85.Ausgabe: Winter-LUST 05/06
 
Die Veränderung unserer Beziehungen und unserer gelebten Sexualität durch Aids
Homo-Ehe, safer Sex oder bare-backing, neue Doppelmoral, Zusammenhalt in der Szene, ernsthaftere und kürzere Beziehungen oder langwierigere und offene Beziehungen. Die gesellschaftliche Integration der Schwulen wurde aufgrund der Aidsgefahr für die gesamte Gesellschaft erreicht. Aufgrund des Safer-Sex-Verhaltens der Schwulen und vielfach Verzicht auf erfüllenden Sex wurde erreicht, das bei uns Aids keine Pandemie wurde. Die schleichende und schrittweise gesellschaftliche Desintegration der Schwulen, auch mittels Aids, findet zunehmend statt, um im Grunde die alten gesellschaftlich gewünschten Geschlechtsrollenbilder wieder zu erreichen.

Das schwule Szenenleben vor der Aids-Katastrophe
Einerseits gab es die alte Subkultur der Lokale und Diskotheken, die in den Nischen der Gesellschaft eingerichtet war, und andererseits die studentische Linke mit ihren gesellschaftsverändernden politischen Ansprüchen, aus denen eine Reihe von Gruppen und kulturelle wie politische Initiativen entstanden, zusammen: die Szene.

Vor Aids gab es schon eine große Anzahl von Brücken zwischen diesen beiden Bereichen, und das Leben fand sozusagen täglich statt, und Zwischenmenschliches lässt unterschiedliche Menschen im Bett zusammentreffen, auch ohne dass sich die Gesellschaft nennenswert geändert hat.

Die freche und teilweise provozierende Haltung der linken schwulen Intellektuellen bekämpfte mit dem Entlarven der Spießer die Schuldgefühle vor der eigenen Sexualität, und zwar in der Literatur, in den öffentlichen Auftritten und in Ansätzen in der eigenen Lebenswirklichkeit z.B. in der WG.

Jetzt, nachdem man relativ offen schwul sein konnte, genoss man die Sexualität und das schwule Leben fast ohne Schuldgefühle. Das kollektive Coming-out mit dem größeren Freiheitsgefühl fühlte sich nun einfach zufriedenstellend und “geil” an, und man bekam einen Eindruck von der “befreienden Wirkung des Orgasmus”, die damals gerade zugunsten der Heten-Frau in der Gesellschaft diskutiert wurde, denn, das muss man wissen, schien es bis dato nicht so wichtig zu sein, dass Frauen einen Orgasmus erleben. Von dieser Diskussion blieb in den Medien lediglich hängen, dass die Frau heutzutage auch einen Anrecht auf den Orgasmus hat, statt nur den Mann zu befriedigen.

Das schwule Beziehungsnetz war die aufkommende Form des freien schwulen Zusammenlebens, die nicht nur gelebt, sondern auch schrittweise bewusst wahrgenommen wurde. Beim Wahrnehmen der schwulen Lebensrealität stand ja das Heten-Vorbildsmodell in seiner mannweiblichen Bipolarität immer im Weg, weil die heterosexuelle zweigeschlechtliche Monogamie als erstrebenswerte Normalität empfunden wurde, und Schwule wollen ja normal und moralisch sein, zumindest die meiste Zeit am Tag.

Also suchte fast jeder schwule Mann seinen Freund, um nicht alleine zu sein, und es fehlten ihm nach dem Rausch der neuen Verliebtheit die anderen Erlebnisse, um die eben erworbene schwule Freiheit leben zu können. Da ist es nicht einfach, dies zusammen als ein Netz zu erkennen, sondern das eine Verhalten passt in die gesellschaftlich auch uns vorgegebene Monogamie des Hetenmodells und der andere Teil gehört sich nicht, wird daher zwar gelebt aber gedanklich und ideologisch ausgeklammert.

