jahre her. Ein Jubiläum also.
In diversen Fernseh-Foren diskutierten Menschen über die Ereignisse, die als Zeitgenossen darüber was zu sagen hatten, die sich als Angegriffene immer noch darüber ärgern oder sich als TeilnehmerInnen immer noch darüber freuen und viel vermissen, vor allem das damalige Lebensgefühl. Und es äußern sich andere, die darüber dennoch was dazu zu sagen haben.
Ich versuchte mich zu erinnern, was für ein Lebensgefühl ich damals hatte.
Ich schau mich im Spiegel an und versuche aus meinem Gesicht zu lesen, ob da noch etwas geschrieben ist, vom damaligen Lebensgefühl.
Allerdings weiß ich ja:
„ Erinnerung und Gedächtnis sind wie Kultur und Identität von dynamischem Charakter. Sie umfassen keine gespeicherten Inhalte, die abgerufen werden können, sondern sie werden immer unter einer Gegenwartsperspektive ausgelegt und dadurch stetig aktualisiert. Erinnerung als etwas Feststehendes, Monolithisch-Starres gibt es nicht. Erinnerungsinhalte werden bei einem perfoma-tiven Akt somit nicht einfach herangezogen, sondern sie werden an eine entsprechende Situation angepasst“. (Klaus Höldl in „Marginalisierte Körper“, Unrast-Verlag ISBN: 978-3-89771-460-1 auf S. 67)
 
Meine Erinnerung
„Das private ist politisch“ wurde sehr zu recht damals gesagt, daher ist dieser (mein) Bericht hier, auch recht privat gehalten.
Ich selber war ein späterer Seiteneinsteiger, kam dazu als „die 68er Bewegung“ schon am Zerfallen war und sich kleine Teilbewegungen, Gruppen und eben auch seltsame dogmatische Parteien bildeten, die ganz andere Ziele hatten als das, was unserem damaligen Lebensgefühl der individuellen und gesellschaftlichen Befreiung entsprach.
Die Ereignisse in Berlin rund um das Springerhaus nahm ich ungläubig aus dem Fernsehen wahr.
Ich weiß noch, an was ich vorher politisch so glaubte und was Schritt für Schritt wegrutschte, eben mit immer neuen Informationen, erst auf dem Abendgymnasium, dann während meines Studiums in Frankfurt. Die schrittweise politische, dann auch meine sexuelle Emanzipation.
Schwule waren selbstverständlich dabei, überall sind ja Schwule dabei, doch eine Schwulenbewe-gung war das noch nicht. Das manchmal recht intrigante und den gemeinsamen Zielen der Schwulen abträgliche Verhalten versteckter Schwuler, das war für mich ein Grund, warum Schwulenpolitik dazu führen muss, dass sich niemand mehr verstecken muss. Denn: Das private ist eben politisch.
Die Schwulenbewegung entstand ebenso aus den Zerfallsprodukten der 68er Bewegung, wie die Frauenbewegung und die autoritären K-Gruppen. Der Zerfall der 68er Bewegung hat wohl schon mit 68 eingesetzt, mit der Härte der Auseinandersetzungen, mit den von der Springezeitung aufgehetzten Mordanschlag auf Dutschke und der Erschießung eines Demonstranten durch einen Polizisten, dem gerichtlich zu seinem Freispruch eine „putative Notwehr“ zugebillgt wurde, also nicht wirklich Notwehr.
Ich wurde durch die miefige linke Bewegung in Wiesbaden und die viel freiere Frankfurter Uni-Bewegung in den Sog der Ereignisse gezogen.
Die sexuelle Befreiung ermöglichte mir das Coming-out leichter trotz schwulenfeindlicher Zeit und trotz der antischwulen Vorbehalte in der miefigen linken Szene nicht nur in Wiesbaden, die mir immer noch (oder schon wieder?) unemanzipiert und miefig erscheint. Das Private ist eben nun mal politisch.
Wie war die Zeit vor 68? Man wurde sehr stark religiös und konservativ geprägt. Und man hatte sich allen Obrigkeiten unterzuordnen.
