84. LUST (Herbst 05)
 
Über die Sozialversicherungen
Die gesetzlichen und die privaten Versicherungen, die vergangenen Jahre und die Zukunft: Kopfpauschale und Bürgerversicherung? Was wird und was ist mit der Rente?
 
1. Das vorherrschende Versicherungssystem
Heutzutage wird über die gesetzlichen und die privaten Sozialversicherungen gestritten. Hier also kurz der Unterschied: Die gesetzlichen Versicherungen sind Pflichtversicherungen und das müssen sie auch sein, weil sie sonst nicht funktionieren würden.

Gesetzliche Kassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie sind nicht privat und nicht staatlich, gehören sozusagen den Versicherten. Die Versicherten übern ihren Einfluss durch die Sozialwahlen aus, bei denen sie ihre Vertreter in die Vertreterversammlung senden. Sie funktionieren nach dem Solidaritätsprinzip. Solidaritätsprinzip heißt: die Versicherten zahlen nach ihren Möglichkeiten ein, also nach der Höhe ihrer Einkommen. Sie erhalten nach ihren Notwendigkeiten, also was sie brauchen, unabhängig der Höhe der Einzahlungen. Die Familienangehörigen sind mit versichert.

Private Kassen sind Unternehmen, die Gewinne abzuwerfen haben. Sie gehören z.B. den Aktionären, wenn es sich um Aktiengesellschaften handelt, oder den Aktionären der entsprechenden Banken. Die Höhe der Einzahlung ist von zwei Faktoren abhängig: 1. Welcher Risikogruppe man angehört (Alter, Vorerkrankung usw.) und 2. Welche Risiken versichert werden sollen. Man erhält also entsprechend seiner Einzahlungen. Wer nicht viel einzahlt, erhält im Schadensfall auch nicht viel. Junge Menschen zahlen wegen der geringeren Erkrankungshäufigkeit wenig, ältere ein Vielfaches davon. Die Familienangehörigen sind nicht mit versichert. Entsprechend einer Kopfpauschale, die bei den C-Parteien für die gesetzlichen Sozialversicherungen gegenwärtig im Gespräch ist, muss für jeden Versicherten getrennt eingezahlt werden.

Dieses Prinzip wird bei der Kranken-, der Unfall- und der Pflegeversicherung in dieser Form angewandt, bei der Pflegeversicherung gibt es jedoch eine Obergrenze der Zahlungen, bei der Krankenversicherung noch weitere Zuzahlungen der Patienten im Anspruchsfall.
Gesetzliche Versicherungen arbeiten nach dem Umlageverfahren, das eingezahlte Geld wird sofort für andere ausgegeben. Wenn Überschüsse da sind, werden diese an den Staat verliehen. Wenn das Geld nicht ausreicht, muss der Staat aus Steuermitteln helfen. Dem kann er sich entziehen, indem er die Gesetze ändert. Private Kassen legen die eingenommenen Gelder an, aber wenn sie damit keine Gewinne machen, kann es sein, dass die angesparten Gelder verloren sind.

Bei den Krankenkassen erhalten die Versicherten das, was sie brauchen. Und sie zahlen das, was sie können. Dennoch ist seit Kohls Regierungszeit, der die soziale Hängematte kritisierte, dieses Prinzip durch erhöhte Zuzahlungen zunehmend durchbrochen worden, und besonders die rotgrüne Regierung hat diesen Weg noch beschleunigt, hin zu ergänzenden privaten Versicherungen.

