- 86. LUST, Frühling 06
- Die Sexrevolte der 68er
Wie war das denn überhaupt und wie
haben Beteiligte das erlebt? Um was ging es damals und was ist
der Trend heute? Über das Selbstverständnis der Menschen
einer Generation, ihr Lebensglück betreffend.
-
- Die Sexrevolte war gar keine
Gerade der Mediendonner der Bildzeitung, die damals gegen studentische
Kritik an verschiedenen Erscheinungsformen der langjährigen
konservativen Politik ganz besonders scharfe Volksverhetzung
betrieb, gerade dieses ständige Trommelfeuer gegen alles,
was ein wenig nach individuelle Freiheit roch, zwang der gesamten
Bevölkerung eine Diskussion über das Für und Wider
der Handlungen kleiner linker studentischer Zirkel auf.
-
- Die Bundesrepublik Deutschland unter damaliger
konservativer Politik
Was heute Wenige wissen ist, wie das
Leben vor der 68er Revolte war. Und die Revolte, die eine ganze
Generation junger Menschen ergriff, richtete sich gegen alle
Bereiche, die eine gesellschaftliche Struktur ausmachen, von
der Erziehung der Kinder und Jugendlichen, von der Ehemoral und
den Familienzwängen über den Umgang in der Gesellschaft
miteinander, der Reduzierung der Frau auf die Mutter- und, etwas
doppelmoralischer und verlogener auf die Sexobjektrolle bis hin
zur konservativen Außenpolitik, indem man die Politik der
USA und der alten Kolonialmächten gegen alle Unabhängigkeitsbestrebungen
unterstützte.
Dies reihte sich in eine ganze Kette von Unruhen und Bewegungen
ein die in den westlich Industriestaaten auf der ganzen Welt
zu spüren war, und mache meinen, dass der sogenannte Prager
Frühling auch in diese Kette von Unruhen zu zählen
sei. In jedem Land ging es natürlich auch um die dort vorliegenden
speziellen Missstände.
Die Justiz und die Verwaltung waren voll aus dem vorherigen Hitlerstaat
übernommen, denn nun hatte man ja im Zeichen des Kalten
Krieges gegen links zu sein. Ebenso ging es mit dem auswärtigen
Amt. Und so konnte es schon vorkommen, dass ein Bundesbürger
aufgrund von ihm erhobener gewerkschaftlicher Forderungen oder
seiner gesellschaftskritischen Einstellung den Vorwurf bekommen
konnte, in Wirklichkeit kommunistischer Gesinnung zu sein, und
kommunistisch zu denken, war verboten.
Engagierte Menschen sahen, dass Herr Globke aus Hitlers Propagandaministerium
in Adenauers Kabinett aufgenommen wurde, dass Größen
aus Nazistaat und Nazipartei zum Beispiel Ministerpräsidenten
von Bundesländern wurden, dass Kanzler und sogar ein Bundespräsident
eine Nazi-Vergangenheit hatten. Die ehemaligen Widerstandskämpfer
gegen den Nazistaat richteten sich, gesellschaftlich isoliert,
in ein eher kärgliches Leben ein, viele der Nazigrößen
saßen in den Schlüsselpositionen der jungen Bundesrepublik.
Und Nazi-Vergangenheit bedeutete ja nicht, dass man damals, im
Tausendjährigen Reich, lautstark auf der Straße Nazi-Sprüche
rief, im Nazi-Staat ging es um die Ermordung und Unterdrückung
aller aufrechter Menschen, es ging um rassistisch, nationalistisch,
religiös und sexistisch gerechtfertigten Mord an ganzen
Menschengruppen.
Was uns schwule Männer betrifft, galt in der jungen CDU/CSU-Bundesrepublik
der von den Nazis verschärfte § 175 StGB einfach weiter.
Mannmännliche sexuelle Handlungen waren allesamt verboten,
was zu zehntausenden Verhaftungen und Verurteilungen (mehr als
in der Nazizeit) führte. Ein polizeiliches Spitzelwesen
existierte an unseren Treffpunkten mit Polizisten als Agent
Provokateur (Polizisten, die sich schwul stellten, eindeutige
Angebote machten und dann die Leute verhafteten).