Im Konkreten bedeutete das: Sex ist nur etwas für die Ehe. Die Kinder sind recht lange unter der sozialen Kontrolle der Eltern, bis sie dann heiraten und selber eine Familie gründen. Kondome gab es zwar, aber die musste man sich vom Arzt verschreiben lassen. Jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich sexuell zu be-tätigen, war gesetzlich verboten. Wer Unverheirateten die Gelegenheit zur Sexualität nicht verwehte, wurde bestraft, denn das war nach dem Kuppeleiparagraphen verboten.
Frauen durften nur mit Genehmigung des Ehemannes einen Beruf ergreifen, sie durften ohne Genehmigung des Ehemannes kein eigenes Konto führen.
Vergewaltigung in der Ehe gab es nicht, war also nicht verboten, es gab kein Gesetz gegen sie. Man sieht eben, dass das Private politisch ist.
Sex eines Erwachsenen mit einem Mädchen über 14 und unter 16 wurde dann bestraft, wenn der Mann das Mädchen nicht heiratete. Der gesetzliche sogenannte Schutz galt also dem Heiraten.
Nackte Körper bekam man nirgendwo zu sehen, die Abbildung des unbekleideten Menschen war verboten. Sexualaufklärung wurde mit der Begründung der Pornographie verboten.
Männliche Homosexualität war mit dem in der Nazizeit verschärften § 175 StGB absolut verboten. Weibliche Homosexualität wurde schlicht ignoriert.
Es gab die Sittenpolizei, die die Schwulentreffpunkte überwachte und in der konservativen Adenauerzeit wurden doppelt so viel Männer wegen Homosexualität verhaftet, verurteilt und Bestraft als in der Nazizeit.
Wir waren geprägt von dieser Zeit, das ist unverkennbar.
Und diese Revolte ermutigte uns dazu, zu uns selber und unsere sexuellen Bedürfnisse zu stehen. Das bedeutete noch lange nicht, dass andere 68er immer Verständnis für unsere Bedürfnisse hatten.
Wir verloren schrittweise (zu unserem Glück) die religiösen Ängste und konservativen Mauern in unseren Köpfen, die es uns vorher nicht ermöglichten, zu uns selber und unseren Bedürfnissen zu stehen.
Diese 68er-Bewegung verursachte auch die individuelle Befreiung vieler der Beteiligten. Ich denke, ich als gelernter Gärtner hätte mich ohne diesen Aufbruch sicherlich nicht getraut, das Abendgymnasium zu besuchen, das Abitur zu machen, zu studieren und Lehrer zu werden, denn es galt ja: Schuster, bleib bei Deinen Leisten.
Das neue Lebensgefühl war: eingebettet zu sein in einem Umfeld, das ähnliche Bedürfnisse hat und aus Menschen bestand, die füreinander eintreten, auch wenn deren Bedürfnisse anders waren.
Und daraus entwickelten sich unsere utopischen politischen Ziele, die wir zugeben und endlich entwickeln durften, ich erinnere an den ermutigenden Satz: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“.
 
Was wollten wir?
Eine Gesellschaft in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen genauso verschwunden ist, wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Und so versuchten wir auch zu leben, und ich glaube, dass wir untereinander so auch lebten und einige von uns immer noch so leben, zum Beispiel wir.
Wir dachten an einen langen schrittweisen gesellschaftlichen Prozess der Umwandlung zu diesen politischen und mitmenschlichen Zielen hin.
Und weil wir schon so lebten, glaubten wir auch daran, dass wir damit erfolgreich sein werden.
Außenpolitisch und weltpolitisch, und so sahen wir uns, waren wir gegen die Unterdrückung anderer Menschen oder ganzer Völker zugunsten deren wirtschaftlichen Ausbeutung durch die Industriestaaten. Und ganz besonders ging es uns gegen Kriege, aktuell damals gegen den Vietnamkrieg.
Macht Liebe, keinen Krieg. Und den Soldaten wurden von leicht bekleideten oder unbekleideten Frauen und Männern Blumen in die Gewehrläufe gesteckt, zum Beispiel.
