- 84. LUST (Herbst 05)
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- Über die Sozialversicherungen
Die gesetzlichen und die privaten Versicherungen, die vergangenen
Jahre und die Zukunft: Kopfpauschale und Bürgerversicherung?
Was wird und was ist mit der Rente?
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- 1. Das vorherrschende Versicherungssystem
Heutzutage wird über die gesetzlichen und die privaten Sozialversicherungen
gestritten. Hier also kurz der Unterschied: Die gesetzlichen
Versicherungen sind Pflichtversicherungen und das müssen
sie auch sein, weil sie sonst nicht funktionieren würden.
Gesetzliche Kassen sind Körperschaften des öffentlichen
Rechts. Sie sind nicht privat und nicht staatlich, gehören
sozusagen den Versicherten. Die Versicherten übern ihren
Einfluss durch die Sozialwahlen aus, bei denen sie ihre Vertreter
in die Vertreterversammlung senden. Sie funktionieren nach dem
Solidaritätsprinzip. Solidaritätsprinzip heißt:
die Versicherten zahlen nach ihren Möglichkeiten ein, also
nach der Höhe ihrer Einkommen. Sie erhalten nach ihren Notwendigkeiten,
also was sie brauchen, unabhängig der Höhe der Einzahlungen.
Die Familienangehörigen sind mit versichert.
Private Kassen sind Unternehmen, die Gewinne abzuwerfen haben.
Sie gehören z.B. den Aktionären, wenn es sich um Aktiengesellschaften
handelt, oder den Aktionären der entsprechenden Banken.
Die Höhe der Einzahlung ist von zwei Faktoren abhängig:
1. Welcher Risikogruppe man angehört (Alter, Vorerkrankung
usw.) und 2. Welche Risiken versichert werden sollen. Man erhält
also entsprechend seiner Einzahlungen. Wer nicht viel einzahlt,
erhält im Schadensfall auch nicht viel. Junge Menschen zahlen
wegen der geringeren Erkrankungshäufigkeit wenig, ältere
ein Vielfaches davon. Die Familienangehörigen sind nicht
mit versichert. Entsprechend einer Kopfpauschale, die bei den
C-Parteien für die gesetzlichen Sozialversicherungen gegenwärtig
im Gespräch ist, muss für jeden Versicherten getrennt
eingezahlt werden.
Dieses Prinzip wird bei der Kranken-, der Unfall- und der Pflegeversicherung
in dieser Form angewandt, bei der Pflegeversicherung gibt es
jedoch eine Obergrenze der Zahlungen, bei der Krankenversicherung
noch weitere Zuzahlungen der Patienten im Anspruchsfall.
Gesetzliche Versicherungen arbeiten nach dem Umlageverfahren,
das eingezahlte Geld wird sofort für andere ausgegeben.
Wenn Überschüsse da sind, werden diese an den Staat
verliehen. Wenn das Geld nicht ausreicht, muss der Staat aus
Steuermitteln helfen. Dem kann er sich entziehen, indem er die
Gesetze ändert. Private Kassen legen die eingenommenen Gelder
an, aber wenn sie damit keine Gewinne machen, kann es sein, dass
die angesparten Gelder verloren sind.
Bei den Krankenkassen erhalten die Versicherten das, was sie
brauchen. Und sie zahlen das, was sie können. Dennoch ist
seit Kohls Regierungszeit, der die soziale Hängematte kritisierte,
dieses Prinzip durch erhöhte Zuzahlungen zunehmend durchbrochen
worden, und besonders die rotgrüne Regierung hat diesen
Weg noch beschleunigt, hin zu ergänzenden privaten Versicherungen.