Die emanzipatorische Arbeit am Erkennen unserer realen Lebensform gegen all die Widerstände durch die Hetenmoral, die ja von den Heten zumeist auch nicht eingehalten wird, bekam einen schlimmen Rückschritt durch das Auftauchen von Aids in unserer Szene.
Aids und die Moral

Aids war (und ist) die perfekte Krankheit gegen das Befreien der schwulen Sexualität aus der diktierten Heten-Moral. Wer sich weiterhin frei erfüllen wollte, den traf es, was nicht heißt, dass alle von Aids-Betroffen sich in ihrer Sexualität auch erfüllt hatten. Aids war auch bei uns eine tödliche Krankheit, gegen die es kein Mittel gab. Die Medien taten ihr Übriges, allen voran der Spiegel, der ganz zu Unrecht noch immer ein aufklärerisches Image hat.

Die “Schwulenseuche”, so wurde Aids genannt, und alle miesen Moralapostel und andere Mistkerle und Mistkerlinnen inszenierten sich höhnisch. Im Spiegel wurde Schwulenlokale aufgedeckt und als Seuchenherde gebrandmarkt. Und die Anzahl der schwulen Sexkontakte wurde diskutiert, der Analverkehr als ein blutige Sexpraktik. Die ganze bigotte schwulenfeindliche Gesellschaft geilte sich an den kranken und sterbenden Schwulen auf. Und rechte Saubermänner (und Sauberfrauen) hatten die Chance, wie früher auf uns loszugehen und dafür Applaus zu ernten.

Mir ging es so, dass ich mich durch Aids in meiner persönlichen Emanzipation zurückgeworfen auf die Zeit vor meinem Coming-out fühlte, in der ich mich für meine sexuelle Lust mit Schuldgefühlen plagte. Die ganze Moralscheiße hatte mir damals quälend im Genick gesessen, ein auch psychisch „freies” befriedigendes schwules Leben war nicht so einfach zu führen. Und diese beklemmenden Hindernisse kamen nun durch Aids zurück.

Blasen bis es kommt, Bumsen ohne Pariser, zu all dem traute man sich nun nicht mehr, weil Lebensgefahr bestand. Man kann sich seit Aids nicht mehr einfach lustvoll miteinander gehen lassen. Immer muss man überlegen, ob dies oder jenes Viren übertragen könnte. Oder man musste mitten im lustvollen Geschehen einhalten, wenn es um Analverkehr geht, und an Todesgefahr und einen Pariser denken. Dieses Gebremste im Sexuellen war und ist einfach absolut lusttötend, das ist nicht zu bestreiten.

Nach dem ich erfuhr, dass ich das Glück hatte, nicht betroffen zu sein, wollte ich auch nichts mehr riskieren, was als riskant angesehen wurde. Meine Sexualität wurde lustloser, ging zurück, war nur noch Verrichtung, um körperliche Grundspannungsprobleme zu lösen, hatte nichts lustvoll befreiendes mehr. Ich fragte mich bei Gelegenheiten, ob es denn wirklich sein müsse.

Dann besuchte mich ein Bekannter, den ich 3 Jahre lang aus meinen Augen verloren hatte. Er hatte sich damals gegen seine Besuche bei mir und für eine ausschließliche Beziehung mit einem anderen Partner entschieden, und zwar weil eine Monogamie mit mir nicht möglich war, weil ich in einer (weitgehend sexlosen) Beziehung zu zwei Menschen lebe, die ich nicht aufzugeben bereit bin. Meine sexuellen Bedürfnisse erlebe ich daher außerhalb. Dies bezeichne ich als Treue. Er bezeichnete mit Treue die Beziehung mit sexueller Ausschließlichkeit mit einem Mann.