Bei der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung zahlen die Beteiligten auch nach der Höhe ihres Einkommens ein und erhalten Leistungen in Bezug auf die Höhe ihres Einkommens. Da die Auszahlungen der gesetzlichen Rentenversicherungen zunehmend abgespeckt werden, ist angeraten, zusätzlich eine private Rentenversicherung abzuschließen. Die sogenannte Riester-Rente verlangt zum Beispiel von den Versicherungen, dass am Ende auch eine Rente da ist. Eine staatliche Förderung solcher Verträge ist von einer Kontrolle der Verträge abhängig. Die Versicherungsunternehmen beklagen deshalb, dass sich diese Verträge für sie nicht lohnen. Die FDP hingegen, die gerne die gesetzlichen Versicherungen zugunsten der privaten abschaffen möchte, verlangt, dass mit den angesparten Versicherungsgeldern vom Versicherten besser “gewirtschaftet”, also spekuliert werden kann. Das würde kleinen VersicherungsberaterInnen Jobs verschaffen, aber ihre Ratschläge wären doch nicht immer zugunsten der Versicherten.
 
1.1. Um was geht es beim Sozialabbau?
Die Marktwirtschaft ist an ihre Grenzen gekommen. Überall dort, wo man mit Investitionen große Gewinne realisieren kann, steckt das Kapital großer Fonts und “Geldgeber” schon drin. Aber es gibt noch Gelder, die von den großen Geldgebern nicht abgeerntet werden können, das sind die staatlichen Gelder und der öffentlich-rechtliche Sozialbereich. Diese Versicherungen uns staatlichen Ausgaben abzubauen, nennt man Neoliberalismus, weil früher die Liberalen auch die soziale Frage dem Markt überlassen wollten.
Dieser Sozialbereich, die öffentlich-rechtlichen Sozialversicherungen, sind die Begründung dafür, dass Generationen von Schulkindern in Deutschland lernten, bei uns regiere nicht der krasse Kapitalismus, sondern wir hätten eine soziale Marktwirtschaft.

Reich ist nicht unbedingt, wer Geld besitzt, weil sich das verzehrt. Sondern reich ist, wer dort sitzt, wo Gelder hinfließen. Und wenn die renditeträchtigen Bereiche der Gesellschaft schon vergeben sind, möchte man an das Kapital ran, was sich in den Händen der Sozialsysteme befindet oder was staatlich verwaltet wird. Die EU hat die GATS-Verträge unterzeichnet, in denen es um die Umwandlung der staatlichen und öffentlich-rechtlichen Sozialsysteme in private Systeme geht, damit diese privaten Systeme dann für Kapitalanwender eine Rendite abwerfen können. Dazu müssen sie aber auch schrittweise umgestaltet werden.

Die Sozialversicherungen sind die marktwirtschaftliche Antwort auf die revolutionäre Arbeiterbewegung gewesen, um die Arbeiter davon abzubringen, ihre Hoffnungen auf die Arbeiterbewegung zu stützen. Anscheinend ist es nun nicht mehr nötig, die Arbeiter zufrieden zu stellen und sie der Arbeiterbewegung abzuwerben.

Im Zuge der neuen Bestrebungen sowohl der Unternehmerverbände als auch der “öffentlichen Meinung” gelten die Sozialversicherungen als nicht mehr zahlbar, obwohl man eigentlich nur die Gruppe der EinzahlerInnen zu vergrößern bräuchte, denn der Anteil der Bevölkerung, der über andere Wege als der Lohnarbeit ihr Geld verdienen, nimmt prozentual ab. Das liegt im wesentlichen an der Arbeitslosigkeit. Die Gehälter der ArbeitnehmerInnen werden gedrückt, so dass die Einzahlungen auch sinken, während die Rendite in der Pharmazie und in den anderen Bereichen, die ihre Gewinne aus den Sozialsystemen ziehen, nach Möglichkeit steigen sollen. Das aus der Arbeit der Arbeitnehmer gewonnenen Kapital wird nicht zur Finanzierung der sozialen Sicherheit hinzugezogen. Beamte zahlen in die Kassen nicht ein. Eine Bürgerversicherung, in die auch derzeit nicht versicherungspflichtige Besserverdienende einzahlen, könnte die Zahlungsprobleme lösen, und dafür gibt es im europäischen Ausland vielfache Beispiele. Die Unionsparteien und die FDP wollen schneller als die gegenwärtige Regierung hin zu privaten Sozialsystemen. Dies würde allerdings ins soziale Chaos führen.
 
