- 86. LUST, Frühlings-Ausgabe 06
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- Der unpolitische CSD ...
...wird zum Politikum, weil sich FundasmentalistInnen
darüber aufregen. Was ist der Hintergrund der neuen Aufgeregtheit
über den CSD?
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- Die Verblüffung über den großen
erfolgreichen Feier-CSD, die eine lange Zeit zur Sprachlosigkeit
führte, die ist zu einem allgemeines Geschimpfe mutiert.
Die unterschiedlichsten Leute schimpfen aus den unterschiedlichsten
Gründen über die unterschiedlichsten Erscheinungsformen
des CSD. Hier wollen wir ein bisschen sortieren, um uns Klarheit
zu verschaffen.
Und wir wollen dabei eines unserer Hauptziele nicht aus dem Augen
verlieren: das Bekämpfen der konservativen und religiösen
Moralapostel in der Gesellschaft, die nicht nur uns das Leben
schwer machen wollen, um über möglichst vielen Menschen
fundamentalistische Macht ausüben zu können.
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- Unsere Kritik am CSD (1)
Zugegeben, der CSD ist auch in unserer
Szene in Kritik. Solche Szene-Leute, die mit den Politischen
ohnehin nichts am Hut haben, könnten zufrieden sein. Sie
sind es aber auch nicht. Der Feier-CSD mit seinen Paraden und
öffentlichen Festen ist ihnen zu grell, zu ausgelassen,
zu homosexuell, zu sichtbar.
Das erinnert an Menschen im Coming-out, die die zweite Stufe
des Comings-outes noch nicht erreicht haben. Sie haben zwar akzeptiert,
dass sie offenbar so sind, aber die Maßstäbe
der Beurteilung unserer Szene sind noch so, als gehörten
sie nicht dazu. Gerade weil sie nun dazugehören, schauen
sie ängstlich mit dem Blick von außen auf das, was
sich ihnen nun als Szene offenbart. Und der Maßstab ihrer
Kritik ist das, was die Leute von außen vielleicht denken
könnten, zu denen sie ja bis vor einiger Zeit noch selber
gehörten. Noch sind die nichthomosexuellen, die ja auch
ein Stück anti-homosexuelle Urteile sind, in ihnen selbst
nicht überwunden. Die zweite Stufe ist erreicht, wenn man
gerade das Homosexuelle in sich als das liebenswerte und schöne
ansehen kann. Immerhin mögen die Heten auch das hetige in
sich, weil sie es als natürlich ansehen und nicht in Zweifel
ziehen, ohne missliebig auf sich selber zu schauen. Da muss man
als Lesbe und als Schwuler auch erst mal erreichen. Dann hat
man die zweite Stufe erreicht und das wirkt sich dann wie folgt
aus:
Die unterschiedlichen Eigenarten, die andere Lesben und Schwule
aufweisen, sind dann nicht mehr in erster Linie kritikwürdig
zu sehen, sondern als unterschiedliche Angebote darauf einzusteigen
oder auch nicht. Und was mir unerklärlich erscheint, erklärt
sich vielleicht mit den mehr oder weniger erfolgreichen Emanzipationsschritten
der Betreffenden. Und was andere gerne machen, gilt es zu akzeptieren,
auch wenn ich es nicht machen würde und so.
Das wäre das Resultat des gelungenen zweiten Schrittes.
Und dann wüsste man auch, dass der öffentliche CSD
ein Teil des individuellen Coming-outes für Viele ist, wo
man sich als homosexueller Mensch mal nicht zurücknehmen
muss, wie es im Leben immer noch von uns erwartet wird.
Wenn also jemand das sexuell aufreizende Verhalten einiger Homosexuelle
Menschen kritisiert, dann tut er das im Sinne der Moral solcher
Menschen, die uns allen keinen Spaß gönnen, und wenn
schon, dann sollen wir das wenigstens verstecken.
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- Unsere Kritik am CSD (2)
Die CSD-Veranstaltungen sind im wesentlichen
unpolitisch und haben mit den eigentlichen Ereignissen vom 27.
Juni 1969 im Stonewall Inn in der Christopher Street im Stadtteil
Greenwich Village in New Yorck nichts zu tun. Damals ging es
der Gay-Szene (Schwule, Lesben, Transen und Stricher) um die
ständigen Polizei-Razzien, um das polizeiliche Verbot für
Männer, Bestandteile von Frauenbekleidungen zu tragen, um
das Verbot, an Homosexuelle Alkohol auszuschenken und um einen
tragischen Selbstmord.