Er kam also wieder und stieg mit mir ins Bett und besuchte mich dann 6 Jahre lang wöchentlich. Seine nun 3-jährige Beziehung war unterdessen sexlos geworden, aber die Beziehung zu seinen Freund wollte er nicht beenden, weil er ihm treu war und weil ihm die Beziehung viel gab und gibt, auch ohne Sex. Sein Pech war, dass sein Freund trotzdem auf sexuelle Ausschließlichkeit bestand, auch wenn kein Sex mehr stattfand. Sein Freund untersagte ihm Sex mit anderen, woran er sich angeblich hielt. Vielleicht war seine Unehrlichkeit gegenüber seinem Freund mein Glück, denn in diesen 6 Jahren erfüllte er hingebungsvoll und lustvoll alle meine sexuellen Wünsche, wie niemand vor ihm und bislang niemand nach ihm. Ich lernte dabei Aspekte an mir kennen, von denen ich vorher nichts wusste. Ich profitierte also von einer sexuellen Form der Monogamie ohne gelebte monogamer Beziehung mit ihm.

Safer Sex? Nun, meine Präventionsbemühungen hatte er im entscheidenden Augenblick oftmals auf eine für mich derart lustvolle Weise unterlaufen, dass ich nicht widerstehen konnte. Und da er mein Sperma in sich aufnahm, gefährdete er sich potentiell dadurch selber, mich hingegen nicht. Ich hatte Schuldgefühle dafür und auch für das Hintergehen seines Freundes. Er habe sein HIV-Risiko und das Fremdgehen gegenüber seinem Freund mit sich selber auszumachen bzw. hinzubekommen, sagte er mir heftig, das gehe mich nichts an. Ja, er hatte in gewisser Weise damit recht, jeder hat Verantwortung für sich selbst, und niemand kann wirklich Verantwortung für einen anderen übernehmen, das ist die Grundlage der individuellen Freiheit.

Insofern entlastete er mich von meinen Schuldgefühlen, bzw. befreite er mich sexuell von Schuldgefühlen.
Ich war negativ ( und bin es noch) und er war es auch (und hoffentlich ist er es noch), die Safer-Sex-Anforderung waren unter diesen Umständen deshalb notwendig, um Aids nicht als heimliches Druckmittel zur Monogamie zu missbrauchen und um das eigene Leben nicht in die Hand von (vielfach doch nicht eingehaltenen) Monogamieversprechen zu legen.

Ja, das ist also die zweite Möglichkeit des Safer Sex: Man darf ohne diese Safer-Sex-Praktiken alles hingebungsvoll miteinander machen, wenn man miteinander absolut monogam lebt, bei einem eventuellen Seitensprung aber keine Risiken eingeht.

Diese 6 Jahre waren für mich die sexuell erfüllendsten in meinem Leben. Dieser leidenschaftliche und hingebungsvolle Lover irritierte mich auch damit, dass er selbst dann gierig auf Sex mit mir bestand, wenn er auf mich sauer war. Während ich seine spezielle Form der sexuellen Hingabe mir gegenüber genoss, schrieb ich natürlich in der LUST weiterhin Appelle zum Einhalten der Safer-Sex-Standarts, auch innerhalb einer Beziehung.

Mir dem skizzierten Arrangement war er auf Dauer nicht einverstanden, aber seine Bemühungen, mich für sich zu privatisieren, quälte mein Umfeld und auch mich. Auch war die Sexualität mit mir wohl für ihn mit der Zeit zu einseitig geworden, wenngleich für mich doch sehr erfüllend.

Zwischenmenschlich verstanden wir uns während der ganzen Zeit überhaupt nicht, was aber im Bett gar keine Rolle spielte. Im gegenseitigen Einvernehmen endete dann diese Beziehung, weil das Beenden für beide Seiten am besten war, anders: die Trennung war wohl für ihn, auf jeden Fall für mich und meine Wahlfamilie eine Wohltat. Es gibt einen Zeitpunkt in einem Verhältnis oder einer Beziehung, an dem das Problematische dann derart überwiegt, dadurch das Verbindende bedeutungslos wird. Allerdings hatte er auch in der Zwischenzeit einen anderen Lover neben seiner sexuellen Beziehung zu mir und seiner emotionalen Beziehungen zu seinem Freund gefunden, auf die er sich nun konzentrierte.

