- 93. Print-Ausgabe, Winter 07/08
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- Wir, die Avantgarde
Lesben und Schwule, besonders die Schwulen
seien Trend-Setter, sie seien eine kulturelle Avantgarde. Ein
Nachdenken über die Frage, ob wir kultureller sind als andere
Bürger, ob wir bewusster sind oder ob wir uns überall,
auch hier, stärker anpassen als andere Bürger, ob wir
an der Spitze der Anpassung sein wollen.
- Selbstgefällig behaupten manche ZeitgenossInnen,
wir, das heißt die Menschen unserer Szene, seien in vielen
Bereichen führend, wir seien die Avantgarde.
Zum Beispiel in der Mode, im Showgeschäft und in der Kultur
seien überall schwule Männer und lesbische Frauen führend.
Nun kennen wir natürlich alle lesbische Frauen und schwule
Männer in unserem Bekanntenkreis, die alles andere verkörpern
als Träger der Kulturszene zu sein oder der jeweiligen Modeströmung.
Andererseits, in den Chefetagen der großen Modehäuser
sitzen wohl überwiegend schwule Männer, im Showgeschäft
gibts Gestalten wie die Hella von Sinnen und Alfred Biolek bzw.
den auch bei älteren Frauen so beliebten Harpe Ker-kelingt.
Aber das bedeutet ja nun wirklich nicht, dass das Gros der Lesben
und die Schwulen überwiegend in Chefetagen der Modehäuser
sitzen.
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- Was ist die Avantgarde?
Fragen wir doch mal das kluge Wikipedia: Der Begriff Avantgarde
stammt ursprünglich aus dem Sprachschatz des französischen
Militärs und bezeichnet die Vorhut, also denjenigen Truppenteil,
welcher als erster vorrückt und somit zuerst in Feindberührung
tritt. Das Gegenstück ist die Nachhut (veraltet: Arrièregarde),
welche als letzte abrückt und somit gleichfalls als letzte
Feindberührung hat. Zwischen beiden marschiert die Hauptmacht,
das Gros.
Im übertragenen Sinn werden unter Avantgarde
politische und künstlerische Bewegungen zumeist des 20.
Jahrhunderts verstanden, die eine starke Orientierung an der
Idee des Fortschritts gemeinsam haben und sich durch besondere
Radikalität auszeichnen.
Das ist wirklich sehr erhellend. Die Avantgarde ist die Vorhut,
die sich für uns mit dem Feind rumschlägt. Was die
anbahnt, darin folgen wir ihr. So haben sich die Kommunisten
gefühlt, als Vorhut der revolutionären Arbeiterklasse,
und in der Literatur verstehen sich die Avantgardisten als Menschen,
die Neues und Kreatives leisten, wenngleich das Gros
ihnen nicht immer zu folgen vermag, wie es auch letztlich der
Vorhut des Proletariats Erging.
In einer Zeit, in der bei uns das englisch-amerikanische Sprach-
und Kulturverständnis das französische abgelöst
hat, sagt man nicht mehr Avantgarde und sucht sie auch nicht
mehr, sondern vielleicht nur Trendsetter, was bedeutet, dass
hier jemand einen Trend setzen will und kann.
In unserer Szene müssen wir uns also fragen, ob hier eine
nennenwerte Anzahl von Menschen einen Trend setzen kann, dem
dann viele folgen, oder ob sich das Gros immer nach
dem Trend verhält, der durch die Modeindustrie, durch die
in den Medien ausgerufenen politischen Stimmungsmache vorgegeben
wird.
Der Wikipedia-Text geht allerdings weiter und lässt auch
erkennen, dass im Trendsetter viele Abstriche gegenüber
dem Avantgardisten gemacht werden, dass also auch das französische
Gesellschaftsverständnis vom amerikanischen abgelöst
wurde:
Allgemeine Bedeutung Im weitesten Sinn wird mit dem Begriff
Avantgarde dem Bezeichneten eine Vorreiterrolle zugewiesen.
