87. Ausgabe, Sommer 06
 
“Russland ist nicht Sodom!”
Über den traditionellen westlichen Antikommunismus in den osteuropäischen Ländern, und über den konservativen, neoliberalen und faschistischen Reflex darauf. Über den Beitrag des ehemaligen sozialistischen Staates dazu, der damals die Werte vorgab, und über die heutige Sehnsucht vieler Menschen dort nach einem Vormund.
 
Volker Beck war mal wieder groß in den Medien, das Blut von dem Schlag ins Gesicht unterstrich diese Szene.
Schon im vergangenen Jahr berichteten wir in der 84. LUST über die antischwule Stimmung in Russland, obwohl schon vor 13 Jahren der antihomosexuelle Paragraph abgeschafft wurde, zum gleichen Datum: am 27. Mai. Daher der Jahrestag. Ein abgeordneter der links-patriotischen Partei „Heimat“ meinte zum Beispiel in einer Sendung des Rdios „EchoMoskwy“ über eine mögliche CSD-Parade, eine solche Parade richte sich gegen die jahrhundertalte russische Tradition, sie beleidige die Ehre der Nation. Eine Höhrerin meinte, eine Schwulenparade habe Russland mit seinem Geburtenrückgang gerade noch gefehlt. Vater Alexander von der russisch-othodoxen Kirche erklärte, schwulsein sei eine Anomalie und eine solche Parade verletze die christlichen Werte. Nahezu 70% der AnruferInnen sprachen sich damals gegen das öffentliche Auftreten von Homosexuellen mit solchen und ähnlichen Argumenten aus.

Die Vorgänge in Moskau
Am 27. Mai 2006 nun war der Tag, an dem sich 100 - 120 homosexuelle Menschen in Moskau trauten, als homosexuelle Menschen öffentlich zu zeigen, viele auch solidarisch aus dem westlichen Ausland.

An diesem Tag gab es auch eine angemeldete und genehmigte Demonstration der in Russland wieder zunehmend dominierenden russisch-orthodoxen Kirche gegen die Homosexualität und die Homosexuellen, an der auch islamische Geistliche und Gläubige teilnahmen. Sie konnten ganz andere Zahlen von Menschen für Ihren Aufmarsch gegen die Homosexualität aufbieten. Milizen waren zahlreich aufmarschiert, als stehe ein Staatsstreich an, und es gab auch zahlreiche russische Nazis, die offensichtlich dafür mobilisiert worden waren, es den Schwulen und Lesben mal so richtig zu zeigen. Man konnte nicht erkennen, dass die etwa tausend Polizeibeamte sowie 700 Mitglieder der Anti-Aufruhr-Einheit OMON den Auftrag hatten, die (nicht zugelassene) lesbisch-schwule Demo zu schützen, denn sie verhielten sich ja nicht danach, ließen die von den Schlägern angegriffenen lesbisch-schwulen DemonstrantInnen nicht fliehen, offensichtlich sollten sie gedemütigt und misshandelt werden. Moskaus konservative Vize-Bürgermeisterin Lidia Schewzowa bedauerte im Vorfeld öffentlich, dass in Russland das Gesetz der Stalin-Zeit nicht mehr in Kraft sei, das gestattet hatte, homosexuelle Männer für fünf Jahre ins Straflager zu schicken. “In unserem Land sind Homosexualität und Lesbenschaft immer als Perversionen angesehen und sogar nach dem Strafgesetzbuch bestraft worden”, schrieb die Vize-Bürgermeisterin Anfang März ihrem Chef, Bürgermeister Jurij Luschkow. Leider sei Homosexualität heute nicht verboten, doch eine Schwulenparade sei “Propaganda für Unmoral” und damit illegal. Luschkow befahl eine “aktive Medienkampagne” gegen Schwule und das Verbot der Demonstration. Als rund einhundert Homosexuelle am Samstag dennoch auf die Straße gingen, wurden sie von neofaschistischen Schlägern und orthodoxen Eiferern erwartet, die - wie Kirill Frolow von der Orthodoxen Bürgerunion - kein Geheimnis daraus machten, dass sie eng mit der Polizei zusammenarbeiteten.
 