Danach begann wieder eine Zeit für mich, in der ich nur eingeschränkte Sexualität erleben konnte, wenn überhaupt. Und wenn es einem vorher sehr gut ging, ist der Verlust besonders spürbar. Bei meinen Bemühungen, immer mal jemand Akzeptables in mein Bett zu bekommen, begegnete ich jedoch nun immer mehr Leuten, die bareback wollen, also das Reiten ohne Sattel bzw. das Bumsen ohne Pariser und das Blasen bis zum Schluss.

Es ist natürlich klar, dass man bei einem Barebacker, den man spontan trifft, davon ausgehen muss, dass er positiv ist und dass er deshalb keine Angst vor einer Infektion hat, unabhängig davon, ob das auch in jedem Fall zutrifft.

Es gibt also zwei Möglichkeiten: bei spontanem Sex beim AV einen Pariser zu nehmen und beim OV “raus bevor es kommt”, und dies vielleicht auch in einer Beziehung, weil Monogamie im schwulen Leben selten auf längere Zeit eingehalten werden kann, vielleicht im Hetenleben auch nicht. Oder in der Zeit, in der es konsequent eingehalten werden kann, sexuelle Monogamie einzuhalten, sofern die Beteiligten den gleichen Sero-Status haben, also beide negativ oder positiv sind, was schrankenlosen Sex zwischen ihnen ermöglicht.
In den Gay-Medien finde ich überall die moralische Verurteilung der Barbacker, die sich auch bei spontanen Begegnungen so verhalten, als könnten sie absolut sicher sagen, dass beide den gleichen Sero-Status haben, um sexuell frei zu sein.

Barebacker werden aufgefordert, sie sollen Safer-Sex-betreiben oder auf Sex verzichten. Diese schlichte Argumentation erinnert mich an die Vorschläge, sich unter eine kalte Dusche zu stellen und auf das moralische Verurteilen der Homosexualität. Solche Appelle sind nicht in der Lage, einen Barbacker zu überzeugen, auf Safer-Sex zurückzukommen. Mit Moral klappt das nicht und mit sonstigen Appellen auch nicht, denn es ist anzunehmen, dass den Betreffenden die Argumente bekannt sind.
 
Barebacking als gesellschaftliches Phänomen
In der 81. Ausgabe der Zeitschrift LUST habe ich ein ausführliches Interview mit Rainer Schilling geführt, der für die Präventionsarbeit der Deutschen Aidshilfe verantwortlich ist, und zwar für den Bereich der homosexuellen Männer und der Prostituierten. Er kritisiert hier ein Verhalten, dass ein Druck, ein Sog auf andere Schwule ausgeübt wird, von Leuten, die Bareback propagieren.

Bernd Aretz, der das Gespräch zwischen uns arrangiert hat, meinte zur Frage des sexuellen Umgangs miteinander: „Dahinter steckt ja grundsätzlich die Frage, schlicht zu erkennen, dass im Bereich der Sexualität, egal um was es geht, schlicht die engere Grenze gilt und nicht verhandelbar ist. Und dass das zu respektieren ist. Da liegt das Dilemma. Und dass vorher viel zu wenig Abstimmungen über die Felder stattfinden, in denen sich beide wohl fühlen und gehen lassen können. (...) Diese ganze Verantwortungsdebatte ist doch schon begrifflich nicht sauber. So mit geteilter Verantwortung. Verantwortung für den anderen übernehmen und der ganze Schrott.

Jeder ist für sein Verhalten immer im vollem Umfang verantwortlich... Man kann Verantwortung auch nicht delegieren. ... Man kann auch der Verantwortung nicht entkommen. Jeder hat für sein Verhalten vor sich selbst einzustehen. Das einzige, was entlasten kann, ist das Aushandeln. Und das geht nur auf gleicher Augenhöhe. Das haben Positive bewiesen, wenn sie die Verantwortung für ihren Partner mit übernommen haben, gerade in Partnerschaften. Der andere wollte infiziert werden und dann hat der Positive gesagt: Nein, bei mir nicht. Dann ist er nach außen gegangen und hat sich woanders infiziert, um den gleichen Status zu haben wie der Geliebte.”