Bei der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung
zahlen die Beteiligten auch nach der Höhe ihres Einkommens
ein und erhalten Leistungen in Bezug auf die Höhe ihres
Einkommens. Da die Auszahlungen der gesetzlichen Rentenversicherungen
zunehmend abgespeckt werden, ist angeraten, zusätzlich eine
private Rentenversicherung abzuschließen. Die sogenannte
Riester-Rente verlangt zum Beispiel von den Versicherungen, dass
am Ende auch eine Rente da ist. Eine staatliche Förderung
solcher Verträge ist von einer Kontrolle der Verträge
abhängig. Die Versicherungsunternehmen beklagen deshalb,
dass sich diese Verträge für sie nicht lohnen. Die
FDP hingegen, die gerne die gesetzlichen Versicherungen zugunsten
der privaten abschaffen möchte, verlangt, dass mit den angesparten
Versicherungsgeldern vom Versicherten besser gewirtschaftet,
also spekuliert werden kann. Das würde kleinen VersicherungsberaterInnen
Jobs verschaffen, aber ihre Ratschläge wären doch nicht
immer zugunsten der Versicherten.
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- 1.1. Um was geht es beim Sozialabbau?
Die Marktwirtschaft ist an ihre Grenzen gekommen. Überall
dort, wo man mit Investitionen große Gewinne realisieren
kann, steckt das Kapital großer Fonts und Geldgeber
schon drin. Aber es gibt noch Gelder, die von den großen
Geldgebern nicht abgeerntet werden können, das sind die
staatlichen Gelder und der öffentlich-rechtliche Sozialbereich.
Diese Versicherungen uns staatlichen Ausgaben abzubauen, nennt
man Neoliberalismus, weil früher die Liberalen auch die
soziale Frage dem Markt überlassen wollten.
Dieser Sozialbereich, die öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungen,
sind die Begründung dafür, dass Generationen von Schulkindern
in Deutschland lernten, bei uns regiere nicht der krasse Kapitalismus,
sondern wir hätten eine soziale Marktwirtschaft.
Reich ist nicht unbedingt, wer Geld besitzt, weil sich das verzehrt.
Sondern reich ist, wer dort sitzt, wo Gelder hinfließen.
Und wenn die renditeträchtigen Bereiche der Gesellschaft
schon vergeben sind, möchte man an das Kapital ran, was
sich in den Händen der Sozialsysteme befindet oder was staatlich
verwaltet wird. Die EU hat die GATS-Verträge unterzeichnet,
in denen es um die Umwandlung der staatlichen und öffentlich-rechtlichen
Sozialsysteme in private Systeme geht, damit diese privaten Systeme
dann für Kapitalanwender eine Rendite abwerfen können.
Dazu müssen sie aber auch schrittweise umgestaltet werden.
Die Sozialversicherungen sind die marktwirtschaftliche Antwort
auf die revolutionäre Arbeiterbewegung gewesen, um die Arbeiter
davon abzubringen, ihre Hoffnungen auf die Arbeiterbewegung zu
stützen. Anscheinend ist es nun nicht mehr nötig, die
Arbeiter zufrieden zu stellen und sie der Arbeiterbewegung abzuwerben.
Im Zuge der neuen Bestrebungen sowohl der Unternehmerverbände
als auch der öffentlichen Meinung gelten die
Sozialversicherungen als nicht mehr zahlbar, obwohl man eigentlich
nur die Gruppe der EinzahlerInnen zu vergrößern bräuchte,
denn der Anteil der Bevölkerung, der über andere Wege
als der Lohnarbeit ihr Geld verdienen, nimmt prozentual ab. Das
liegt im wesentlichen an der Arbeitslosigkeit. Die Gehälter
der ArbeitnehmerInnen werden gedrückt, so dass die Einzahlungen
auch sinken, während die Rendite in der Pharmazie und in
den anderen Bereichen, die ihre Gewinne aus den Sozialsystemen
ziehen, nach Möglichkeit steigen sollen. Das aus der Arbeit
der Arbeitnehmer gewonnenen Kapital wird nicht zur Finanzierung
der sozialen Sicherheit hinzugezogen. Beamte zahlen in die Kassen
nicht ein. Eine Bürgerversicherung, in die auch derzeit
nicht versicherungspflichtige Besserverdienende einzahlen, könnte
die Zahlungsprobleme lösen, und dafür gibt es im europäischen
Ausland vielfache Beispiele. Die Unionsparteien und die FDP wollen
schneller als die gegenwärtige Regierung hin zu privaten
Sozialsystemen. Dies würde allerdings ins soziale Chaos
führen.