Freunde wurden unter Druck gesetzt, bis sie ihre ungesetzlichen
Taten, die widernatürliche Unzucht genannt
wurden, zugaben und ihre Partner benannten. Es gab Rosa
Listen bei der Polizei, die aus der Nazizeit stammten und
einfach weiter geführt wurden, in denen potentielle
Kriminelle aufgelistet wurden, denn jeder Mann, der der
Homosexualität verdächtig war, konnte ja in seinem
Leben irgendwann mal Sex haben und war damit ein Krimineller
und Sexualverbrecher. Lesben wurden einfach verschwiegen.
Das alles führte zu Erpressungen durch eine andere Szene,
die kriminell von der Notlage der Schwulen lebte, und zu zahlreichen
Selbstmorden. Und das führte auch zu Morden durch aufgehetzte
Bürger an Schwulen, viel häufiger als heute, und die
Mörder konnten sich teilweise noch rechtfertigen, es ginge
ihnen um das allgemeine Wohl oder sie seien angeblich angemacht
worden usw.
Bei vielen schwulen Männern überwog die Angst, es waren
dies andere Menschen mit einer anderen Identität, als wir
sie heute bei selbstbewussten Schwulen kennen. Viele lebten Tarn-Ehen
und sehr viele von ihnen standen in den einschlägigen Lokalen
rum und beschimpften die neue Schwulenbewegung der schwulen 68er
Studenten, die doch nur die Aufmerksamkeit auf uns lenken würde.
Das Bundesverfassungsgericht fand, dass das Konzentrationslager
für Schwule kein nationalsozialistisches Unrecht
gewesen sei, sondern schlicht eine Bestrafung für kriminelle
Handlungen. Das Bundesverfassungsgericht fand auch, dass der
§ 175 StGB zum Schutz der Jugend und der Ehe existiere und
nicht verfassungswidrig sei, obwohl er homosexuelle Männer
anders behandelte als homosexuelle Frauen, denn schon die Form
der Geschlechtsorgane würde Männer zu Triebtätern
machen, während lesbische Frauen, die weder in der Nazizeit
noch in der Adenauer-Republik staatlich verfolgt wurden, aufgrund
ihrer Geschlechtsorgane leichter enthaltsam leben könnten
und auch ihrer Pflicht als Mutter nachkommen würden.
Das waren die Zustände, die durch die 68er Revolte bekämpft
wurden und durch die Revolte und ihre Anhänger letztlich
auch schrittweise zurückgedrängt wurden. Das heißt
aber nicht, dass sich unter den 68ern keine Schwulenfeinde befanden.
Es gab nämlich kein geschlossenes Weltbild der Revoluzzer.
Die Sexualität überhaupt war nur in der Ehe möglich
und erlaubt. Eltern, die zuließen, dass ihre Kinder als
unverheiratete Jugendliche in ihrem Haus oder ihrer Wohnung Sex
hatten, wurden wegen Kuppelei verfolgt und bestraft.
Die Unterstützung der konservativen Bundesrepublik für
den amerikanischen Vietnamkrieg war einer der Auslöser der
68er Revolte. Die Jugendrevolte war von Anfang an politisch,
antiimperialistisch, antinationalistisch und sowohl anarchistisch
wie auch sozialistisch. Nehmt Euch die Freiheit, sonst
kommt sie nie, hieß es, und so handelten wir auch.
Es ging auch um Wohnraum für junge Menschen. Einerseits
war die soziale Kontrolle der jungen Menschen durch die Eltern
und später EhepartnerInnen beabsichtigt und erwünscht,
so dass junge Leute sich einfach eigenen Wohnraum erstreiten
wollten. Man wollte mit anderen Gleichgesinnten zusammenwohnen
und gründete Kommunen und Wohngemeinschaften, wo dies möglich
war. Dann wurden viele bürgerlichen Häuser im Wirtschaftsboom
abgerissen, um Platz für Büroräume zu schaffen.
Das ruinierte kleine Stadthausbesitzer und führte vor allem
dazu, dass Mieter großer Stadtwohnungen in die Plattensiedlungen
am Stadtrand verdrängt wurden. Es entstand der sogenannte
Häuserkampf mit dem Schulterschluss zwischen den Wohnraumsuchenden
Jugendlichen und Mietern, die in Häusern wohnten, die von
Spekulanten entmietet wurden.