Unter Avantgardisten versteht man Menschen, die ausgetretene
Wege verlassen und neue, wegweisende Entwicklungen anstoßen.
Im Gegensatz zum Trendsetter, der nur kurzfristige neue Moden
anstößt, sind die Veränderungen, die von der
Avantgarde ausgehen, von grundsätzlicherer und längerfristiger
Wirkung.
Avantgarde kann allgemein verstanden werden als Elite bezüglich
Kreativität und Innovation, obgleich Avantgarden nur selten
der Elite bezüglich gesellschaftlicher und ökonomischer
Macht angehören. Außerhalb seines militärischen
Ursprungs taucht der Begriff der Avantgarde in verschiedenen
Kontexten auf, bezieht sich meist jedoch entweder auf eine politische,
kulturelle oder künstlerische Bewegung.
Im Gegensatz zu den Schwulen sind Lesben eigentlich keine Trend-Setter,
weil das lesbische Kulturleben stärker in Frage stellt und
kritisiert als sich dem Trend anpasst. Wenn eine Verflachung
auch hier zu beobachten ist, sind die Exponate der Lesben-Kultur-Szene
somit schon eher anvantgardistisch als die der Schwulenszene.
Das hat wohl etwas mit den Ansätzen eines feministischen
Grundverständnisses zu tun. Der gesellschaftskritische Ansatz,
der bei Schwulen bisweilen zu finden ist, hat auch andere Quellen
nämlich die gesellschaftspolitischen Selbstbe-hauptungsversuche
schwuler politischer Avantgardisten gegenüber dem gesellschaftlichen
Trend und somit oft misstrauisch beäugt von dem in Anpassungsbereitschaft
lebenden Gros der schwulen Szene.
In Zeiten von Aids, wo jeder Schwule aus der Gesellschaft und
aus der Schwulenszene verdächtigt wurde, infiziert zu sein,
rannten sehr viele Schwule in die Fitnessstudios, um nicht kränklich
auszusehen, sondern wie ein nichtinfizierter kraftstrotzender
junger Mann. Daraus wurde ein Trend, der sowohl von den Heten-Machos,
wie auch von der Kosmetik- und Modeindustrie wohlwollend aufgenommen
wurde.
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- Lesben und Schwule in Politik und Parteipolitik
Der Verband LSVD, der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland,
hat in der eher unpolitischen Szene durchaus eine gewisse Aufmerksamkeit
und ist mit seiner berechtigten Kritik an der klerikalen Hetze
gegenüber Lesben und Schwulen mutiger als andere politische
Kräfte in der Gesellschaft. Der Lesbenring taucht zwar hier
und da auf, muss sich aber anstrengen, um sowohl in der Lesbenszene
wie in der Lesben- und Schwulenszene, aber auch in der Gesellschaft
und den politischen Gremien als Kraft und gesellschaftspolitischer
Faktor bekannt zu sein.
Der recht kleine Verband whk ist kaum wahrzunehmen und erreicht
weder die MeinungsführerInnen unserer Szene noch die Szene
selber, er erreicht auch nicht die politischen und gesellschaftlichen
Eliten der Gesellschaft. Seine Hauptstoßrichtung, den LSVD
für alles Nnegative verantwortlich zu machen, hat etwas
Naives und Sektirerisch. Mit irgendeiner Vorreiterrolle kann
dies in seiner Rückwärtsgewandtheit nicht in Verbindung
gebracht werden.
Nun gibt es auch in der Parteienpolitik sowie in der politischen
Öffentlichkeit der Medien Lesben und Schwule in führenden
Positionen. Angefangen hat dies der Regierende Berliner Bürgermeister
mit einem doppelten Tabubruch, der ihn in sein Amt brachte. Der
erste Tabubruch war es, sich öffentlich zu outen, bevor
es das Blatt für die Dreckarbeit der Konservativen, die
Bildzeitung, machte, indem er freimütig verkündete:
Ich bin schwul und das ist auch gut so. Das Wort
Outing wurde ja seit Rosas Outingkampagne für vieles benutzt,
Wowereits Satz: und das ist auch gut so ist ebenso
bekannt und wird für Unterschiedliches genutzt, und jede(r)
weiß grinsend, welche Andeutung dahinter steht.