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- 2. Soziale Sicherung als Grundlage des
Arbeitsfriedens
Durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wurde eine
Entwicklung ausgelöst, die in kurzer Zeit technischwirtschaftlichen
Fortschritt sowie sozialen und gesellschaftlichen Umbruch brachte,
wie es bisher in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt
wurde. Der Beginn dieser Epoche war von sozialer Not, Armut und
Elend begleitet. Zu den Ursachen dieser Armut gehört auch,
dass die bis dahin über Jahrhunderte gültigen Formen
der sozialen Sicherheit aufgelöst wurden.
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- 2.1. Formen sozialer Sicherung in vorindustrieller
Zeit
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass uns die Industriegesellschaft
soziale Sicherheit geschenkt hätte. Soziale Sicherheit hat
es nie gegeben. Und die Zustände für die sogenannten
kleinen Leute in der Gesellschaft waren im 19. Jahrhundert katastrophal,
wodurch die Arbeiterbewegung entstand. Im 20. Jahrhundert gab
es daher unterschiedlicher Formen einer größeren sozialen
Sicherheit. Es sieht so aus, also ob das 21. Jahrhundert wieder
großes Elend und große Armut für den Mittelstand
und die ArbeitnehmerInnen bringen wird. Schauen wir uns die Formen
sozialer Sicherheit im 19. Und 20. Jahrhundert an.
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- 2.2. Die Großfamilie
Sie hatte u.a. die Aufgabe, ihren Mitgliedern Schutz, Unterhalt
und Geborgenheit zu geben. Hier lebten in der Regel 3 Generationen
zusammen, aber auch unverheiratete Verwandte und Dienstkräfte.
Das gilt sowohl für die Landwirtschaft, wo 80% der Bevölkerung
lebten, wie auch für das städtische Handwerk. Die Großfamilien
bildeten eine Hersteller- und Verbrauchergemeinschaft, denn die
Produktion spielte sich weitgehend im Rahmen der Familie ab.
Lehrlinge und Gesellen, Knechte und Mägde, die außerhalb
der eigenen Familie tätig sein mussten, waren voll in die
Familie des Brotherren einbezogen.
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- 2.3. Soziale Hilfen durch ständische
Organisationen und Gemeinschaften
Die soziale und wirtschaftliche Stellung des Menschen wurde in
der Vergangenheit weitgehend von seiner Geburt bestimmt. Ohne
dass er in der Regel darauf Einfluss nehmen konnte, war er sein
Leben lang in eine bestimmte Bevölkerungs- bzw. Berufsschicht,
einen Stand, und deren Organisationen eingegliedert. Gutsherrschaften,
Dorfgemeinschaften und Kirchengemeinden, ebenso Berufsverbände
wie Zünfte und Gilden hatten die Aufgabe, soweit es in ihren
Kräften stand, durch vielfältige Maßnahmen allen
ein lebenssicherndes und standesgemäßes Einkommen
zu ermöglichen. So durfte z.B. nur derjenige heiraten und
eine Familie gründen, der auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen
besaß, um sie zu ernähren (Bauernstelle, Handwerksbetrieb).
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- Auf diesem Wege war es in gewissem Rahmen
möglich, das Bevölkerungswachstum sowie die Arbeits-
und besonders die Ernährungsmöglichkeiten aufeinander
abzustimmen.
Eine selbstverständliche Nachbarschaftshilfe stand in Notfällen
zur Verfügung, die von der einzelnen Familie nicht mehr
gemeistert werden konnten. Hinzu kam eine Armenunterstützung,
in der Regel organisiert von berufsständischen Gemeinschaften,
besonders aber von der Kirche. Trotz solcher Maßnahmen
blieb natürlich auch in diesem Zeitalter genug Hunger und
Elend übrig, wenn man bedenkt, dass in manchen Notzeiten
die Zahl der Bettler und Landstreicher für uns unvorstellbare
Ausmaße annahm.
Dieses System verfiel mit dem Auftauchen der Marktwirtschaft,
und anfänglich hatte man die Auffassung, dass jeder, der
etwas taugt, es schon zu etwas bringt. Und wer versagt, sei selber
schuld.