Im Frankfurter Westend gab es zum Beispiel den Häuserkampf,
an dem auch gutbürgerliche Menschen teilnahmen, deren Mietshäuser
abgerissen wurden. Sie bildeten die Infrastruktur bei den Straßenkämpfen.
Selbst in den Kirchen in dieser Gegend fanden die Straßenkämpfer
teilweise Schutz vor der Polizei, und wenn wieder mal ein Haus
brutal von den Schlägertrupps der Spekulanten entmietet
wurde, machten sie großen Wirbel auch in den Medien, weil
die zu Hilfe gerufene Polizei erst nach einer Stunde auftauchte,
ob wohl sie ja auch schneller kommen konnte, nämlich dann,
wenn Häuserkämpfer die Entmieter bei ihrer Arbeit störten.
So wie unsere Eltern (und die Eltern der anderen linken Studenten
und bewegten Jugendlichen) wollten wir nicht sein, das war klar.
Sie hatten sich in den Aufbaujahren der Nachkriegszeit nichts
gegönnt außer der sogenannten Fresswelle, und ihre
Vergnügungen bestanden im alljährlichen Auftrieb über
Neckermann nach Italien und später auch Spanien. Sie waren,
durch die 50er Jahre beeinflusst, unglaublich spießig und
verklemmt. Sie hatten (zumindest die meisten von ihnen) in den
Kriegsjahren gelernt, wie man hamstert, spart, nicht auffällt
und sich an alle Obrigkeit anpasst. Ihre Ideale waren nicht,
eine gesellschaftspolitische Vision zu entwickeln, weil ihnen
alles Gesellschaftliche und Politische suspekt war. (Einige von
ihnen waren zumindest ernsthafte Antifaschisten, doch auch diese
waren nun Kinder der gleichen Moral.)
Die meisten Menschen dieser Generation wollten, zumindest war
dies der in den Medien vertretene Standart, persönlich im
Rahmen der Marktwirtschaft so viel wie möglich erreichen,
Karrieren machen und uns, den Nachwuchs, zu unpolitischen Karrieristen
erziehen, die persönlichen Träume von Erfüllung
dem wirtschaftlichen Vorankommen unterwerfen.
Selbst wenn sie nur ArbeitnehmerInnen in untergeordneter
Stellung waren, solide ihrer Arbeit nachgingen und es nicht zum
Eigenheim gebracht hatten, selbst dann wollten sie, dass wir
es einmal besser hätten als sie, dass wir Karriere
machen sollten. Damals war ein solches Ansinnen auch oft von
Erfolg belohnt, weil es in der Wirtschaft voranging. War dies
vielleicht auch der Grund unserer eigenen wirtschaftlichen Sorglosigkeit?
Die 68er Revolte richtete sich auch gegen den unerklärten
aber blutigen Vietnamkrieg der Amerikaner und die deutsche Außenpolitik,
die den Krieg und zum Beispiel das blutige Schah-Regime unterstützte.
Bei den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch 1967 wurde der
demonstrierende Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Kurras
erschossen. Er habe sich in putativer (nicht wirklicher aber
doch irgendwie potentielle) Notwehr befunden, hieß es in
seinem Freispruch. Das alles radikalisierte die Auseinandersetzungen
immer mehr. Man darf nicht vergessen, dass wir uns als Teil einer
weltweiten Bewegung empfanden, zusammen mit den Studenten im
kalifornischen Berkeley und in Paris, wo es den Studenten dort
gelang, zusammen mir Gewerkschaften und Teilen der Arbeiterschaft
den Staat derart zu erschüttern, dass dort erwogen wurde,
Militär einzusetzen.
Auch die konservativen Kalten-Kriegs-Parolen taten ihr Übriges,
denn weil vieles derart verlogen war, was uns gesagt wurde, glorifizierten
wir die Zustände in Osteuropa. Und heute entdecken wir im
Gespräch mit Menschen aus Osteuropa, dass ihr Leben tatsächlich
nicht derart schlimm war, wie man uns weismachen wollen, aber
wirklich bei weitem nicht so war, wie wir es für uns erträumten.
Schüsse auf Rudi Dutschke, die hetzende Springerpresse,
Mord an den Kennedys und an Martin-Luther-King, all das radikalisierte
die Szene, weil man das auch auf sich bezog.