Es ging darum, so sein zu dürfen, wie man nun mal ist, und
endlich nicht mehr von der Polizei und selbsternannten Tugendwächtern
drangsaliert, gequält, verspottet zu werden. Der Aufstand
gegen die Polizei, die tagelangen Straßenschlachten mit
der Polizei, das alles hat in New Yorck zu einer Form des Selbstbewusstsein
geführt, der in den USA und GB durch alljährliche Gay-Pride-Parades
zum Ausdruck gebracht werden. Anfänglich war das auch in
Deutschland so.
Es ist bezeichnend, dass sich in Deutschland der eher anonyme
Titel CSD durchgesetzt hat, wie sich eben schwule Männer
hier auch lieber Gays nennen, den das immer noch gebräuchliche
Schimpfwort schwul wollen sie nicht anziehen, um
es zu einem anerkannten Wort zu machen.
Die politischen Lesben und Schwulen wittern hinter dem allen
eine Flucht statt der Demonstration des lesbisch-schwulen Stolzes.
Sie vermissen eine politische Kampagne statt einer kommerziellen
CSD-Industrie, und in den größeren Städten gib
es diese kommerziellen CSD-Betriebe, denn kleine Gruppen können
so etwas Großes nicht mehr organisieren, von dem Kostenrisiko,
das die Organisatoren auf sich nehmen müssen, ganz zu schweigen.
Gerade die unpolitische Feierszene hat die CSDs so groß
werden lassen, dass Partei-PolitikerInnen sich dort sehen lassen.
Gerade die Feierszene interessiert die Szene so, dass sie als
CSD-TeilnehmerInnen nichts verpassen wollen, gerade die Feierszene
lässt es zu, dass sich die vielen individuellen exhibitionistischen
Coming-out-Bewältigungen in einer Form ausleben können,
die wir von der Love-Parade in Berlin durch heterosexuelles Feierpublikum
kennen, man macht es ihnen gleich.
Die politischen Kritiker des unpolitischen CSDs müssen begreifen:
diese vielen Leute werden nie die aufmerksamen ZuhörerInnen
ihrer politischen Statements sein. Würden sie vor diesem
großem Publikum solche Reden halten, würden sich die
Leute in dieser Zeit damit vergnügen, sich gegenseitig anzubaggern
oder Ähnliches. Der CSD mit seinen Vergnügungen und
seinem Exhibitionismus wird nie der politische Aufmarsch unter
ihrer Führung sein.
Würden diese politischen Lesben und Schwulen realistisch
über politische Prozesse nachdenken (ich meine hier nicht
parteipolitisches Postenschachern), müsste für die
der CSD ein Bausteinchen einer größeren politischen
Strategie sein und nicht der Ersatz für eigenes politisches
Handeln.
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- Zusammenfassung unserer Kritik
Die einen von uns kritisieren den
Exhibitionismus unserer Szene, weil sie in Wirklichkeit (noch
?) nicht erkannt werden wollen, wie sie selber sind. Die anderen
verurteilen das Unpolitische und Kommerzielle, vielleicht auch
zum Teil aus dem gleichen Grund, und vielleicht auch, weil politischer
Kampf sauberer ist als Sex? Auf jeden Fall, weil das Feiern nichts
mit dem Anlass zu tun zu haben scheint. Die Feiernden so wie
die beiden Kritiker-Innen bewältigen so eine Phase des Coming-outes.
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- Die CSD-Kritik aus der Hetenwelt
Die im Prnzip 2 Kritikströmungen
aus unserer Szene sind argumentativ und von der Wortwahl her
auch die Kritikpunkte aus der Hetenwelt, obwohl diese Kritikpunkte
Ausdruck eines anderen Zusammenhanges sind.
Es sind ja nicht die Lesben und Schwulen, die das Hetenleben
ständig kritisieren oder die den Heten ihr Liebes- und Lebensrecht
absprechen wollen. Wir haben genug damit zu tun, uns trotz der
Hetenmoral in uns und der hetigen Ausrichtung aller gesellschaftlicher
Strukturen dennoch ein erträgliches eigens Leben zu erarbeiten,
und das gelingt eigentlich nicht wirklich, wenn man sich das
ganze Leben von Lesben und Schwulen anschaut und nicht nur die
Pubertierenden in ihren ersten Verliebtheiten, deren Probleme
dann gelöst zu sein scheinen, wenn die ersten Beziehungen
entstanden sind.