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- 2.4. Auflösung der alten Formen sozialer
Sicherung
Die industrielle Revolution wurde von neuen Vorstellungen von
der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit des Menschen
begleitet, dem Liberalismus. Die neuen wirtschaftlichen Strukturen
und die neuen gesellschaftlichen Ideale
- lockerten den Zwang der ständischen Ordnung,
- wandelten in den Industriestaaten die Großfamilie zur
Kleinfamilie,
- ließen die Zünfte und Gilden im Rahmen einer Gewerbe-
und Handelsfreiheit bedeutungslos werden,
- banden den Bauern nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit
und der Leibeigenschaft nicht mehr an Grund und Boden des Gutsherren,
vertrieben ihn aber auch von Grund und Boden.
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- 2.5. Verlust der Fürsorgepflicht
Mit der neugewonnenen Freiheit, Freizügigkeit und Selbständigkeit
auf der einen Seite entfiel aber auf der anderen Seite immer
mehr die alte Aufgabe des Familienverbandes, der Grundherren,
der Berufsvereinigungen und der anderen Gemeinschaften, nämlich
der Pflicht, für Nahrung, Unterkunft und Sicherheit der
ihnen anvertrauten Menschen zu sorgen.
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- 2.6. Konkurrenzkampf auf dem freien
Arbeitsmarkt
Viele Bauern wurden in der Folgezeit durch Verschuldung und Vertreibung
zu mittellosen Landarbeitern. Sie waren nun, ebenso wie die Gesellen
im Handwerk, auf sich selbst gestellt und mussten ihre Arbeitskraft
auf dem freien Markt anbieten.
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- 2.8. Bevölkerungswachstum und Landflucht
Mit der Auflösung der ständischen Ordnung entfiel auch
die erzwungene Beschränkung der Eheschließungen, zugleich
ließen die Erfolge der Medizin die Sterblichkeit zurückgehen.
Viele Kinder bedeuteten bisher Wohlstand und Sicherheit. Die
Folge war ein sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung. Immer
mehr Menschen drängten in die Fabriken und die sich schnell
bildenden Großstädte.
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- 2.9. Arbeit um jeden Preis
Tausende standen unter dem gleichen wirtschaftlichen Zwang: Sie
mussten ihre Arbeitskraft für jeden Preis anbieten und einen
Lohn hinnehmen, der kaum das Existenzminimum erreichte. Hinzu
kam die ständige Ungewissheit des Arbeiters, wovon er und
seine Familie leben sollten, wenn Krankheit, Arbeitslosigkeit
und Invalidität über sie hereinbrachen.
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- 3. Politische Hintergründe, die zur
Gründung der Sozialversicherungen führten
Bismarck hatte 1878 erkannt, dass zwei Entwicklungen den Bestand
der von ihm vertretenen monarchistischen Ordnung gefährdeten:
Industrialisierung und Wirtschaftskrise. Nach dem Krieg gegen
Frankreich und der Reichsgründung von 1871 wurde Deutschland
zum rasch wachsenden Industriestaat. Damit entstand eine neue
gesellschaftliche Kraft, die Arbeiterklasse. Sie erlebte die
Not, die Friedrich Engels am britischen Beispiel bereits 1844
dargestellt hatte, und wurde politisch aktiv. Krise und Arbeitslosigkeit
schienen die radikale Umgestaltung der Gesellschaft zu erzwungen.
Die Sozialdemokratie mit einem revolutionären Programm aber
einer reformerisch-gewerkschaftlichen Tagespolitik wurde schnell
zur Massenpartei.
Die Antwort auf die soziale Frage wollte Bismarck nicht der Linken
überlassen, die er vor dem Reichstag einmal als Feind
darstellte, gegen den der Staat, die Gesellschaft, sich im Stande
der Notwehr befindet. Die Gesellschaft war in der Tat polarisiert:
Adel, Militär, Großgrundbesitzer, Unternehmer und
Banken einerseits, Arbeiter und besitzlose Bauern andererseits
aber die zählte Bismarck nicht zur Gesellschaft.
Bismarck verfolgte eine Doppelstrategie. Erstens: Verbot der
Sozialdemokratie. 1978 erging das Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie. Bismarcks Kanzleramts-Präsident
Karl Hofmann sagte am 23. Mai 1878 vor dem Reichstag: Es
handelt sich darum, dass wir der Sozialdemokratie die Mittel
entziehen, welcher die Gesetzgebung ihr gibt, um durch Benutzung
der Presse, durch das Vereinswesen usw. öffentlich Propaganda
zu machen.