Und zur Frage der zunehmenden öffentlichen Moral, mit der wir in unserem Verhalten gemessen werden, meinte dann Rainer: „Moral ist nur vorgeschoben. Was dahinter steht ist, dass die Positiven allein verantwortlich sind für die Weitergabe des Virus. Und die es sich holen, sind unverantwortlich und fallen der Volksgesundheit zur Last. Durch die Hintertreppe kommt das alte Seuchenrecht wieder ran, bzw. die Suchtstrategie im Gegensatz zur Lernstrategie, die einseitige und nicht die geteilte Verantwortung. Ich führe gerne mit Krankenkassen die Diskussion, wenn sich jemand selbstschädigend verhalten hat, dass er dann für diesen Schaden doch besser aufkommen muss. Aber dann möchte ich auch die ganzen Skifahrer bestrafen ... Weil Aids eine sexuell übertragbare Krankheit ist, docken sie mit Moral an.”

Rainer schlägt im Interview u.a. vor, wenn das Kondom zum Beispiel eine Erektion verhindert oder beendet, dass dann eben auf AV verzichtet werden muss, wenn nicht der gleiche Sero-Status zwischen den Beteiligten vorliegt oder darüber nicht gesprochen werden kann. Das aber macht ja in konkreten sexuellen Situationen oft die Schwierigkeit aus. Kann man gerade dann über Aids-Angst sprechen und kann man dann das Risiko auf sich nehmen, sofern man Sero-Positiv ist, einen möglicherweise Sero-Negativen zu infizieren?

In der taz vom 30.11.05 wurde Professor Martin Dannecker interviewt, der seit Jahrzehnten immer noch gut für intelligente Analysen ist. Der meint hier zum Phänomen Barbacking: “Die Sexualität hat sich aus dem Schatten von Aids befreit.” Im Interview meint Martin Dannecker, dass die Neuinfektionen von ca. 30 % eine vergleichsweise niedrige Zahl sei. (Die Neuinfektionen sind von 2.000 gegenüber dem Vorjahr um 30 % auf 2.600 gestiegen. Rund 49.000 Menschen sind in Deutschland Träger des Virus)

Man müsse unterscheiden zwischen dem alten Aids, das konstruiert war als etwas, bei dem kein Unterschied zwischen HIV-Infektion und Aids gemacht werden konnte: eine Ansteckung mit dem Virus war fast identisch mit raschem Sterben.

Und das neue Aids. Seit 1996 gebe es Medikamente, die ein Überleben mit Aids ermöglichten. Im Gegensatz zu früher riskiere einer seine Gesundheit, was wir an vielen anderen Orten auch tun würden. Die Sexualität habe sich in der Tat aus dem Schatten von Aids entfernt und sei wieder freier geworden und manchmal auch riskanter. Aids sei zu einer schweren chronischen Krankheit wie z.B. Zucker geworden. Die Neuinfizierten seien wahrscheinlich keine Desperados, sie seien vielleicht zumeist nur in einem Moment in ihren Präventionsbemühungen gescheitert.

Den Neuinfizierten werde vorgeworfen, dass sie sich so verhalten müssten, als ob Aids noch eine tödliche Krankheit sei. Er könne er nicht glauben, dass die massenhafte Ausbreitung nun stattfinden würde. Wer an dieser Krankheit leide, sei schweren Einschränkungen unterworfen. Dies gelte natürlich nur für den allergeringsten Teil der Welt, woanders sei Aids immer noch tödlich. Das sei aber kein medizinisches, sondern ein soziales Problem.

Barbacking sei eine Reaktion auf die strengen Anforderungen der Gesellschaft, und das werde beim kondomlosen Sex in Szene gesetzt. Bei Sexualität werde die Vernunft manchmal müde. Bei Barebacking werde die Einschränkung der Sexuellen am deutlichsten benannt. Man dürfe nicht vergessen, dass der Erfolg der niedrigen Infektionszahlen nicht nur mit einer kondomisierten Sexualität erkauft sei, sondern vor allem mit einem ungeheuren Verzicht auf sexuelle Lust überhaupt.