Nun gibt man sich im Lande derzeit tolerant, so lange wir artig
sind und alle Erwartungen der Gesellschaft erfüllen. Selten
hört man noch Drohungen in Richtung Vergasen oder Aufhängen
oder Totschlagen, andernorts noch immer, z.B. auch in den USA.
Unsere religiösen, nationalistischen oder konservativen
GegnerInnen sind nicht verschwunden, sie können es sich
nur nicht leisten, öffentlich mit Schwulenhass auftreten.
Lesbenhass ist nicht so in der Psyche dieser Heten eingegraben
wie der Schwulenhass, er stellt das Heten-Modell offensichtlich
nicht derart in Frage, dass sich lebensbedrohende Gewalt und
grenzenloser Hass gegen uns entladen muss. Irgendwie werden Frauen
in diesem Zusammenhang nicht für voll genommen, auch gerade
lesbische Frauen nicht, sofern sie keinem Mann im Wege sind.
Man mag uns Schwule (und oft auch uns Lesben) in der Rolle des
Opfers, in der Rolle des Menschen, der sich nie erfüllen
kann und darf, der unterwürfig ist, dem alle Wege verbaut
sind, den niemand wirklich mag, während den Heten alle Wege
zum Glück exhibitionistisch offen stehen.
Diese unterwürfigen Rollen der Schwulen werden nicht nur
in Spielfilmen oder Witzen augenfällig vorgegeben, sondern
auch im täglichen Leben, im Klassenzimmer, im Betrieb, im
Freizeitverein und im Altenheim. Wer traut sich dort noch, offen
schwul aufzutreten? Und diese unterwürfige und negative
Rolle des schwulen Mannes stabilisiert ein ganz bestimmtes heterosexuelles
Rollenbild. Aus diesem Schwitzkasten will Mann uns nicht rauslassen,
weil das diese Männer brauchen, wegen ihrer eigenen Problemen,
die in ihnen bei der Erfüllung ihres heterosexuellen Rollenbildes
entstehen. Und da der Mensch nicht von Natur diesem Männerbild
und auch nicht dem üblichen Frauenbild entspricht, deshalb
sind schwule Männer und zum Teil auch lesbische Frauen in
der niedrigen Rolle nötig, als psychischer Stabilisator
des ach so verletzlichen Rollenbildes der traditionellen Heten,
das angeblich natürlich sei.
Und nun die CSD-Paraden: Vielfache Arten schwuler Männer,
vom muskelbepackten Macho über Uniformierte und Männer
wie Du und Ich bis zu den unterschiedlichen Graden von demonstrierter
Weiblichkeit, alte Männer und jugendliche Exhibitionisten,
Frauen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Weiblichkeit,
von der herben Butch bis zur kokett lächelnden Femme, aufgetakelte
und gestylte, mit Abendkleidern, Ledergeschirr und freien Brüsten,
Frauen mit Rucksack, und mit Handtaschen. Und alle zusammen sind
in großer lustiger Feierstimmung zu sehen, alle sind offensichtlich
eine glückliche Familie. Alle sieht man/frau stolz und Selbstbewusst
auf und hinter den Wagen mit den großen Lautsprechern.
Das ist ein Tiefschlag, ein Schlag in die Eier solcher Hetenmänner
und in den Bauch solcher Hetenfrauen, die unsere Abwertung, unser
Unglück benötigen, um selber stolz auf sich sein können.
Solche Männer und Frauen werden mehr, nehmen in der Gesellschaft
zu, wenn konservative und religiöse Menschen mit ihrer Art
zu leben zunehmen, wenn Anpassung und Unterordnung statt Entfaltung
in jeglicher individueller Besonderheit auf der Tagesordnung
steht. Denn sie und ihre Art, ,solche menschlichen Monster werden
weniger, wenn individuelle Freiheit statt Unterordnung und Anpassung
in der Gesellschaft zunehmen. Und dazu können wir ja alle
beitragen, wo immer wir uns aufhalten: in denn Klassenräumen,
in den Betrieben usw. Es hilft u.a. dabei, dass wir einigermaßen
unbehelligt lieben und leben können.