Zweiter Teil der Doppelstrategie war die Sozialgesetzgebung.
Bismarck erklärte dazu: Es ist nicht sicher, dass
der Arbeiter immer Arbeit haben wird, es ist nicht sicher, dass
er immer gesund ist, und er sieht voraus, dass er einmal alt
und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der
Armut auch nur durch längere Krankheit, so ist er darin
nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos (...),
auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet
hat.
Die Krankenversicherung wurde 1883 Gesetz. Ortskrankenkassen
bezahlten 13 (später 26) Wochen lang Krankengeld und finanzierten
ärztliche Betreuung und Medikamente. Ein Jahr darauf folgte
die Unfallversicherung. Sie sprang bei dauernder Berufsunfähigkeit
ein und unterstützte nach tödlichen die Hinterbliebenen.
Die Alters- und Invalidenversicherung kam 1889 hinzu. Wer weniger
als 2.000 Mark im Jahr verdiente, konnte vom 70. Lebensjahr an
Rente beanspruchen. Sie war je zur Hälfte von Arbeitern
und Unternehmern zu finanzieren.
Die drei Gesetze wurden 1911 zur Reichsversicherungsordnung zusammengefasst.
Das Sozialistengesetz war 1890 gefallen die Sozialdemokraten
stellten längst die stärkste Partei und waren staatstragend
und wirtschaftsunterstützend geworden.
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- 4. Die soziale Gesetzgebung
Der Liberalismus geht davon aus, dass der Tüchtige auch
wirtschaftlich erfolgreich ist, dass der Arme dies auf Grund
seiner Unfähigkeit und Faulheit ist, also zu Recht. Gegen
Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich auf Grund des Drucks der
Arbeiterbewegung immer mehr die Erkenntnis durch, dass die erschreckende
Armut breiter Arbeiterschichten nicht das Ergebnis ihrer Faulheit
oder Unfähigkeit war, sondern dass die Schuld in den wirtschaftlichen,
rechtlichen und sozialen Verhältnissen zu suchen war. Wenn
diese Missstände beseitigt werden sollten, dann durfte man
die soziale Frage nicht mehr alleine der Wirtschaft überlassen,
hier musste der Staat mit Gesetzen eingreifen und versuchen,
eine neue Form der sozialen Sicherung zu schaffen.
Aus dieser Erkenntnis heraus wurden die Sozialversicherungen
als Zwangsversicherungen gesetzlich eingeführt, und zwar
1883 die Krankenversicherung
1884 die Unfallversicherung
1889 die Invalidenversicherung für Arbeiter
1911 die Angestelltenversicherung und die Reichsversicherungsordnung
1927 die Arbeitslosenversicherung
Damit war der Kern des Versicherungswesens geschaffen und zugleich
ein Prozess eingeleitet, der bis heute durch Ergänzungen
und Veränderungen in Bewegung geblieben ist und hoffentlich
auch in Zukunft fortgeführt werden wird.
Die Anpassung sowohl an neue Verhältnisse wie auch an gewandelte
soziale Vorstellungen ergaben z.B.:
1938 die Altersversorgung für das Handwerk
1949 die Anpassung der Sozialversicherungen an die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland
1957 die Neuregelung der Rentenversicherung für Arbeiter
und Angestellte
1957 die Altershilfe für Landwirte
1965 die Verbesserung der Leistungen im Krankheitsfalle
1969 das Ausbildungsförderungsgesetz
1970 die Lohnfortzahlung für erkrankte Arbeiter
1972 die Öffnung der Rentenversicherung für alle Bevölkerungsschichten
und die Einführung der flexiblen Altersgrenze
1995 die Einführung der Pflegeversicherung
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- 5. Die Zukunft des Sozialsystems
Es zeigen sich zwei Wege, und jeder dieser Wege hat verschiedene
Variationen. Der Skandal ist ja, dass unsere Einnahmen für
unserer geleistete Erwerbsarbeit nicht ausreichen, zu leben,
besonders in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Behinderung,
Alter und Pflege. Es gibt neuerdings auch bei uns Arbeitsverhältnisse,
deren Entlohnung nicht einmal ausreicht, für Essen und Unterkunft
zu sorgen. Das ist eine Schade. Die Menschen, die die Werte der
Gesellschaft erarbeiten, erhalten dafür nicht einmal genug,
um leben zu können. Andererseits gibt es Menschen, die sich
in solchen Positionen befinden, dass ihnen die erarbeiteten Werte
einfach ständig zufließen. Wer zu viel Geld kommt,
verbraucht es mit der Zeit. Richtig reich in unserer Gesellschaft
ist der, dem die Werte ständig zufließen. Dieses Ungerechtigkeitsproblem
ist so lange nicht lösbar, wie wir ein marktwirtschaftliches
System haben.