Russland ist so schwulenfeindlich wie westliche Länder vor einigen Jahrzehnten. Zwar strich Präsident Boris Jelzin 1993 aus dem Strafgesetzbuch den berüchtigten Paragraphen 121, auf Grund dessen Tausende von homosexuellen Männer zu fünf Jahren Straflager verurteilt worden waren. Doch schon im April 2002 brachte Dmitrij Rogosin, damals Führer der russischen Delegation zum Europarat, im russischen Parlament einen Gesetzesentwurf ein, um Homosexuelle wieder nach Sibirien schicken zu können. Und die Armee verpflichtete sich, ab dem 1. Juli 2003 neben Drogenabhängigen und Aids-Kranken auch keine Homosexuellen zum Militärdienst einzuziehen, weil sie eine Gefahr für die Volksgesundheit seien.
   
   
   
   

Zwar gibt es vor allem in Moskau und Petersburg Schwulen- und Lesben-Kneipen, Saunen, Discotheken und Geschäfte für Homosexuelle. Dennoch meiden Schwule und Lesben aus Angst die Öffentlichkeit. In der Nacht zum 1. Mai wurde der Moskauer Schwulen-Club “Thematik” angezündet. “Obwohl sich Neofaschisten im Internet offen damit brüsteten und wir bei Polizei und Staatsanwaltschaft Anzeige erstatteten, gibt es keinerlei Reaktion”, sagt Olga Siworowa, die einen Internet-Dienst für russische Lesben betreibt. Siworowa selbst bekommt Drohbriefe und -anrufe. “Unter Jelzin haben wir sehr viel freier gelebt; ich persönlich hatte als Lesbe nie Probleme.” Doch das Klima hat sich geändert. Metropolit Kirill, der Außenminister der Orthodoxen Kirche, wetterte erst Anfang April gegen “Heiligenschändung, Abtreibung, Homosexualität, Euthanasie” und andere Abartigkeiten, “die oft als ein Menschenrecht verteidigt werden”. Russlands oberster islamischer Führer, Talgat Tadschudin, sah es nicht anders. Unter keinen Umständen sollte eine Schwulen-Demo erlaubt werden, eiferte er. “Und wenn sie doch auf die Straße gehen, sollten sie zusammengeschlagen werden.”

Nikolaj Alexejew, der Organisator der Demo vom Samstag, entschied sich trotz dieser Drohungen und der fehlenden Genehmigung, zusammen mit anderen Schwulen und Lesben vor allem aus westlichen Ländern in Moskau auf die Straße zu gehen. Moskauer Schwule und Lesben kritisieren ihn dafür scharf. “Wir waren strikt gegen eine solche Demo, weil wir wussten, wie sie in unserer konservativen Gesellschaft enden würde”, sagt Olga Siworowa. “Alexejew hat die letzten Jahre in Paris gelebt und nicht mitbekommen, wie dramatisch das Klima der Intoleranz in Russland zugenommen hat. Die Zeche für diese unnötige Provokation zahlen jetzt wir, die wir in Russland leben. Seit dem gewaltsamen Ende der Demo vom Samstag bekommen wir reihenweise Meldungen über verprügelte Schwulen und Lesben”, sagt Siworowa. “Die Skinheads und anderen Fanatiker haben jetzt gesehen, dass sie uns straflos angreifen dürfen. Ich fürchte, Übergriffe gegen Schwule und Lesben stehen in Russland erst am Anfang.” Es sind nicht einzelne Menschen in Russland, die anti-homosexuell eingestellt sind, es ist eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit. Das erinnert an Deutschland in den 50er Jahren, nachdem den Menschen besonders auch in der Nazi- und der Adenauerzeit über die Gefährlichkeit von Schwulen eingehämmert wurde, Lesben wurden ignoriert.