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- Neue Heten-Kritiken am CSD
Konservative und religiöse MeinungsführerInnen
tauchen in letzter Zeit immer häufiger auf, die nicht direkt
den CSD weghaben wollen, die ihn aber auf vielfältiger Art
kritisieren. Am bekanntesten ist da die Kölner rechte Bürgerliste
pro Köln geworden, die im Kommunalwahlkampf
Unterschriften gegen den Kölner CSD sammelte, da dieser
die anwohnenden Bürger durch Lärm und die Anwesenheit
vieler Menschen störe, Kinder und Jugendliche durch sexuelle
Zurschaustellung und homosexuellen Exhibitionismus gefährde,
Aids verbreite, das Geschäftsleben störe und letztlich
nichts Politisches, sondern nur ein Fest einer verantwortungslosen
Spaßgesellschaft sei. Diese Liste behauptete das alles
nicht vom Rosenmontagszug, sondern eben von der CSD-Parade. Interessant
war, dass diese Liste in der Innenstadt, die von der CSD-Parade
betroffen ist, kaum gewählt wurde, aber Erfolge in der armen
Vorstädten hatte. Interessant ist auch, dass wir (LUST)
eine E-Mail-Kritik für die Darstellung diese Vorganges in
der LUST erhielten, die (von einem homosexuellen Mann verfasst,
an unserer Darstellung vielerlei Kritik übte, die in Wirklichkeit
an die schwule Szene für ihr CSD-Verhalten gerichtet war)
dieser rechten Partei Recht gab. (Siehe Briefe in
der 82. LUST, Frühling 05.)
Am Bezeichnendsten ist vielleicht die Kritik aus Kirchenkreisen
und aus dem Inneren der CDU an den Baden-württembergischen
Sozialminister Renner (CDU), der letztlich zurücktreten
musste.
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- Eine ganz normale Schirmherrschaft zum
CSD Stuttgart 2005 und die Folgen.
Es sind nicht die politischen Parolen,
die den Konservativen ein Dorn im Auge ist. Sondern gerade das
exhibitionistische, das selbstverständlich Ausgelassene
der Paraden und Feiern. Ob in Polen oder in Stuttgart, die Konservativen
reiben sich daran, und mit im Boot sich da auch die Kirchen,
besonders die katholische Kirche, die im Weltmaßstab eine
Allianz mit den islamischen Kräften der Welt gegen die Homosexualität
bildet.
Durch das scheinbar Exhibitionistische dieser Paraden wird der
Stolz auf die eigene Sexualität zur Schau gestellt, und
das oftmals sehr werbeträchtig und faszinierend. Was schwulen-
oder auch lesbenfeindliche Heten stört, ist nicht, dass
wir schwul oder lesbisch sind, sondern sie stört unsere
gelebte Sexualität, eben die Homosexualität, die lustvoll
ist und sie offensichtlich in ihrer Identität irritiert.
Es scheint, als sei dies für sie eine derart große
Anfechtung, dass sie zum Beispiel schwule Männer überfallen
müssen, besonders solche, die auch für sie attraktiv
sind, dass sie sogar mache schwule Männer gemeinsam quälen,
foltern und ermorden. Das ist nämlich für sie eine
unangemessene Situation, wenn wir offen und stolz das Sexuelle
des Schwulseins vertreten statt uns dafür zu schämen.
Und manche schwule Männer, die diese seltsamen doppelmoralische
Heten-Ideologie noch nicht völlig überwunden haben,
die vielleicht selber konservativ sind, können die Heten
besser verstehen als die exhibitionistischen ausgelassenen Schwulen,
die darüber hinaus noch derart massenhaft auftreten, dass
man sie auch nicht so einfach überfallen und zusammenschlagen
kann.
Das Recht auf unsere ausgelassenen Feste, einmal im Jahr, dieses
recht sollten wir nicht aufgeben und uns schon gar nicht nehmen
lassen. Kommt noch das Argument mit Kindern und Jugendlichen,
die dadurch irritiert werden könnten. Das fehlt gerade noch.