Und für unser eigenes Leben hatten wir zwei Slogans:
1. Das Private ist politisch. Was innerhalb der angeblichen „Privatsphäre“ passiert ist die Fortsetzung der Unterdrückungen in der Gesellschaft. Die Unterdrückung der frei ausgelebten Sexualität muss öffentlich gemacht werden und es muss ihr öffentlich widersprochen werden. „Mach’ Dein Schwulsein öffentlich!“ ist ebenso die durchaus erfolgreiche Folge dieses Denkansatzes wie auch das Anprangern auch des „linken Mackertums“.
2. Kampf dem Konsumterror. Es ist lächerlich, wenn Menschen sich teure Klamotten kaufen müssen, um unter Ihresgleichen Anerkannt zu werden. Fassaden sind Blendwerk, sind teuer und machen nicht wirklich glücklich. Uns ging es um Mitmenschlichkeit, persönliche und sexuelle Befreiung, denn es kommt darauf, wie sich die Menschen gegenseitig begegnen statt der teuren Fassaden.
Und so kleideten wir uns schlicht, wohnten schlicht, öffneten uns gegenüber anderen, benötigten keine Rückzugsräume mehr. Man musste zum Beispiel in sexuellen Fragen nicht mehr „sein Schäfchen ins Trockene führen“, weil kein Mensch das Eigentum eines anderen Menschen ist. Wer wollte, lebte in Beziehungen zusammen, oft auch in Zweierbeziehungen. Wir verachteten gleichzeitig die „Raffgierige Konsumeinheit Ehe“ und sahen keine Mauern der Eifersucht oder andere Hindernisse mehr, beziehungsweise wir nahmen sie gar nicht mehr ernst.
Und dazu war es nötig, miteinander über Vieles zu reden. Und das geschah auch. Statt sich auf der Straße über das Wetter zu unterhalten, diskutierten alle politisch und persönlich.
Das Plakat des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes aus dem Jahr 1968 lehnt sich an das Plakat der Bundesbahn-Kampagne an. Auf durchweg rotem Grund waren im oberen Bereich in weißen, mittig auf drei Zeilen verteilten Buchstaben „Alle reden vom Wetter” zu lesen. In der Mitte des Plakats waren die Köpfe von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin abgebildet. Das untere Drittel des Motivs wurde durch die zeilenfüllend zentriert gesetzten Worte „Wir nicht.” gefüllt, die unterste Zeile nahm, zeilenfüllend, die Bezeichnung SDS SOZIALISTISCHER DEUTSCHER STUDENTENBUND ein. Das im Januar 1968 gestaltete Motiv wurde in den späten 1960er Jahren von politischen Aktivisten der Studentenbewegung verwendet. Das Plakat war ursprünglich für den Wahlkampf des SDS an der Universität Stuttgart entwickelt worden. Es erschien in einer ersten Auflage von 60, dann 2000 Stück an der Universität Stuttgart. Nach einer Meldung der DPA berichteten Zeitungen im gesamten Bundesgebiet von dem Motiv.
Es folgten mehrere Massenauflagen in Stückzahlen von über 50.000 Exemplaren. Von den Einnahmen finanzierte der Bundesverstand des SDS unter anderem die rechtliche Vertretung in Prozessen um Landfriedensbruch nach Protestaktionen gegen die Notstandsgesetze. Es gilt als das wichtigste politische Plakat des Jahres 1968.
Die „68er Bewegung“ war später vielfältig, reichte von religiösen und esoterischen Ansätzen über antiautoritäre bis hin zu anarchistischen Denkansätzen, über die Antikriegsbewe-gung bis hin zu marxistischen und maoistischen Denkmustern.
Es gab zu der Zeit, in der ich dazu kam, keine „linke Denkfabrik“ mehr, der SDS wurde nicht mehr gehört. Man lernte aus den aktuellen Auseinandersetzungen.
Kamen diese Strömungen alle aus der Bewegung oder war es nicht in Wirklichkeit so, dass viele verschiedene schon existierenden Gruppierungen in die Masse der in Bewegung gekommenen Jugendlichen hineinzuwirken versuchten und es ihnen auch teilweise gelang?