In Deutschland ist auch noch nicht alles ausgestanden, Konservative halten es für karriereförderlich, wenn sie sich antischwul verhalten. Während früher antischwule Gewalt in anderen Ländern von der CDU damit gerechtfertigt wurde, dass man die Bräuche der Völker achten müsse, hatte Andreas Schockenhoff, als stellvertretender Unions-fraktionsvorsitzender für die Außen- und Verteidigungspolitik seiner Partei zuständig, Beck vorgeworfen, er hätte sich an die “politische Ordnung” und die Spielregeln des Gastlandes halten müssen und sich stattdessen in die Schlagzeilen gedrängt.

Und die katholische Website kreutz.net meint zum Thema: “Er und weitere Demonstranten hätten vergeblich versucht, hinter die Polizeikette zu gelangen. Die Sicherheitskräfte hätten die Homos nicht nur nicht geschützt, sondern sogar deren Rückzug verhindert, so dass sie ”schutzlos ausgeliefert” gewesen seien, jammerte der grüne Politiker. Dagegen lobte ein russischer Parlamentarier das Vorgehen der Polizei und erklärte, dass es nicht angebracht sei, ein persönliches abweichendes Verhalten von allgemein akzeptierten Normen öffentlich zur Schau zu stellen und auch noch als Menschenrecht hinzustellen.”
 
Kommentar: Ein Antihomosexuelles Pogrom?
Als Pogrom wird u.a. auch eine Ausschreitung bezeichnet, oft initiiert von Staatlichen Stellen, die sich gegen nationale, religiöse oder rassische Minderheiten (wir müssen hinzufügen, gegen Menschen mit einer anderen sexuellen Identität) richtet. Das trifft in gewisser Weise auf die Vorgänge in Moskau zu.

Die Diskussion, ob es angesichts der Zustände in Russland sinnvoll war, in Moskau eine (verbotene) Demonstration durchzuführen, wird gegenwärtig von Menschen geführt, die nicht in Russland leben und auch nicht in Moskau, was einen Unterschied macht. Diese Frage ist nämlich schwer zu entscheiden. Einige russische Lesben und Schwule hielten dies für richtig und hatte ernst zu nehmende Gründe dafür, andere hatten Angst, die ja nach Lage der Dinge auch berechtigt ist. Vor 13 Jahren wurde die antihomosexu-elle Gesetzgebung, die noch aus der Stalinzeit datiert, in aller Stille abgeschafft, so dass staatliche Behörden nicht (mehr) legal gegen homosexuelle Menschen und Handlungen vorgehen können.
 
Die damalige russische Regierung war offensichtlich im Grundsatz weiter als die Gesellschaft, deren informelle Führer offensichtlich staatlicher als der Staat vorgehen: die Popen der orthodoxen Kirche, die muslimischen Moralverkünder, die Nazi-Schlägergruppen. Und die Grausamkeiten gegen Menschen mit einer anderen sexuellen Identität werden, wie wir das auch aus unserem Land kennen, mit Gott und Nation begründet. 13 Jahre lang kamen die Lesben und Schwulen in Russland nicht weiter.
 
Verkrochen im Privatleben, wenn sie überhaupt eins hatten, mussten sich die anti-homosexuellen Hetzreden der immer einflussreicher werdenden Popen anhören, die immer unverblümter das sagen, was die Katholiken zwar meinen, aber nicht ganz so drastisch ausdrücken. Sie mussten wie in der Stalin-Zeit ein verborgenes Leben führen, verfolgt von Rechtsradikalen, zahlreiche Erpresser-Innen und anderen Gewinnlern solcher Zustände. War schon der “real existierende Sozialismus” zumindest seit Stalin oder von Anfang an nicht gerade eine Möglichkeit, in der die lesbischen Frauen und schwulen Männer ein halbwegs zufriedenstellendes Leben führen konnten, so waren die neuen Kräfte im Lande, die mit US-Dollar und Unterstützung der Geheimdienste dazu beitrugen, die alten Zustände zu beenden, in ihrem neuen Russland auch keine Menschen, denen das individuelle Lebensglück der Menschen so sehr am Herzen lag.