Sein zweiter Tabubruch war es, um aus der für den Osten
auf Dauer angelegte SPD-Rolle als Juniorpartner der CDU durch
eine Koalition mit der PDS herauszutreten, wodurch die SPD frei
davon wurde, nur ein Mehrheitsbeschaffer für CDU-Politik
zu sein.
Nun gibt es auch noch einen anderen schwulen Ministerpräsidenten
von einem Stadtstaat in Deutschland, nämlich den Oberbürgermeister
von Hamburg. Der stammt aus einer konservativen Partei und hat
sich auch nicht vorher geoutet, und hinterher nur, weil er mit
dem von ihm gewählten rechtsgerichteten Koalitionspartner,
dem "Richter Gnadenlos" Schill und seine rechtsgerichtete
Partei, Schwierigkeiten hatte, die bis zum Versuch der Erpressung
gingen. Immerhin, in konservativen Kreisen tauchen nun auch zunehmend
lesbische Prominente auf, so die Moderatorin Anne Will, die sich
in Emma geoutet hat, und die stellvertretende hessische Ministerpräsidentin
Wolf, die sich in BILD geoutet hat.
Anne Will wurde wohl als Nachfolgerin von Christansen deshalb
genommen, weil sie die konservativste der infragekommenden Frauen
war. Und die hessische Kultusminiserin Wolff ist über die
evangelische Kirchenhierarchie in Kochs Kabinett gelandet. Sie
versucht übrigens als Kultusministerin, den christlichen
Schöpfungsmythos im Biologieunterricht unterrichten zu lassen,
für den es überhaupt wissenschaftlichen Beleg gibt,
nur die religiöse Auffassung und den Versuch amerikanischer
evangelikaler Sekten, die die wissenschaftliche Forschung über
die Entwicklung der Arten durch den Schöpfungsmythos ersetzen
wollen.
Mit ihrem Selbstouting in Bild hatte sie die Kritik an ihren
Machenschaften vorerst einmal zurückgedrängt, aber
Befremden bei vielen Lesben und Schwulen ausgelöst. Das
wird sicherlich durch die Landtagswahl in Hessen am 27. Januar
2008 beendet werden, denn eine FDP oder eine SPD-Kultusministerin
kann dies mit Sicherheit nicht mittragen.
Das einzige avantgardistische Verhalten der lesbisch-schwulen
Parteiprominenz kann man nur bei Wowereit erkennen, der innerhalb
der SPD-Führung und in den Medien als der Mann für
eine mögliche rot-rot-grüne Bundesregierung gehandelt
wird, die vielleicht in der Lage wäre, das sozial- und kulturfeindliche
neoliberale Modell von Schröder und Merkel in ihre Schranken
zu weisen.
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- Die eigenständige Lesben- und Schwulenkultur
In der Literatur tauch sie deutlich auf, in anderen Bereichen
treten Lesben und Schwule nicht gesondert auf, sondern sind Teil
der jeweiligen Kulturszene.
Überall wo Menschen sind, sind auch Lesben und Schwule,
meist unerkannt aber hier und da auch selbst oder von anderen
geoutet. Und nicht immer ist es gut für uns, wenn der oder
die eine oder andere als Teil der Gay-Gemeinde (der lesbisch-schwulen
Szene) erkannt wird.
Im Kulturbetrieb gibt es überall wie auch an der Werkbank
oder im Stall eines landwirtschaftlichen Betriebes Lesben und
Schwule. Doch in einigen Bereichen ist das Klima so, dass sich
Lesben und Schwule leichter outen können, oder es bringst
ihnen vielleicht sogar Vorteile, wenn sie es tun. Deshalb ist
nun nicht alles, was diese Kolleginnen und Kollegen oder Damen
und Herren politisch oder kulturell produzieren ein Beleg lesbisch-schwuler
Kultur oder Selbstbehauptung.