Einige der Revoluzzer verstiegen sich in die Auffassung, dass
dies ein Bürgerkrieg sei und dass sie die Kämpfer gegen
den Staat insgesamt seien und dass sie es mit dem Staat und ihren
Organen aufnehmen müssten. Das spaltete die 68er Revoluzzer,
weil ihnen nur ein sehr kleiner Teil der Szene dabei folgen wollte
und es so sah. Überhaupt hat die immer höher aufgeschaukelte
Gewalttätigkeit von beiden Seiten (Staatsorgane und Revoluzzer)
zahllose Romantiker einer schönen demokratischeren und sozial
gerechteren Welt abgeschreckt, andere in die entstehenden K-Gruppen
getrieben, die sich maoistisch und stalinistisch gaben, was angesichts
ihrer Bedeutungslosigkeit etwas sektiererisches hatte.
Die Jusos zum Beispiel gaben die Parole aus, den Gang durch die
Institutionen wagen zu wollen, das heißt, dass man eine
Veränderung der Gesellschaft dadurch hinkriegen wollte,
indem man versuchte, in solche Schlüsselpositionen zu kommen,
von denen aus man die Zustände verbessern könnte. Es
zeigte sich aber, dass viele der höheren Posten nur zu erringen
waren, wenn man die entsprechende menschenverachtende und konservative
Gesinnung dazu hatte, und die galt es auch durch Taten unter
Beweis zu stellen. So erreichten viele 68er zwar führende
Positionen in Gesellschaft und Wirtschaft, aber von ihrem Wirken
auf diesen Plätzen war man in der Szene allgemein enttäuscht.
Dennoch war die Gesellschaft nach der Studentenrevolte, der 68er
Revolte, der Sexrevolte und wie man das alles noch nennen mag,
nicht mehr die gleiche wie vorher. Bis in die hintersten Winkel
im finstersten Bayern drangen neue Gedanken und drang neuer Lebensmut
durch.
Die kommerzielle Kulturszene und die Medien machten zwar ein
unpolitisches Revoluzzertum aus den Auseinandersetzungen dieser
Jahre, aber das, was frech, selbstbewusst und erotisch zum Beispiel
über das Fernsehen und in den Kinos bis in die tiefsten
Winkel der Republik verbreitet wurde, hatte dennoch politische
Auswirkungen.
Ich kann mich noch an einige Szenen als 16- oder 17Jähriger
erinnern, wie ich damals in Südbayern in der Nähe von
Lindau eine Zeitlang auf einem Bauernhof lebte. Die alte Bäuerin
beklagte sich, dass in Isny immer mehr Evangelische leben würden,
worauf der Sohn meinte, dass dies doch auch Menschen seien. Ich
kann mich erinnern, wie wir mit dem Gogomobil nach Isny ins Kino
fuhren und dort Filme mit Conny und Peter (Kraus) sahen, deren
Kessheit (die hier heute nur Gelächter hervorrufen würde)
dort in dieser Zeit absolut revolutionär waren.
Die Sprüche, die auch ich als Jugendlicher in diesem Alter
von Eltern und anderen Erwachsenen zu hören bekam, waren
bis dato: Lass dir die Haare schneiden (männliche Jugendliche
mit langen Haaren wurden bisweilen an diesen Haaren übers
Straßenpflaster geschleift), höre nicht diese Negermusik
(Rock usw., eine eigentliche Jugendkultur und Jugendmusik gab
es hier nicht), bei Adolf hättest du so nicht rumlaufen
dürfen (und, was sollte das heißen? Doch wohl dass
der Nazi-Staat immer noch als Beispiel hoffähig war), führ
dich nicht auf wie in einer Judenschule, und anderes mehr.
Die gesamte Gesellschaft war gespalten, in heimlichen und offenen
Sympathisierenden mit den gesellschaftlichen Umwälzungen
und in Gegnerinnen dieser Revolte. Und die heimliche Sympathie
der Gegnerinnen dieser Revolte für den vergangenen Nazi-Staat
stand im Gegensatz zur heimlichen oder offenen Sympathie für
jeden kleinen Erfolg der anti-kolonialen Bewegungen und manchmal
auch den Staaten in Osteuropa.