2. Soziale Sicherung als Grundlage des Arbeitsfriedens
Durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wurde eine Entwicklung ausgelöst, die in kurzer Zeit technischwirtschaftlichen Fortschritt sowie sozialen und gesellschaftlichen Umbruch brachte, wie es bisher in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt wurde. Der Beginn dieser Epoche war von sozialer Not, Armut und Elend begleitet. Zu den Ursachen dieser Armut gehört auch, dass die bis dahin über Jahrhunderte gültigen Formen der sozialen Sicherheit aufgelöst wurden.
 
2.1. Formen sozialer Sicherung in vorindustrieller Zeit
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass uns die Industriegesellschaft soziale Sicherheit geschenkt hätte. Soziale Sicherheit hat es nie gegeben. Und die Zustände für die sogenannten kleinen Leute in der Gesellschaft waren im 19. Jahrhundert katastrophal, wodurch die Arbeiterbewegung entstand. Im 20. Jahrhundert gab es daher unterschiedlicher Formen einer größeren sozialen Sicherheit. Es sieht so aus, also ob das 21. Jahrhundert wieder großes Elend und große Armut für den Mittelstand und die ArbeitnehmerInnen bringen wird. Schauen wir uns die Formen sozialer Sicherheit im 19. Und 20. Jahrhundert an.
 
2.2. Die Großfamilie
Sie hatte u.a. die Aufgabe, ihren Mitgliedern Schutz, Unterhalt und Geborgenheit zu geben. Hier lebten in der Regel 3 Generationen zusammen, aber auch unverheiratete Verwandte und Dienstkräfte. Das gilt sowohl für die Landwirtschaft, wo 80% der Bevölkerung lebten, wie auch für das städtische Handwerk. Die Großfamilien bildeten eine Hersteller- und Verbrauchergemeinschaft, denn die Produktion spielte sich weitgehend im Rahmen der Familie ab. Lehrlinge und Gesellen, Knechte und Mägde, die außerhalb der eigenen Familie tätig sein mussten, waren voll in die Familie des Brotherren einbezogen.
 
2.3. Soziale Hilfen durch ständische Organisationen und Gemeinschaften
Die soziale und wirtschaftliche Stellung des Menschen wurde in der Vergangenheit weitgehend von seiner Geburt bestimmt. Ohne dass er in der Regel darauf Einfluss nehmen konnte, war er sein Leben lang in eine bestimmte Bevölkerungs- bzw. Berufsschicht, einen Stand, und deren Organisationen eingegliedert. Gutsherrschaften, Dorfgemeinschaften und Kirchengemeinden, ebenso Berufsverbände wie Zünfte und Gilden hatten die Aufgabe, soweit es in ihren Kräften stand, durch vielfältige Maßnahmen allen ein lebenssicherndes und standesgemäßes Einkommen zu ermöglichen. So durfte z.B. nur derjenige heiraten und eine Familie gründen, der auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen besaß, um sie zu ernähren (Bauernstelle, Handwerksbetrieb).
 
Auf diesem Wege war es in gewissem Rahmen möglich, das Bevölkerungswachstum sowie die Arbeits- und besonders die Ernährungsmöglichkeiten aufeinander abzustimmen.

Eine selbstverständliche Nachbarschaftshilfe stand in Notfällen zur Verfügung, die von der einzelnen Familie nicht mehr gemeistert werden konnten. Hinzu kam eine Armenunterstützung, in der Regel organisiert von berufsständischen Gemeinschaften, besonders aber von der Kirche. Trotz solcher Maßnahmen blieb natürlich auch in diesem Zeitalter genug Hunger und Elend übrig, wenn man bedenkt, dass in manchen Notzeiten die Zahl der Bettler und Landstreicher für uns unvorstellbare Ausmaße annahm.

Dieses System verfiel mit dem Auftauchen der Marktwirtschaft, und anfänglich hatte man die Auffassung, dass jeder, der etwas taugt, es schon zu etwas bringt. Und wer versagt, sei selber schuld.
 