Sie werden nicht irritiert durch die Love-Parade in Berlin, nicht
durch die Disco-Events und die Heten-Softpornos. Sie werden auch
nicht durch verschiedene Erscheinungsformen der Gewalt und der
Witzes gegen nicht-richtige Männer und nicht-richtige
Frauen Das ist ja alles normal. Sie könnten
die Lust an der Homosexualität verstehen, statt diese in
sich und in anderen zu bekämpfen, fürchten die selbsternannten
JugendschützerInnen. Schon immer waren mir die verdächtig,
die ständig die Armen verteidigen und in ihrem
angeblichen Sinne in Wirklichkeit die eigenen Ziele vertreten.
Deshalb ist der CSD selber das Politikum, egal wie er ausgerichtet
ist.
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- Im Zusammenhang der Vorbereitung des CSD
2006 und in Hinblick auf die Landtagswahl am 26. März 2006
in Baden-Württemberg sandte am 28.01.06 die Interessengemeinschaft
CSD Stuttgart e.V. folgende Mail an die lesbisch-schwule Presse:
Schirmherrschaft zum Christopher Street Day, CSD Stuttgart
bedauert Andreas Renners Rücktritt, Falsches Signal zur
Landtagswahl Wahlkampf auf dem Rücken von Schwulen
und Lesben
Der gestrige Rücktritt des baden-württembergischen
Arbeits- und Sozialministers Andreas Renner (CDU) stößt
innerhalb der IG CSD Stuttgart e.V. auf Unverständnis. Dass
ein Gespräch aus dem vergangenen Juli und das Grußwort
zu einem schwul-lesbischen Event nun Andreas Renners politische
Karriere beendet, zeigt ganz deutlich was hier gespielt wird
nämlich Wahlkampf mit allen Mitteln, fasst
Christoph Michl, Vorstand und Gesamtleiter des CSD Stuttgart,
seinen Unmut zusammen. Und das auf Kosten einer ohnehin
schon diskriminierten Bevölkerungsgruppe. Andreas Renner
hat mit seiner umstrittenen Schirmherrschaft endlich Bewegung
in die verkrustete konservative CDU gebracht. Kurzzeitig war
ein Hauch von Aufbruch zu spüren, so der Vorstand.
Nach seinem Rücktritt ist zu erwarten, dass erneut
der Muff der vergangenen Jahrzehnte einkehrt. Leider sind verknöcherte
Strukturen und realitätsferne Ansichten nur schwer zu durchbrechen,
vorher muss anscheinend ein Minister seinen Hut nehmen. Dies
ist mehr als bedauerlich für Baden-Württemberg.
Die IG CSD Stuttgart e.V. möchte Andreas Renner noch einmal
nachdrücklich für die Übernahme der Schirmherrschaft
danken. Besonders sein Rückgrat, auch heikle Themen
anzugehen und zu getroffenen Entscheidungen zu stehen, rechnen
wir ihm hoch an, so Michl. Sicherlich waren einige der
Formulierungen, die Andreas Renner hier und da gewählt hat
nicht immer ganz glücklich keine Frage. Aber er hat
oftmals genau das ausgesprochen, was breite Schichten der Bevölkerung
gedacht haben. Für die homosexuelle Bewegung in Baden-Württemberg
hat Renner in jedem Fall einen Stein ins Rollen gebracht, der
so schnell nicht mehr zu stoppen ist. Dafür danken wir ihm
sehr herzlich. Stellvertretend für viele möchten wir
uns aber auch bei ihm, seiner Frau und seiner Familie für
alle Unannehmlichkeiten, Beleidigungen und Anfeindungen entschuldigen,
die mit seiner Schirmherrschaft zum CSD 2005 in Verbindung stehen.
Allen Kritiker soll gesagt sein: Durch den unschönen Wirbel
um die Schirmherrschaft und letztendlich durch Andreas Renners
Rücktritt werden Schwule und Lesben noch mehr bestärkt,
weiterhin für eine offene Gesellschaft auf die Straße
zu gehen. Gerade in Baden-Württemberg gilt es, selbstbewusst
aufzutreten und für gleiche Rechte von homosexuellen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern zu kämpfen. Dazu bietet der diesjährige
Christopher Street Day vom 11. bis 20. August 2006 jede erdenkliche
Gelegenheit, motiviert Christoph Michl zu mehr Akzeptanz
im eher als konservativ verschrienen Baden-Württemberg.
Andreas Renner hatte im vergangenen Jahr die Schirmherrschaft
des Christopher Street Day (CSD) in der Landeshauptstadt unter
dem Motto Familie heute übernommen. Dafür
erhielt er vor allem aus konservativen CDU Kreisen und
dem kirchlichen Umfeld immer wieder verbale Prügel.