-
- Formen des Widerstandes gegen die konservative
Politik
Wir Anhänger, Mitläufer und/oder Sympathisierenden
und letztlich auch profitierenden dieses gesellschaftlichen Wandels,
wir mussten beobachten, dass die rechtsgerichteten Militärdiktaturen
(den spanischen Franko-Staat, In Portugal unter Salasar, in Griechenland
der Obristen, Chile usw.) sowie Rassistenregimes (Südafrika)
in der Welt durch die USA und eben durch die konservative CDU/CSU-Regierung
unterstützt wurden.
Das waren die selben Leute, die Frauen benachteiligten und in
die Mutterrolle drängten und die homosexuelle Männer
verfolgen und einsperren ließen. Wir sahen da Zusammenhänge
im Umgang mit uns und mit den Menschen auch in anderen Bereichen
der Welt. Und je mehr gegen uns gegiftet wurde, und je mehr sich
Menschen auf der Seite der RassistInnen usw. gegen uns outeten,
begriffen wir, wer unser GegnerInnen sind und welches Weltbild
sie vertraten.
Man darf nicht übersehen, dass es für diesen gesellschaftspolitischen
Wandel nicht nur das subjektive Empfinden einer ganzen Generation
gab, sondern dieser Wandel hatte in der Wirtschaft seine Entsprechung.
Durch die Kalte-Kriegs-Haltung der regierenden Konservativen
bis hin zum krassen Nationalismus gab es seinerzeit auch keine
Möglichkeiten für Unternehmen, mit osteuropäischen
Staaten Geschäfte zu machen, wie es unsere westlichen Nachbarländer
längst taten. Eine Grundlage des Handels mit dem Osten war
die Anerkennung der DDR, was die konservativ regierte Bundesrepublik
aus nationalistischen Gründen nicht vollzog. Erst nach dem
Regierungswechsel fand durch Brandt eine Mini-Anerkennung statt,
was Verträge und wirtschaftliche Verknüpfungen mit
westdeutscher Unternehmen ermöglichte, die längerfristig
das Gefüge in Osteuropa veränderte und den Zusammenbruch
vorbereitete.
In den Nachkriegsunternehmen der Bundesrepublik spielte sich
auch ein Wandel ab: Die Gründerväter der neuen Unternehmen
mussten zu Kenntnis nehmen, dass sie von alteingesessenen Vorkriegsunternehmen
Zug um Zug aus den Lücken verdrängt wurden, in denen
sie in der Nachkriegszeit entstehen konnten. Entweder sie gingen
unter, oder sie wandelten sich vom väterlichen Unternehmensgründer
zum managergeführten Unternehmen um, die dann mit den verflochten
wurden. Der gesellschaftliche Wandel war also in Maßen
auch von der Wirtschaft erwünscht.
In der konservativen Gesellschaft der Adenauer-Erhard-Kiesinger-Zeit
(CDU/CSU-Bundeskanzler) hing aus unserer Sicht eines am anderen.
Die rassistischen Argumente gegenüber den Völkern in
der sogenannten 3. Welt wie die Verfolgung und Verurteilung der
Schwulen, der Diskriminierung der Frau und der Schulterschluss
mit den Kirchen, die ewige soziale Kontrolle der
Jugend bis hin zur verlogenen doppelten Ehe-Moral.
Und daher wurde von uns auch alles infrage gestellt, von der
Wirtschaftsordnung über der imperialistischen Weltordnung,
von der staatlich durch Gesetze sanktionierten Kirchenmoral über
die Ehe zur Verfolgung sexueller Minderheiten. Es ging uns um
Mitmenschlichkeit und die Freiheit für das individuelle
Lebensglück in einer solidarischen und sozialen Gesellschaft.
Da diese 68er Revolte nahezu eine ganze Generation mehr oder
weniger intensiv erfasste, haben wir alle, jeder an seinem Platz,
dazu beigetragen, dass sich die Gesellschaft schrittweise veränderte,
und so wurden eine Unzahl von kleinen und große Emanzipationsprozesse
ins Leben gerufen. Das ging nicht koordiniert oder durch eine
Führung gesteuert vor sich, sondern jede und jeder machte
alles aus eigener Überlegung, einige schlossen sich auch
in größere oder kleinere Organisationen zusammen.
Und wir, die ROSA LÜSTE, sind auch eine solche eher kleiner
Organisation, und wir, die Kernmitglieder und GründerInnen:
Renate, Joachim und Thomas, sind auch als Individuen ständig
in solchen Prozessen.