2.4. Auflösung der alten Formen sozialer Sicherung
Die industrielle Revolution wurde von neuen Vorstellungen von der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit des Menschen begleitet, dem Liberalismus. Die neuen wirtschaftlichen Strukturen und die neuen gesellschaftlichen Ideale
- lockerten den Zwang der ständischen Ordnung,
- wandelten in den Industriestaaten die Großfamilie zur Kleinfamilie,
- ließen die Zünfte und Gilden im Rahmen einer Gewerbe- und Handelsfreiheit bedeutungslos werden,
- banden den Bauern nach Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der Leibeigenschaft nicht mehr an Grund und Boden des Gutsherren, vertrieben ihn aber auch von Grund und Boden.
 
2.5. Verlust der Fürsorgepflicht
Mit der neugewonnenen Freiheit, Freizügigkeit und Selbständigkeit auf der einen Seite entfiel aber auf der anderen Seite immer mehr die alte Aufgabe des Familienverbandes, der Grundherren, der Berufsvereinigungen und der anderen Gemeinschaften, nämlich der Pflicht, für Nahrung, Unterkunft und Sicherheit der ihnen anvertrauten Menschen zu sorgen.
 
2.6. Konkurrenzkampf auf dem „freien Arbeitsmarkt“
Viele Bauern wurden in der Folgezeit durch Verschuldung und Vertreibung zu mittellosen Landarbeitern. Sie waren nun, ebenso wie die Gesellen im Handwerk, auf sich selbst gestellt und mussten ihre Arbeitskraft auf dem freien Markt anbieten.
 
2.8. Bevölkerungswachstum und Landflucht
Mit der Auflösung der ständischen Ordnung entfiel auch die erzwungene Beschränkung der Eheschließungen, zugleich ließen die Erfolge der Medizin die Sterblichkeit zurückgehen. Viele Kinder bedeuteten bisher Wohlstand und Sicherheit. Die Folge war ein sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung. Immer mehr Menschen drängten in die Fabriken und die sich schnell bildenden Großstädte.
 
2.9. Arbeit um jeden Preis
Tausende standen unter dem gleichen wirtschaftlichen Zwang: Sie mussten ihre Arbeitskraft für jeden Preis anbieten und einen Lohn hinnehmen, der kaum das Existenzminimum erreichte. Hinzu kam die ständige Ungewissheit des Arbeiters, wovon er und seine Familie leben sollten, wenn Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität über sie hereinbrachen.
 
3. Politische Hintergründe, die zur Gründung der Sozialversicherungen führten
Bismarck hatte 1878 erkannt, dass zwei Entwicklungen den Bestand der von ihm vertretenen monarchistischen Ordnung gefährdeten: Industrialisierung und Wirtschaftskrise. Nach dem Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung von 1871 wurde Deutschland zum rasch wachsenden Industriestaat. Damit entstand eine neue gesellschaftliche Kraft, die Arbeiterklasse. Sie erlebte die Not, die Friedrich Engels am britischen Beispiel bereits 1844 dargestellt hatte, und wurde politisch aktiv. Krise und Arbeitslosigkeit schienen die radikale Umgestaltung der Gesellschaft zu erzwungen. Die Sozialdemokratie mit einem revolutionären Programm aber einer reformerisch-gewerkschaftlichen Tagespolitik wurde schnell zur Massenpartei.

Die Antwort auf die soziale Frage wollte Bismarck nicht der Linken überlassen, die er vor dem Reichstag einmal als “Feind” darstellte, gegen den der Staat, die Gesellschaft, sich im “Stande der Notwehr” befindet. Die Gesellschaft war in der Tat polarisiert: Adel, Militär, Großgrundbesitzer, Unternehmer und Banken einerseits, Arbeiter und besitzlose Bauern andererseits – aber die zählte Bismarck nicht zur “Gesellschaft”.