Ein Wortgefecht mit dem katholischen Bischof Gebhard Fürst
kostete Andreas Renner jetzt, sieben Monate nach seinem Auftritt
auf der CSD Eröffnungsgala, das Amt. (...)
-
- Was die Konservativen so erbost
Dem Rücktritt vorausgegangen
ist wohl eine konservative Kampagne gegen das Sozialministerium
und den Sozialminister, der sich wagte, statt zufrieden grinsend
die übliche offene oder versteckte anti-homosexuelle Demagogie
zu betreiben, den Konservativen Baden-Württembergs ihre
reaktionäre Heimat nahm. Ausgerechnet der CDU-Minister verhielt
sich sachlich und aufgeklärt.
www.queer.de schrieb: Das Sozialministerium ist nach Bekanntgabe
der Schirmherrschaft mit bösen Briefen eingedeckt worden.
Renner schlage eine Ablehnung entgegen in einer Form, wie
ich sie nur von vor 60 Jahren kenne, zitiert die Stuttgarter
Zeitung den Minister. Er unterhöhle die altbewährte
Familie und praktiziere primitive linksliberale Zeitgeisthascherei,
wird ihm vorgeworfen. Auch Parteifreunde schlugen offen auf den
46-Jährigen ein. Der Abgeordnete Karl Zimmermann befürchtete
schon, dass das C im Parteinamen durch Christopher
ersetzt werde. An die Spitze der Traditionalisten setzte sich
der 39-jährige Fraktionschef Stefan Mappus: Er bezeichnete
den CSD in der Pforzheimer Zeitung als abstoßend
- die Forderungen seien ebenso überzogen wie die frivole,
karnevaleske Form - der gebürtige Pforzheimer scheint
züchtiges Fasching-Feiern dem lebensfrohen Karneval vorzuziehen.
Trotz der Kritik gab das Sozialministerium bekannt, dass es trotz
der Proteste an der Schirmherrschaft festhalte. Natürlich
ist die Unterstützung allein nicht viel wert; Baden-Württemberg
ist nach wie vor eines der rückständigsten Länder
in punkto Homo-Rechte. So müssen sich in einigen Landkreisen
heiratswillige Schwule und Lesben im KfZ-Zulassungsamt das Ja-Wort
geben. Dennoch: Wenn sich auch die CDU langsam öffnet, steigt
auch die gesellschaftliche Akzeptanz. Dem diesjährigen
Christopher Street Day wünsche ich gutes Wetter, auch im
übertragenen Sinn, so Renner in seinem CSD-Grußwort
und soweit der Kommentar von Queer.
Dass Renner den Begriff Familie nicht religiös,
sondern ganz sachlich als zusammenlebende Gemeinschaft verwendete,
rief anscheinend die Kirchenführung auf den Plan. Hier nun
das Grußwort, dass die Konservativen in der CDU und den
Bischof derart erbost hat:
-
- Schriftliches Grußwort von Herrn
Minister für Arbeit und Soziales Andreas Renner anlässlich
des Christopher Street Day 2005 in Stuttgart
Der Christopher Street Day in Stuttgart stellt mittlerweile
eine Institution in der Stadt dar. Die jährlich steigenden
Besucherzahlen zeigen, dass es gelingen kann, Hemmschwellen gegenüber
der homosexuellen Minderheit abzubauen und Offenheit der Bevölkerung
für die Belange homosexueller Menschen zu erreichen. Dies
ist wichtig, damit in einem Klima der Toleranz Ausgrenzung und
Diskriminierung wirksam begegnet werden kann.
Das Motto der Veranstaltung Familie heute will auf
die Lebenswirklichkeit hinweisen, in der es auch homosexuelle
Menschen mit Kindern gibt. Diese Männer und Frauen tragen
Verantwortung, die sich aus ihrer Elternschaft oder Stiefelternschaft
ergibt. Wo immer die Sorge für Kinder verantwortungsvoll
gelebt wird, ist es richtig, diesen Einsatz wertzuschätzen.