Innerhalb der vorherrschenden wirtschaftlichen Ordnung gibt es
zwei denkbare Wege. Sie haben unterschiedliche Auswirkungen auf
unser Leben und die gesamte Gesellschaft.
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- 5.1. Der neoliberalkonservative Weg
Die Krankenversicherung soll so umgestaltet werden, dass sie
auch mit Gewinn privatisiert werden kann, also nicht mehr nach
dem Solidarprinzip. Als erster Schritt ist eine Kopfpauschale
für jede versicherte Person vorgesehen, und die Leistungen
der Kasse beschränken sich aufs Notwendigste. Zwar ist dies
ein Schritt in Richtung auf eine auf Gewinn orientierten Privatversicherung,
doch wer nicht genug verdient, die Pauschale für alle Familienmitglieder
aufzubringen, muss dies aus der Sozialhilfe erhalten, bei Offenlegung
der persönlichen Verhältnisse.
Bezüglich Rente soll die Grundrente von der gesetzlichen
Versicherung bezahlt werden. Alles andere soll privat erfolgen.
Das Arbeitsamt soll abgeschafft werden, alle Zahlungen bei Arbeitslosigkeit
erfolgen über das Sozialamt. Bei den Sozialversicherungen
soll der Arbeitgeberanteil eingefroren werden, bei höheren
Kosten steigt dann eben der Arbeitnehmeranteil mehr. Das ganze
soll darauf hinauslaufen, dass man entweder privat versichert
ist oder Pech hat. In den USA gibt es auch so eine Art Sozialhilfe
und Almosen über diverse religiöse Organisationen.
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- 5.2. Der soziale Weg
Viele haben hier Ideen, die wichtigste ist die Bürgerversicherung.
Auch Aktiengewinne usw. sollen in das Sozialsystem mit einbezogen
werden, was den Charakter einer Steuer hat. So könnte tatsächlich
in der Form eines Umlagesystems ein soziales Sicherungsnetz bestehen
bleiben. Aber gibt es eine Partei, die wirklich den Kampf mit
mächtigen Versicherungskonzernen und Banken aufnehmen würde?
Nach Professor Opielka aus Weimar bräuchte es nur noch zwei
Versicherungen geben: eine Versicherung, die den Menschen eine
Grundsicherung garantiert und eine, die die übrigen Probleme
wie Arztbesuch, Pflege und Medikamente abdecken soll. Die erste
Form nennt er die Grundsicherungsversicherung und die zweite
die Krankenversicherung.
Derzeit zahlen wir in die gesetzliche Versicherung folgende Beträge
ein: In die Krankenkasse ca. 14%, die Rentenversicherung derzeit
19%, in die Arbeitslosenversicherung 6,5%, die Pflegeversicherung
1,7%, das sind zusammen 41,2%. Davon trägt der Arbeitnehmer
die Hälfte von seinem Brutto, also 20,6% und der Arbeitgeber
als Lohnkosten zum Brutto noch 20,6%, zuzüglich noch die
betriebliche Unfallversicherung, deren Höhe vom Gefährdungsgrad
des Arbeitnehmers am jeweiligen Arbeitsplatzes abhängig
ist.
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- 5.2. Die Grundsicherungsversicherung
Opielka schlägt vor: Statt Sozialhilfe, Arbeitslosengeld,
Krankengeld und Rente soll es eine pauschale Grundversorgung
von ca. 640 Euro geben, die Grundrente 740 Euro. Das ist mehr
als derzeit 50% der RentnerInnen erhalten. Wer mehr haben will,
muss zusätzlich eine private Versicherung abschließen.