Bezüglich der Fähigkeit, kreative Beiträge für
die verschiedenen Bereiche der Kultur zu liefern, war früher
(noch bis in die frühen 60er Jahre) die offizielle Behauptung
vorherrschend, dass Frauen im allgemeinen im reproduktiven Bereich
besonders gut seien, Männer hingegen im kreativen bzw. produktiven
Bereich. Also Männer können besser Gedichte schreiben,
Frau können sie besser vortragen, zum Beispiel.
Besonders Schwule meinen nun, dass sie, die Schwulen also, ganz
besonders gut im kulturproduktiven, kreativen Bereich seien,
Heten eher im reproduktiven Bereich. Der Komponist, der schwule,
schreibt das Ballett und der Hetenmann tanzt?
Wenn es überhaupt stimmt, dass schwule Männer gehäuft
im Kulturbereich vorkommen, dann ist das doch eher umgekehrt.
Überall im reproduktiven Bereich sind schwule Männer
zu finden.
Die unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung (Dannecker) der Schwulen
könnte hier seine Entsprechung finden, nämlich für
ganz besonders gute Anpassung an künstlerische Vorgaben
große Anerkennung zu erringen. Auf dem Glatteis der künstlerischen
Kreativität, die ganz besonders um Anerkennung buhlen muss,
sind offen schwule Männer meines Wissens, von einigen Ausnahmen
abgesehen, genau so selten zu finden wie aus anderen Bevölkerungsgruppen
auch.
Da Lesben noch weniger häufig die Neigung verspüren,
ihr Privates dem Urteil der Mitmenschen auszuliefern, kann über
ihren kreativen Anteil in der Kunst noch weniger ausgesagt werden.
Aber, wir haben auch eine eigene Kulturszene: von offenen Lesben
und Schwulen für Lesben und Schwule. Ganz besonders nachweisbar
ist dies in der Literatur. In der großen Literatur sind
außer Ausnahmen wenig offene Schwule zu finden.
Aber in unserer Szene-Literatur, klein aber fein, schäumt
es nur so von Kreativität. Das kommt besonders auf der Buchmesse
und den entsprechenden Lesungen besonders zum Ausdruck.
Eine Reihe Verlage unserer Szene fördern durch Veröffentlichungen
schreibende Lesben und Schwule, und ein immer breiterer Strom
von Kunstbüchern, Sachbücher, intelligenter Unterhaltung
und trivialere Unterhaltung fließt aus den Verlagen in
die Buchläden unserer Szene und zum Teil auch in die allgemein
zugänglichen Buchläden. Hier kann sich eine lesbische
und schwule Kultur der Literatur entwickeln, weil es diesen Entfaltungsraum
der einschlägigen Verlage gibt.
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- Was sind wir also?
Was in unserer Gesellschaft als die Avantgarde wahrgenommen wird,
ist ja in der Regel nicht der Querdenker. Und der Querdenker
wird eher verachtet oder verspottet und so in die Versenkung
katapultiert, bevor man sich mit den queren Gedanken überhaupt
auseinandergesetzt hat. Den Trend setzen die, die die Medien
und die Macht haben, die Anpassung zu erzwingen oder zu ernötigen.
Und wenn mal ein Querdenker als Avantgardist wahrgenommen wird,
dann nur deshalb, weil er nützlich ist oder dazu benutzt
wird, die vorherrschende Gesellschaftsform einen Schritt weiter
zu bringen. Also sind bei uns die Avantgardisten im landläufigen
Sinne doch eher die Trendsetter, die Vorhut der Anpassung.
Die Trend-Setter sind die Vorhut der Bestätigung und der
kritiklosen Anpassung an die Paradigmen der vorherrschenden Gesellschaftsstruktur.
Und in diesem Sinne sind viele schwule und lesbische KünstlerIn-nen,
lesbische und schwule Politi-kerInnen und lesbisch-schwule Promis
die hervorragendsten Vertreter dieser zeitgemäßen
Version von Avantgarde. (js)
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