Bismarck verfolgte eine Doppelstrategie. Erstens: Verbot der Sozialdemokratie. 1978 erging das “Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie”. Bismarcks Kanzleramts-Präsident Karl Hofmann sagte am 23. Mai 1878 vor dem Reichstag: “Es handelt sich darum, dass wir der Sozialdemokratie die Mittel entziehen, welcher die Gesetzgebung ihr gibt, um durch Benutzung der Presse, durch das Vereinswesen usw. öffentlich Propaganda zu machen.”

Zweiter Teil der Doppelstrategie war die Sozialgesetzgebung. Bismarck erklärte dazu: “Es ist nicht sicher, dass der Arbeiter immer Arbeit haben wird, es ist nicht sicher, dass er immer gesund ist, und er sieht voraus, dass er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos (...), auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat.”

Die Krankenversicherung wurde 1883 Gesetz. Ortskrankenkassen bezahlten 13 (später 26) Wochen lang Krankengeld und finanzierten ärztliche Betreuung und Medikamente. Ein Jahr darauf folgte die Unfallversicherung. Sie sprang bei dauernder Berufsunfähigkeit ein und unterstützte nach tödlichen die Hinterbliebenen. Die Alters- und Invalidenversicherung kam 1889 hinzu. Wer weniger als 2.000 Mark im Jahr verdiente, konnte vom 70. Lebensjahr an Rente beanspruchen. Sie war je zur Hälfte von Arbeitern und Unternehmern zu finanzieren.

Die drei Gesetze wurden 1911 zur Reichsversicherungsordnung zusammengefasst. Das Sozialistengesetz war 1890 gefallen – die Sozialdemokraten stellten längst die stärkste Partei und waren staatstragend und wirtschaftsunterstützend geworden.
 
4. Die soziale Gesetzgebung
Der Liberalismus geht davon aus, dass der Tüchtige auch wirtschaftlich erfolgreich ist, dass der Arme dies auf Grund seiner Unfähigkeit und Faulheit ist, also zu Recht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich auf Grund des Drucks der Arbeiterbewegung immer mehr die Erkenntnis durch, dass die erschreckende Armut breiter Arbeiterschichten nicht das Ergebnis ihrer Faulheit oder Unfähigkeit war, sondern dass die Schuld in den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Verhältnissen zu suchen war. Wenn diese Missstände beseitigt werden sollten, dann durfte man die soziale Frage nicht mehr alleine der Wirtschaft überlassen, hier musste der Staat mit Gesetzen eingreifen und versuchen, eine neue Form der sozialen Sicherung zu schaffen.

Aus dieser Erkenntnis heraus wurden die Sozialversicherungen als Zwangsversicherungen gesetzlich eingeführt, und zwar
1883 die Krankenversicherung
1884 die Unfallversicherung
1889 die Invalidenversicherung für Arbeiter
1911 die Angestelltenversicherung und die Reichsversicherungsordnung
1927 die Arbeitslosenversicherung
Damit war der Kern des Versicherungswesens geschaffen und zugleich ein Prozess eingeleitet, der bis heute durch Ergänzungen und Veränderungen in Bewegung geblieben ist und hoffentlich auch in Zukunft fortgeführt werden wird.

Die Anpassung sowohl an neue Verhältnisse wie auch an gewandelte soziale Vorstellungen ergaben z.B.:
1938 die Altersversorgung für das Handwerk
1949 die Anpassung der Sozialversicherungen an die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland
1957 die Neuregelung der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte
1957 die Altershilfe für Landwirte
1965 die Verbesserung der Leistungen im Krankheitsfalle
1969 das Ausbildungsförderungsgesetz
1970 die Lohnfortzahlung für erkrankte Arbeiter
1972 die Öffnung der Rentenversicherung für alle Bevölkerungsschichten und die Einführung der „flexiblen Altersgrenze“
1995 die Einführung der Pflegeversicherung
 