Jedenfalls hatten wir (mein ganzes bekanntes Umfeld) mit dem Denkansatz „Propaganda der Tat“ nichts zu tun, wo man einen Bürgerkrieg anfangen wollte, zumal ohne ein erkennbares durchdachtes Ziel zu haben, indem man einfach anfing, um andere in Zugzwang zu setzen.
Das war zu autoritär, weit weg von den gewonnen Freiheiten und völlig konträr zu dem Erworbenen und noch zu Erwerbenden.
Genau so etwas wollten wir nun überhaupt nicht. Und daher finde ich es ein Unverschämtheit, wenn in den medialen Aufarbeitungen des 40-jährigen „Jubiläums“ dieser Zeit heute von den damaligen Gegnern, zum Beispiel Leuten vom Springer-Verlag, in Talk-Shows auch heute noch behauptet wurde: Unser damaliger Protest gegen das von konservativen Kräften, von unbefriedigten übriggebliebenen Nazis, von Kirchen bestimmte Leben, dieser Protest uns unser freies Lebensgefühl habe zum Terrorismus geführt.
Das sehe ich anders. In so breiten Bewegungen wie die der 68er, die die Jugend millionenfach erreichte, gibt es ganz unterschiedliche Menschen. Und einige haben sich angesichts der Härte des Staates und der Hetze vieler Medien gegen uns völlig verrannt, dass längst ein Bürgerkrieg existiere, dem sie eine Führung sein wollten.
Die Jutta Ditfurth brachte es in einer Talkshow auf den Punkt: Man möchte heute die 68er-Zeit in einer Weise abwickeln, die aussagt, dass angesichts des Sozialabbaus und der neuen konservativen Welle gesagt wird: Rebellion und Ungehorsam führt zum Terrorismus, damit sich die Leute das gläubig alles gefallen lassen.
Jörg Schönborms Kommentar dazu war durchaus bezeichnend: „Frau Ditfurth, sie haben ja nen Knall“.
Da fragt man sich doch wirklich, wer sich „demokratisch“ beziehungsweise „undemokratisch“ verhält und von wem welche Gewalt aus geht.
 
Der Streit um die Deutung
Klar, die Medien haben ein Interesse daran, diese damalige lustvolle Revolte um gemeinsames persönliches Lebensglück und gegen wirtschaftliche Ausbeutung wie politische Funktionalisierung zu einer gefährlichen Sache umzudeuten.
Dass eine breite politische Bewegung, die Verbesserungen erreichen möchte, durch ihre Revolte gegen ungerechte Strukturen vielleicht auch eine durchaus wichtige gesellschaftspolitische Signalwirkung haben könnte, das wird von den zynischen Schachspielern der Macht durchaus erkannt. Es geht in ihren Umdeutungsversuchen um zwei Bereiche:
1. Die ganze Richtung passt ihnen nicht, weil sie ihren politischen Intentionen schon damals, so auch heute zuwiderläuft.
2. Eine Revolte, die einen nennenswerten Teil der Bevölkerung inhaltlich ergreift und sogar gesellschaftspolitische Erfolge erzielt, könnte ja zu Missverständnissen in der Bevölkerung führen, nämlich dass man in weiten Teilen der Bevölkerung an die Unbesiegbarkeit der gegenwärtigen politischen Machtverhältnisse nicht mehr glaubt.
Heutzutage geht es wirklich um den Sozialabbau, um die gewollte Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Und dagegen wäre es nötig, dass sich die sogenannte „demokratische Linke“ endlich wirkungsvoll zusammenrauft. Es geht auch im unsere individuellen Freiheitsrechte, die seitens großer Konzerne wie Telekom und seitens der Großen Koalition zunehmend in Bedrängnis geraten.
Zu den gesllschaftspolitischen Kräften, die sich dagegen stemmen können, gehören als wichtige Partner auch die Gewerkschaften, sofern sie politisch handlungsfähig sind. (js)
 
Die Jugendbilder von mir
1. Ich als bartloser ca. 17-jähriger Junge
2. Ich als junger 68er
3. Ich als linker Student
 
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