85.Ausgabe: Winter-LUST 05/06
 
Der neue Klassenkampf
Brennende Autos und Sozialeinrichtungen in Frankreich, wie Schulen und Kindergärten, aber auch Tankstellen und Fabriken. Frankreichs arbeitslose Vorstadtjugend rebelliert. Einige Leute in Bremen und in Belgien fühlten sich angesprochen, es ihnen nachtun. Rassistische Jugendrevolte in Australien. Die Hoffnungslosen, die Verlierer der sozialen Zustände nutzen jeden Funken, um Flächenbrände zu Inszenieren.

Aber sie kämpfen nicht um andere soziale Verhältnisse, weil das gesellschaftliche Ausgeschlossen-sein auch ein Ausgeschlossensein von der Einsicht in die Zusammenhänge bedeutet. Wenn man Jugendliche fragt, was sie sich für die Zukunft erhoffen, sind es die Werbebotschaften, die sie unkritisch verinnerlicht haben: tolles teures Auto, teure Uhr, modische teure Klamotten.

Als das Musical „Little Shop of Horror“ als Remake rauskam, ist uns da Einiges aufgefallen. Ihr erinnert Euch? Die fleischfressende Topfpflanze, der böse Zahnarzt und das romantische Liebespaar. Alle waren in großer sozialer Not in einem heruntergekommenen Wohnviertel, wo nur Arme wohnten. So zeigte es der amerikanische Film. Und ihr Ziel war es, aus diesem Viertel rauszukommen, zu den Reichen. Um den Lebensstandart der Reichen zu haben, das Leben der Reichen zu führen usw. - der ganze billige Werbekram. Wir hatten damals feinsinnig unterschieden: das unterscheidet die amerikanischen Gesellschaft von der europäischen: hier in Europa wäre es wohl das Ziel, das Wohnviertel zu sanieren und allen Leuten hier eine Zukunft zu ermögliche. Das ist lange her, als man in Europa noch so Dachte.

Die Globalisierung hat auch im Bewusstsein der Europäer ihre Wirkung nicht verfehlt. Es gibt kein kollektives soziales Bewusstsein mehr, es gibt nur noch die Ausbeutung der Menschen, und nur einzelne können für einige Zeit halbwegs bessere Lebensverhältnisse erreichen, und darum geht es Vielen. Und sie sind dann Winner, die anderen die Looser. Und das wollen sie auch die Looser spüren lassen. Das ist der Zeitgeist.

Wenn man nach der Weltanschauung fragt, dann kommt ein irgendwie gearteter Wunderglaube zutage. Gerade ihnen soll ein Wunder geschehen, und nicht den anderen. Das führt zur Hinwendung zur Religion und zu anderen Volksverführern, zum Beispiel zu Rassisten. Die versprechen ihnen mehr Lebenglück als den anderen, die das nicht verdient hätten, sagen sie. Ein Lebensglück, das sich im teuren Handy und in der Gucci-Brille zeigt, in der teuren Armbanduhr und anderen teuren Gegenständen, die die Marktwirschaft mittels Werbung mit dem Image der Besserverdienenden, der „Winner“ der Gesellschaft versieht.

Nun kann man ja auch nicht Wein trinken und Wasser predigen. Genügsamkeit ist etwas für die Looser, das empfinden wohl die Jugendlicher rund um den Globus. Und genau deshalb zünden sie Sozialeinrichtungen an und Fabriken, in denen sie ohnehin nicht arbeiten werden.

Es ist dies in gewisser Weise ein Klassenkampf der aber nicht von der Linken geführt wird, sondern von Religionsführern und Rassisten, was auch oft dasselbe ist. Dieser Klassenkampf kann sich noch auswachsen. Aber er ist dennoch ohne Hoffnung, denn er richtet sich ja nur gegen die anderen kleinen, denen es angeblich oder tatsächlich ein bisschen besser geht. Also eigentlich gegen uns, denn uns geht es ja doch noch ein bisschen besser als viele anderen im Land. Dieser Klassenkampf richtet sich nicht gegen die wirklichen Nutznießer der Zustände mit dem Ziel, die Zustände zu ändern, und deshalb muss er scheitern. Er kann zum Bürgerkrieg werden, und in Frankreich waren es schon bürgerkriegsähnliche Zustände. Aber die rassistischen und religiösen Führer wollen ja nicht diese Zustände ändern sondern auf ihre Weise von diesen Zuständen profitieren. Sie wollen nur sortieren, zwischen ihren AnhängerInnen und den anderen.
Die Linke hat allerdings offensichtlich versagt, dass es ihr nicht gelingt, ihre Botschaft von einer sozial gerechteren Welt attraktiv zu machen und glaubwürdig zu verkünden. Es gelingt auch nicht, denn ein Sportwagen zieht mehr als eine kleine soziale Hoffnung, bei der es den verhassten „Anderen“ genau so gut gehen soll. Und dann: man soll doch nicht alles so Negativ sehen. So ein scharfer Sportwagen ist doch was Positives. Und die Linken, das sind doch ohnehin nur Meckerer, die nichts zustande bringen, außer sich selber zu bereichern. Das sieht man ja immer im Fernsehen, also muss es stimmen.

Genauer hingeschaut handelt es sich hier in Realität um eine Ablenkung vom Klassenkampf der kleinen Leute, sondern um Klassenkampf von oben, der anscheinend nötig ist, aus der Sicht von denen das oben. Sie spielen mit dem Feuer und wissen sicherlich, dass ihnen das auch mal aus dem Ruder laufen kann. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse weltweit geändert haben und immer noch ändern, gerade weil die Marktwirtschaft weltweit gesiegt hat. Das geht zu Lasten kleiner regionaler Märkte, die ausgelöscht werden.

Wirtschaften heißt, gewinne zu maximieren. Das bedeutet, dass das Leben der Menschen in einem Land oder weltweit weniger Bedeutung hat als der Aktienkurs und Rendite der Aktien. Brot und Spiele, also Sozialhilfe und Fernsehen, scheint nicht auszureichen, in den Vorstädten von Paris oder in den Fußgängerzonen unserer großen Städte, in denen randalierende Jugendliche manches erschrockene Mütterchen oder eben auch Väterchen um die Handtasche oder um die Brieftasche bringen, offen als Raub und nicht heimlich als Taschendieb, und so mancher Schaufensterbummler wird einfach mal so „auf die Fresse gekloppt“, und weiß nicht, was ihm da geschieht. Die zunehmende Gewaltbereitschaft von Jugendlichen, oft auch in Banden oder Cliquen, sei unseren PolitikerInnen ein Rätsel, hört und liest man in den Medien. Wer immer noch nicht weiß, was da brodelt, gehört eigentlich in keine politische Schlüsselposition, wie z.B. der französische Innenminister, der den massenhaften Protest mit seinen Reden vom harten Eingreifen erst so richtig auslöste.
Klassenkampf ist nichts Schönes und trifft auch völlig unbedarfte. Aber es ist deutlich: die Bereitschaft zu gewaltsame Auseinandersetzungen benötigt oft nur einen kleinen Impuls.
 
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