5. Die Zukunft des Sozialsystems
Es zeigen sich zwei Wege, und jeder dieser Wege hat verschiedene Variationen. Der Skandal ist ja, dass unsere Einnahmen für unserer geleistete Erwerbsarbeit nicht ausreichen, zu leben, besonders in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Behinderung, Alter und Pflege. Es gibt neuerdings auch bei uns Arbeitsverhältnisse, deren Entlohnung nicht einmal ausreicht, für Essen und Unterkunft zu sorgen. Das ist eine Schade. Die Menschen, die die Werte der Gesellschaft erarbeiten, erhalten dafür nicht einmal genug, um leben zu können. Andererseits gibt es Menschen, die sich in solchen Positionen befinden, dass ihnen die erarbeiteten Werte einfach ständig zufließen. Wer zu viel Geld kommt, verbraucht es mit der Zeit. Richtig reich in unserer Gesellschaft ist der, dem die Werte ständig zufließen. Dieses Ungerechtigkeitsproblem ist so lange nicht lösbar, wie wir ein marktwirtschaftliches System haben.
Innerhalb der vorherrschenden wirtschaftlichen Ordnung gibt es zwei denkbare Wege. Sie haben unterschiedliche Auswirkungen auf unser Leben und die gesamte Gesellschaft.
 
5.1. Der neoliberalkonservative Weg
Die Krankenversicherung soll so umgestaltet werden, dass sie auch mit Gewinn privatisiert werden kann, also nicht mehr nach dem Solidarprinzip. Als erster Schritt ist eine Kopfpauschale für jede versicherte Person vorgesehen, und die Leistungen der Kasse beschränken sich aufs Notwendigste. Zwar ist dies ein Schritt in Richtung auf eine auf Gewinn orientierten Privatversicherung, doch wer nicht genug verdient, die Pauschale für alle Familienmitglieder aufzubringen, muss dies aus der Sozialhilfe erhalten, bei Offenlegung der persönlichen Verhältnisse.

Bezüglich Rente soll die Grundrente von der gesetzlichen Versicherung bezahlt werden. Alles andere soll privat erfolgen. Das Arbeitsamt soll abgeschafft werden, alle Zahlungen bei Arbeitslosigkeit erfolgen über das Sozialamt. Bei den Sozialversicherungen soll der Arbeitgeberanteil eingefroren werden, bei höheren Kosten steigt dann eben der Arbeitnehmeranteil mehr. Das ganze soll darauf hinauslaufen, dass man entweder privat versichert ist oder Pech hat. In den USA gibt es auch so eine Art Sozialhilfe und Almosen über diverse religiöse Organisationen.
 
5.2. Der soziale Weg
Viele haben hier Ideen, die wichtigste ist die Bürgerversicherung. Auch Aktiengewinne usw. sollen in das Sozialsystem mit einbezogen werden, was den Charakter einer Steuer hat. So könnte tatsächlich in der Form eines Umlagesystems ein soziales Sicherungsnetz bestehen bleiben. Aber gibt es eine Partei, die wirklich den Kampf mit mächtigen Versicherungskonzernen und Banken aufnehmen würde?

Nach Professor Opielka aus Weimar bräuchte es nur noch zwei Versicherungen geben: eine Versicherung, die den Menschen eine Grundsicherung garantiert und eine, die die übrigen Probleme wie Arztbesuch, Pflege und Medikamente abdecken soll. Die erste Form nennt er die Grundsicherungsversicherung und die zweite die Krankenversicherung.

Derzeit zahlen wir in die gesetzliche Versicherung folgende Beträge ein: In die Krankenkasse ca. 14%, die Rentenversicherung derzeit 19%, in die Arbeitslosenversicherung 6,5%, die Pflegeversicherung 1,7%, das sind zusammen 41,2%. Davon trägt der Arbeitnehmer die Hälfte von seinem Brutto, also 20,6% und der Arbeitgeber als Lohnkosten zum Brutto noch 20,6%, zuzüglich noch die betriebliche Unfallversicherung, deren Höhe vom Gefährdungsgrad des Arbeitnehmers am jeweiligen Arbeitsplatzes abhängig ist.
 