Als Stalin in der UdSSR die antihomosexuellen Gesetze erließ, kommentierte Maxim Gorki dies in den Medien der UdSSR wie folgt: “Das Gedächtnis sträubt sich dagegen, auch nur jener Abscheulichkeiten zu gedenken, die der Faschismus so üppig erzeugt. ... Während in den Ländern des Faschismus die Homosexualität, die die Jugend verdirbt, ungestraft agiert, ist sie in dem Lande, wo das Proletariat kühn und mannhaft die Staatsmacht erobert hat, als ein soziales Verbrechen erklärt und streng bestraft. In Deutschland ist schon das geflügelte Wort entstanden: Rottet die Homosexuellen aus und der Faschismus ist verschwunden.” (Zitiert nach: Wilhelm Reich, Sexualität und Kulturkampf, Kopenhagen 1936, S. 189.)

Die Verfolgung homosexueller Menschen endete nicht mit dem Niedergang der Sowjetunion, wie sie auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks nicht endete, da mafiose, klerikale und faschistische Kräfte, von westlichen Ländern aus geführt, dort ihre Infrastrukturen ausbauten und letztlich zum Zusammenbruch ganzer Staaten beitrugen. Selbst in der ehemaligen DDR sind faschistische Kräfte erstarkt, deren Führungskader aus dem Westen kamen, beispielsweise von der nicht verbotenen NPD, weil man sie vielleicht noch brauchen kann.

Die Marktwirtschaft hat keine Moral, hat auch kein Mitgefühl und keine soziale Verantwortung, sie lässt die Menschen ohne irgendwelche Leitlinien mit ihrem Schicksal alleine.

Dies alles hatten die untergegangenen Regierungen in ihren Selbstdarstellung gegenüber der Bevölkerung als ihre Sache angesehen. Moral, scheinbares Mitgefühl und angebliche soziale Verantwortung, die Führung in eine bessere Zukunft. Das erwies sich zwar letztlich doch als ein Trugschluss, doch die Menschen vermissen nun einen solchen Staat, und zwar nun unter kapitalistischen Bedingungen, daher ihre Zuwendung zu klerikalen und nationalistischen Wortführer-Innen.

Die Kirchen oder anderen religiösen Organisationen, die faschistischen Kader, und als Bindeglied zwischen ihnen die konservativen PolitikerInnen, sie alle leben davon, dass sie sich in diesen Brachen ansiedeln, die durch der Zusammenbruch der bisherigen Wertevorstellungen entstanden sind.

Ob in Polen oder Russland oder in bestimmten Regionen der ehemaligen DDR, dort werden nun ganz gewisse Werte vertreten: Rassismus, religiöser Fundamentalismus, Unterdrückung der so genannten kleinen Leute, Unterdrückung der Frau, die an den Herd zurück soll, und natürlich Unterdrückung der Homosexuellen, die die so gut nutzbaren starre Zuordnungen Mann und Frau infrage stellen: die die zusammengekniffenen Arschbacken des “Helden für höhere Ziele” überwinden, die die Zuordnung der Frau als Gehilfin des Mannes nicht mehr einhalten.

Die dort immer noch unterdrückten homosexuellen Menschen glauben wohl an den Einfluss westlicher PolitikerInnen, denn sonst hätten sie vielleicht eine solche Demonstration ihres Mutes nicht gewagt. Westliche PolitikerInnen der zweiten Reihe können jedoch unter solchen Bedingungen nicht als Helden und Retter die Probleme lösen. Wie es jetzt aussieht, ist die Lage der Lesben und Schwulen in Russland erst einmal noch schlechter geworden.

Aber es ist sicherlich auch stolz über den Mut zu berichten, den die 100 bis 120 homosexuellen DemonstrantInnen hatten, trotz des Aufmarsches der Rechten. Für einen CSD, der übrigens in vielen Länder “Gay Pride” heißt, am 27. Mai 2007 in Moskau gibt es daher nun eher einen Grund mehr.
 
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