Wer noch nicht gearbeitet und eingezahlt hat, bekommt die Hälfte
davon als Kredit. Finanziert werden soll das ganze, indem von
allen Gewinnen (einschließlich Einkommen) 17,5% eingezahlt
werden sollen. Das ist weit weniger, als derzeit bezahlt wird.
Die hohe Prozentsumme ergibt sich aus den derzeit höheren
erarbeiteten Rentenansprüchen, die erst noch abgezahlt werden
müssen. Diese Grundsicherungsversicherung solle ein erster
Schritt in die Richtung eines Grundgehaltes sein, das allen Bürgern
eines Landes zustehen soll.
Es ist anzunehmen, dass viele Unternehmer gerade dieses Modell
ablehnen, weil dies eine Art Grundlohn darstellt, den sie nicht
unterschreiten könnten.
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- 5.2.2. Die Krankenversicherung
Hinzu käme eine Versicherung, die Aufgaben der bisherigen
Krankenkasse übernimmt, ohne das Krankengeld. Außerdem
die medizinischen Folgen eines Arbeitsunfalles oder Ähnliches.
Hinzu käme die häusliche oder stationäre Pflege,
also was bisher die Pflegeversicherung bezahlt. Allerdings müssten
von dieser Versicherung die Pflegekosten in voller Höhe
übernommen werden, währen die Grundsicherungsversicherung
die Versorgungskosten in voller Höhe übernehmen müsste,
da die Rente der betreffenden Menschen in der Regel dazu nicht
ausreichen würde..
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- 6. Resümee
Die deutsche Bundesrepublik muss nicht unbedingt noch weiter
schrittweise sozial abrutschen, bis alle Sozialstandarts verschwunden
sind. Es tut mir leid: ob die Kapitalbesitzer eine genügend
hohe Rendite erhalten, liegt mir deutlich ferner als das soziale
Wohlergehen nahezu der gesamten Bevölkerung. Und wann wäre
es denn den Kapitalbesitzern genug?
Es kann aber doch nicht angehen, dass ausgerechnet die Menschen,
die mit ihrer Arbeit ein Leben lang dafür sorgen, dass die
Kapitalrendite für die Besitzer möglichst hoch ist,
dass ausgerechnet die Arbeitnehmer ständig rundum geschröpft
werden und schließlich noch um ihre Rente bangen müssen.
Ich glaube kaum, dass der Sozialabbau durch die anstehende Bundestagswahl
wirkungsvoll gestoppt werden kann. Die drei Parteien, die am
skrupellosesten den Sozialabbau über den Bundesrat betreiben,
der Bürgerblock aus CSU/CDU/FDP, können nun nicht von
uns einfach gewählt werden. Aber es ist vielleicht möglich,
ein wirkungsvolles Signal dagegen zu setzen.
Die beiden Parteien, die sich vom Bürgerblock vor sich hertreiben
ließen, die so gerne die Bundestagswahl 2002 verloren hätten,
beinahe wäre es ihnen geglückt, SPD und Bündnis
90/ die Grünen, können auch kaum für das belohnt
werden, was sie im Bundestag zusammen mit dem über den Bundesrat
regierenden Bürgerblock zusammen veranstaltet haben. Kann
man ihnen glauben, das sie Schlimmeres mit ihren Reformen verhindern
wollten?
Die SPD ist dafür bekannt, dass sie in der Regel politischem
Druck nachgibt, und der kam während ihrer 2. Regierungszeit
in dieser verkürzten Legislaturperiode ausschließlich
von den Unternehmerverbänden und der Union.
Unabhängig von ihrer Stärke, mit der sie in den Bundestag
einzieht, besteht die Möglichkeit einer großen Koalition.
Auf jeden Fall wäre ein Druck von links möglicherweise
wirkungsvoll. Voraussetzung ist, dass die Linkspartei nicht zur
zweiten SPD wird, um mit ihr in einen Wettlauf zugunsten der
Kapitalbesitzer einzutreten. (js)
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