5.2. Die Grundsicherungsversicherung
Opielka schlägt vor: Statt Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Krankengeld und Rente soll es eine pauschale Grundversorgung von ca. 640 Euro geben, die Grundrente 740 Euro. Das ist mehr als derzeit 50% der RentnerInnen erhalten. Wer mehr haben will, muss zusätzlich eine private Versicherung abschließen. Wer noch nicht gearbeitet und eingezahlt hat, bekommt die Hälfte davon als Kredit. Finanziert werden soll das ganze, indem von allen Gewinnen (einschließlich Einkommen) 17,5% eingezahlt werden sollen. Das ist weit weniger, als derzeit bezahlt wird. Die hohe Prozentsumme ergibt sich aus den derzeit höheren erarbeiteten Rentenansprüchen, die erst noch abgezahlt werden müssen. Diese Grundsicherungsversicherung solle ein erster Schritt in die Richtung eines Grundgehaltes sein, das allen Bürgern eines Landes zustehen soll.

Es ist anzunehmen, dass viele Unternehmer gerade dieses Modell ablehnen, weil dies eine Art Grundlohn darstellt, den sie nicht unterschreiten könnten.
 
5.2.2. Die Krankenversicherung
Hinzu käme eine Versicherung, die Aufgaben der bisherigen Krankenkasse übernimmt, ohne das Krankengeld. Außerdem die medizinischen Folgen eines Arbeitsunfalles oder Ähnliches. Hinzu käme die häusliche oder stationäre Pflege, also was bisher die Pflegeversicherung bezahlt. Allerdings müssten von dieser Versicherung die Pflegekosten in voller Höhe übernommen werden, währen die Grundsicherungsversicherung die Versorgungskosten in voller Höhe übernehmen müsste, da die Rente der betreffenden Menschen in der Regel dazu nicht ausreichen würde..
 
6. Resümee
Die deutsche Bundesrepublik muss nicht unbedingt noch weiter schrittweise sozial abrutschen, bis alle Sozialstandarts verschwunden sind. Es tut mir leid: ob die Kapitalbesitzer eine genügend hohe Rendite erhalten, liegt mir deutlich ferner als das soziale Wohlergehen nahezu der gesamten Bevölkerung. Und wann wäre es denn den Kapitalbesitzern genug?

Es kann aber doch nicht angehen, dass ausgerechnet die Menschen, die mit ihrer Arbeit ein Leben lang dafür sorgen, dass die Kapitalrendite für die Besitzer möglichst hoch ist, dass ausgerechnet die Arbeitnehmer ständig rundum geschröpft werden und schließlich noch um ihre Rente bangen müssen.

Ich glaube kaum, dass der Sozialabbau durch die anstehende Bundestagswahl wirkungsvoll gestoppt werden kann. Die drei Parteien, die am skrupellosesten den Sozialabbau über den Bundesrat betreiben, der Bürgerblock aus CSU/CDU/FDP, können nun nicht von uns einfach gewählt werden. Aber es ist vielleicht möglich, ein wirkungsvolles Signal dagegen zu setzen.

Die beiden Parteien, die sich vom Bürgerblock vor sich hertreiben ließen, die so gerne die Bundestagswahl 2002 verloren hätten, beinahe wäre es ihnen geglückt, SPD und Bündnis 90/ die Grünen, können auch kaum für das belohnt werden, was sie im Bundestag zusammen mit dem über den Bundesrat regierenden Bürgerblock zusammen veranstaltet haben. Kann man ihnen glauben, das sie Schlimmeres mit ihren Reformen verhindern wollten?

Die SPD ist dafür bekannt, dass sie in der Regel politischem Druck nachgibt, und der kam während ihrer 2. Regierungszeit in dieser verkürzten Legislaturperiode ausschließlich von den Unternehmerverbänden und der Union.

Unabhängig von ihrer Stärke, mit der sie in den Bundestag einzieht, besteht die Möglichkeit einer großen Koalition.
Auf jeden Fall wäre ein Druck von links möglicherweise wirkungsvoll. Voraussetzung ist, dass die Linkspartei nicht zur zweiten SPD wird, um mit ihr in einen Wettlauf zugunsten der Kapitalbesitzer einzutreten. (js)
 
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