Die Pointe sei: Gummiloser Sex sei auch faszinierend für andere. Es sei ein Faszinosum: zwei Körper treffen sich schutzlos. Das müsse man begreifen, und zwar auch Heterosexuelle, die von Desperados sprechen.

Es sei auch gefährlich, die Neuinfizierten von der Solidarität mit allen Kranken auszuschließen. Und dass die Infektion wie eine Pandemie um sich greifen werde, das glaube Dannecker nicht. So lange die HIV-Infektion in der Welt sei und bleibe, sei sie mit sehr großen Einschränkungen in der Lebensqualität verbunden.

Man müsse bezüglich der Barebacker neue Formen der Prävention suchen, zum Beispiel auf Sexparties, wo pure Kondomverteilerei nicht mehr ziehe, da müsse man stören. Man müsse es wenigstens versuchen. Das sei dann eine Prävention, an der man sich die Hände schmutzig mache. Moralische Argumente und Belehrungen nützen nichts. Man könnte auf Sexparties fragen, ob nicht zwei Typen reichen statt fünf und darauf bestehen, dass der Schwanz vor dem Samenerguss herausgezogen werde, bevor der Samenerguss komme. Und das genau so grob und direkt und nicht so, dass er sich zum sozialarbeiterischen Fall gemacht fühlen. Nur so könne man wohl der Dynamik, die sich seit Einführung der HIV-Medikamente zeige, ein wenig Einhalt gebieten.

Das heißt also, dass die Streetworker der Aidshilfe sich selber in die Realitäten des sexuellen Lebens zu begeben haben, mitmischen und sich einmischen.

Die Moralkeule nutze nichts, Die glaubt einem keiner. Die moralisch Argumentierenden seien diejenigen, die selbst Angst davor hätten, von der sexuellen Dynamik, die sich wieder zeige, verführt zu werden.
 
Keine grenzenlose sexuelle Erfüllung mehr ohne Reue?
Es gibt bezüglich des Präventionsverhaltens zwei Möglichkeiten: bei spontanem Sex beim AV einen Pariser zu nehmen und beim OV “raus bevor es kommt”, und dies vielleicht auch in einer Beziehung, weil Monogamie im schwulen Leben selten auf längere Zeit eingehalten werden kann, vielleicht im Hetenleben auch nicht. Oder die Möglichkeit in der Zeit, in der es eingehalten werden kann, sexuelle Monogamie zu leben, sofern die Beteiligten den gleichen Sero-Status haben, also beide negativ oder positiv sind, was zumindest zeitweilig schrankenlosen Sex zwischen ihnen ermöglicht, mit der Einschränkung, dass viele Menschen in ihren Präventionsbemühungen scheitern können. Um dann das Infektionsrisiko für den Partner ausschließen zu können, wäre es wünschenswert, dass wir das Leben so akzeptieren, wie es im konkreten Fall ist, statt vor moralischen Richtlinien zu kapitulieren.

Unabhängig vom Zeitgeistphänomen des Barebacking, von den hilflos erscheinenden Versuchen, dieses Verhalten in den Griff zu kriegen, bleibt doch festzuhalten: Es gibt gegenwärtig keine absolut grenzenlose sexuelle Erfüllung ohne Reue. Also noch immer nicht die befreiende Wirkung des Orgasmus, höchstens sexuelle Verrichtungen?

Jeder Zuhörer dieses Referates und Leser dieses Artikels, der Angst vor dem Barebackingverhalten anderer hat, sollte sich fragen, ob er denn dadurch in Gefahr kommt, da er doch selber immer verhütet. Oder?

Wenn das verlogene Verantwortungsgerede für andere durch eine konsequente eigene Verantwortung ausgetauscht wird, kann auch ein praktikabler Weg im Umgang mit der Selbstinfektions-gefahr beim Sex gefunden werden.