Alle Eltern haben diese Pflicht und andererseits zu Recht die
Erwartung, in ihrer Erziehungs- und Betreuungsaufgabe unterstützt
zu werden. Dies gilt für allein erziehende Elternteile ebenso
wie für Stieffamilien, Pflegefamilien und auch Väter
und Mütter, die sich neu orientieren und ihr Leben mit einem
gleichgeschlechtlichen Partner oder einer Partnerin teilen. Im
Vordergrund steht das Wohl der Kinder. Ihre Entwicklung zu verantwortungsvollen
Persönlichkeiten liegt in entscheidender Weise in den Händen
der direkten Bezugspersonen. Wer sich dieser Elternaufgabe weiterhin
mit voller Kraft widmet, verdient gesellschaftliche Anerkennung
und nicht Ausgrenzung. Dies gilt auch für die neuen Partner
und Partnerinnen, die sich in diese Aufgabe hineinfinden und
ganz bewusst ihren Beitrag zum gemeinsamen Leben leisten wollen.
Wir wissen jedoch alle, dass diese Sichtweise noch nicht zum
Allgemeingut gehört. Berichte über die Stigmatisierung
von Kindern wegen der Lebensweise ihrer Eltern zeigen, dass bei
Erwachsenen und auch bei Heranwachsenden noch viel Verständnis
geweckt werden muss. Erwachsene können sich meist mit anders
Denkenden auseinander setzen. Kinder sind dagegen vielfach schutzlos
offenen oder subtilen Diskriminierungen ausgesetzt. Es geht nun
darum, im Interesse der Kinder dafür zu werben, dass jeder
verantwortungsvolle Umgang mit ihnen unseren Respekt verdient.
Alle Kinder lieben ihre Eltern und wollen mit ihnen in Frieden
leben. Helfen wir ihnen dabei, dieses Ziel zu verwirklichen.
Die gewählte Lebensform ihrer Erziehungsberechtigten darf
dabei kein Hindernis sein.
Dem diesjährigen Christopher Street Day wünsche ich
gutes Wetter, auch im übertragenen Sinn! Ich hoffe, dass
es Ihnen gelingt, Toleranz in unserer Gesellschaft zu befördern,
Kenntnis über und Verständnis für Ihre Partnerschaften
zu wecken und das Leben mit Ihren Kindern so zu gestalten, dass
es für alle Beteiligten als Gewinn betrachtet wird.
Andreas Renner, Minister für Arbeit und Soziales
-
- Kirchenstreit?
Nicht das Grußwort und nicht
die Schirmherrschaft hätten dazu geführt, dass Renner
zurücktreten musste, sondern seine Entgleisungen gegenüber
dem Weihbischof Renz und dem Bischof Fürst. Man kann annehmen,
dass diese beiden mächtigen geistlichen Herren auf Renner
eingeredet haben, und was sie gesagt haben, ist nirgends zu erfahren.
Nur seine Entgleisung kann man herausfinden.
Bei Wikipedia kann man lesen: Innerhalb seiner Partei und
bei vielen Konservativen war Renner umstritten, da er als erster
christdemokratischer Minister in Baden-Württemberg die Schirmherrschaft
über den Christopher Street Day in Stuttgart übernommen
hatte. Seine Unterstützung für die Veranstaltung sei
Grund eines Gesprächs mit dem Weihbischof der Diözese
Rottenburg-Stuttgart, Thomas Maria Renz, im Juli 2005 gewesen,
bei dem auch der Bischof Gebhard Fürst zugegen war. Als
sich Fürst in das Gespräch einschaltete, soll Renner
erklärt haben: Halten Sie sich da raus, fangen Sie
doch erst einmal damit an, Kinder zu zeugen. Renner selbst
behauptete, er habe lediglich gesagt: Dann lassen Sie erst
mal zu, dass Priester Kinder zeugen. Der andere Wortlaut
wurde jedoch vom Sprecher des Bischofs bestätigt. Trotz
einer Entschuldigung Renners bei Fürst und eines Schlichtungsgesprächs
im Beisein Günther Oettingers trat Renner am 27. Januar
2006 von seinem Amt zurück.
Man braucht nicht in die islamische Welt zu schauen, um zu belegen,
was den Einfluss der Religionen auf die Politik betrifft. Das
ganze Stück, ,diese ganze Begebenheit kann ein Lehrstück
sein, das uns davon überzeugen kann, dass der lesbisch-schwule
Freiheitstag, der CSD, früher Gay-Pride-Day genannt, alleine
durch seine Existenz ein Politikum ist, auch wenn er von außen
spaßig und lustvoll aussieht. (js)
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