Auch unsere politischen GegnerInnen aus den konservativen Parteien
wurden von der 68er Jugendrevolte mit größerer individueller
Freiheit beschenkt, die sie natürlich freudig nutzten. Sowohl
im Kulturbereich als auch in der Wirtschaft, eigentlich in der
gesamten Gesellschaft war ein allgemeiner Aufbruch zu verspüren,
die konservativen Nebel in den Köpfen verzogen sich deutlich
spürbar. Eine neue Zeit der Aufklärung hatte begonnen,
und hat wohl selten in der Geschichte eine Generation junger
Menschen gegeben, die derart viel gelesen und gelernt hat. Das
führte dazu, dass es überall billige Raubkopien wichtiger
Bücher gab. Die Marktwirtschaft ist eben recht anpassungsfähig.
Wenn konservative Politiker öffentlich auftraten, um ihre
Nebenkerzen zu werfen, wurden sie von pfiffigen Jugendlichen
höhnisch empfangen, und so entlarvte sich so mancher von
ihnen durch zornige Zitate, die dann wiederum mit guten Zwischenrufen,
Applaus usw. kommentiert wurden.
Alles in allem muss man sagen, dass die 68er Revolte die Bundesrepublik
verändert hat. Nicht verschwiegen werden sollten natürlich
auch Entgleisungen, die sich auf der Seite der Revoluzzer abspielten,
ganz besonders die sogenannte RAF (Rote Armee Fraktion), die
allen Ernstes glaubte, in einem bewaffneten Bürgerkrieg
die Gesellschaft in ihrem Sinne umgestalten zu können.
-
- Was daraus wurde
Es sind immerhin eine ganze Reihe
von Bewegungen entstanden: die Frauenbewegung, die Umweltbewegung,
die Friedensbewegung, die Lesben- und Schwulenbewegung usw. Die
Frauenbewegung existiert noch in Form der Zeitschrift Emma, die
Umweltbewegung zeigt sich in Frau Künast und dem Bio-Siegel,
Die Friedensbewegung ist in Afghanistan und am Horn von Afrika
stationiert. Die Lesben- und Schwulenbewegung sorgt sich, das
die Lesben und Schwulen auch brav heiraten usw.
Das Verbot unter Adenauer, den nackten Körper darzustellen,
ist einer ganzen Reihe von Unternehmen gewichen, die statt befreitem
Sex die Abbildung von Sex bieten. Statt einer sozialistisch-anarchistischen
Gesellschaft mit zwischenmenschlicher Solidarität haben
wir das Gegenteil. Statt der schönen Kommunen beziehungsweise
Wohn-und-Beziehungsgemeinschaften gibt eigentlich fast nur Zweierbeziehungen
in kleinen Wohnungen. Statt wirtschaftlicher Beschiedenheit,
um mehr Freizeit für Politik und Kultur zu haben, wird mehr
als 50 Stunden in der Woche für ein Gehalt für 20 Stunden
gearbeitet, sofern man überhaupt Arbeit hat.
Wir wollen nun aber nicht ungerecht sein: es gibt kein Strafgesetz
mehr gegen Homosexualität. Es gibt keine gesetzliche Diskriminierung
der Frau mehr. Es wird niemand mehr wegen seiner Frisur zum Kriminellen
erklärt. Der Kuppeleiparagraph ist abgeschafft usw. das
ist aber nicht alles auf die 68er Revolte zurückzuführen,
sondern auf Folgeentwicklungen.
Andererseits nehmen Religiosität und der Hang nach einer
autoritären Gesellschaftsstruktur, der Schwulenhass und
eine freiwillige Selbstmorali-sierung besonders bei den nachwachsenden
jungen Menschen zu. bei den konservativen Parteien ist der Wille
zum Rollback spürbar, bis hin zum Verlangen nach Einsatz
der Bundeswehr im Inneren. Es geht nicht ohne eine ständige
Bemühung, Erreichtes zu verteidigen und dafür Bünd-nispartnerInnen
zu suchen. Es geht nicht, ohne ständig für soziale
solidarische zwischenmenschliche Strukturen einzutreten statt
der Spaltungsversuche durch Neiddiskussionen.
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