Bernd meint im o.a. Interview, dass ein Gespräch über die Grenzen, die jeder der beteiligten Partner ziehen muss, wichtig sei.
“Und wenn das mit einzelnen nicht möglich ist, wenn ich es also nicht aushandeln kann, oder der andere sagt: da halte ich mich nicht dran, dann kannst Du nur sagen: Du gehst mir am Arsch vorbei.
Was soll ich mit solchen Leuten intim machen, die noch nicht einmal bereit sind, meine Befindlichkeit zu respektieren. Wenn es schon um den Bereich beliebig austauschbarer Sexualität geht, das trifft für Dunkelräume usw. und wenn es nicht der Erste, der Zweite oder der Dritte ist, und die Messlatte wird mit der nahenden Schließungszeit immer weiter runtergehängt, dann sollte man sich doch den Luxus leisten und sagen, möglicherweise ist dies einer dieser Abende, wo man am Schluss nach Hause geht und es ist vielleicht gar nichts gelaufen. Aber verpasst hat man nichts. Den erfüllenden Kontakt hat man dann nicht, wenn noch nicht mal möglich ist, zu sagen: ich habe Angst, bitte berücksichtige das.”

Natürlich stimmt es, dass der von mir ersehnte grenzenloser Sex auch jetzt noch immer nicht möglich ist. Mist aber auch. Was bleibt mir da? Ich entdecke an mir Tendenzen, andere sexuell bevormunden zu wollen. Ich würde mir zum Beispiel einen Sexpartner wünschen, der meinem visuellen Wunschtraum entspricht, dessen sexuelles Verlangen sich mit meinem ergänzt und der eine Zeitlang mit niemand anderem als mir Sex hat, was mit meinem steigenden Alter immer unwahrscheinlicher wird und was auch eine Zumutung für den Partner wäre, obwohl ich selber bereit wäre, diese Bedingung einzuhalten.

Also bleibt mir als Realität der freie Kontaktmarkt über Chat-Lines zum Beispiel, wo ich dann darauf aufzupassen habe, dass ich mich nicht infiziere, als einziger, der die Verantwortung für mich trägt.
 
Die gesellschaftlich Integration schwuler Männer wird wieder infrage gestellt
Was aber das gesellschaftliche Klima für mich als schwulen Mann betrifft, so muss ich sagen, dass sich dieses schleichend und langsam verschlechtert. Und dazu muss ich sagen, auch ich stelle die Integration partiell infrage. In allem möchte ich gar nicht integriert werden, da es nicht für mich taugt. Integration beschneidet nämlich den persönlichen Spielraum.

Es werden wieder mehr antischwule Witze gemacht, es ist beinahe wieder selbstverständlich, dass man sich in den Medien und in der Öffentlichkeit von Homosexualität distanziert, auch ohne dass dies lautstark ausgesprochen wird. Und bisweilen wird es auch wieder lautstark ausgesprochen, auch in den Medien.

Die moralische Verurteilung der Barebacker durch die Gesellschaft bietet den Befürwortern der starken sexuellen Normierung die Möglichkeit, scheinbar richtige Argumente in der Bevölkerung glaubhaft zu machen.

Es geht um einen Anpassungsdruck, der gerade die Sexualität schwuler Männer zum Gegenstand hat, die ohnehin in der Gesellschaft im wesentlichen mit Widerwillen, zumindest ohne Sympathie gesehen wird. Wer billige Effekte erzielen will, kann dies noch immer auf Kosten schwuler Männer.

Ein Antidiskriminierungsgesetz, das Homosexualität einschließt, scheiterte im Bundesrat am Widerstand der CDU/CSU gerade wegen der dort auch aufgeführten Diskriminierung wegen Homosexualität.

Wenn man offenen Auges den Druck gegenüber der Aidshilfe im Auge behält, sie wäre nicht wirkungsvoll gegen Barebacking, kann man sicher sein, das hier eine Mischung aus Kostenargumentation, konservativer Männerrollenchauvinismus, Verlogener Moral und Schwulenfeindlichkeit den ohnehin immer untoleranteren Zeitgeist trifft. Und das ist für uns gefährlich. (js)
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite