84. LUST (Hebst 05)
 
Religionen sind wieder im Kommen
Peter Scholl-Latour: „Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Aufklärung (...). Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Religionen werden.” Christentum und Islam scheinen im Aufwind zu sein. Aber auch andere religiöse Richtungen bekommen Zulauf. Sehnsucht nach Besserem? Trost durch Eskap-ismus? Religionen sind in weltliche Organisationsformen eingebunden, mit politisch/weltlichem Einfluss. Das beeinflusst auch speziell unser Leben.
 
Einleitung
Das von mir in einer Talkshow gehörte Zitat von Scholl-Latour ging noch weiter. Er meinte, dass das 20 Jahrhundert neben der Aufklärung auch die beiden furchtbarsten und menschenverachtensten Diktaturen hervorgebracht habe: den Faschismus und den Stalinismus.

Scholl-Latour geht mit den Phänomenen der Welt so um wie ein Arzt, der die Symptome beschreibt, den Auswuchs des bürgerlichen Kapitalismus: den Faschismus, und den Stalinismus wie auch die mörderische Pol-Pot-Diktatur in Kambodcha als Produkt eines falschgelaufenen Versuches, den Sozialismus herzustellen. Scholl-Latour benennt die Symptome der Krankheit aber nicht die Ursachen der Krankheit. Denn diese beiden von ihm genannten Diktaturen sind nicht das Resultat der Aufklärung, was das Zitat intendiert.

Er ist ein scharfer Beobachter der Symptome und ein gute Rhetoriker. Er kennt sich in der Medienwelt aus und weiß, sich dort gekonnt zu inszenieren. Das soll ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, aber man muss es klar sehen.

Nicht so gut finde ich, dass er den Faschismus und den Stalinismus gleich setzt, wie man das überspitzter von der CDU kennt, die dann die SPD mit dem Sozialismus gleich setzt, und diesen mit dem Stalinismus.

Walter Jens äußerte sich zu dem Verhältnis zwischen dem Sozialismus und dem Faschismus wie folgt:
“Der Faschismus ist an seinem Ende angelangt, wenn er ganz bei sich selbst ist. Er ist im Ansatzpunkt auf weniger Demokratie, auf Unterdrückung von Minoritäten, auf selbstherrliches Pochen auf das Recht des Stärkeren angelegt.
Der Sozialismus strebt im Ansatz nach mehr Demokratie, Selbstbestimmung, Befreiung. Er kann - und das haben wir erlebt - weiß Gott - in schauerlichen Stalinismus, in der Gulag-Zeit enden, aber dann ist er nicht bei sich selbst, sondern von sich selbst am weitesten weggerückt.”

(Walter Jens im Interview durch Günter Gaus, 1994, auf die Frage: Ich unterstelle, es gibt für sie einen Unterschied zwischen Sozialismus und Faschismus. Können sie den benennen?)

Meiner Meinung nach ist der Sozialismus ein Produkt der Aufklärung. Und das Ziel der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft in Richtung auf den Kommunismus, dies ist dann wohl ein eben so schwieriger Prozess wie die Entwicklung vom feudalen Adelsstaat zur bürgerlichen Parlamentsstaat.

Der Faschismus hingegen scheint mir ein Produkt der Gegenaufklärung zu sein, seine extremste Form. Als Ideologischer Begründer des Faschismus gilt der französische Adlige Arthur Conte de Gobineau, der als Diplomat in seinem Freundeskreis um Richard Wagner ungefähr so argumentierte: Die Leute haben früher widerspruchslos dem Adel gedient, weil sie glaubten, das sei Gottes Wille. Das können wir die Leute nicht mehr glauben machen, weil sie eher dem Darwinismus glauben statt der Schöpfungsgeschichte. Also verkünden wir, dass die Natur (die Biologie) die Besten über die Schwachen setzt und unsere Führung deshalb natürlich und gerecht ist. Die Charaktereigenschaften und deshalb das Oben und Unten sind also angeboren. Das entspricht ganz dem Hang der Menschen, an die Naturwissenschaften mehr zu glauben als an Gott.

Der Faschismus ist also eine Reaktion auf die Folgen der Aufklärung.

Die faschistische politische Bewegung war dann auch in ihrem Ursprung der Schulterschluss zwischen Adel und dem sogenannten Lumpenproletariat. Der Adel, der sich durch den immer stärker werdenden marktwirtschaftlichen Strukturwandel einer bürgerlichen Konkurrenz ausgesetzt sah, stellte den Kopf dieser Bewegung dar, das Lumpenproletariat, also die armen Menschen, für die das Bürgertum keinen Ausweg parat hatte, war das Fußvolk, das auch Gewalt anzuwenden bereit war. Diese Bewegung erhielt aber erst dann größere Bedeutung, als sich das Bürgertum selbst dieser Bewegung für seine Ziele bediente.

Der Glaube an eine weise Obrigkeit, der Charisma-Galube, der Glaube an eine weise Fügung oder die Vorsehung wie der Glaube an weise Mächte, Götter oder einen Gott haben etwas mit der Gegenaufklärung zu tun.

Was die Grausamkeiten religiöser Menschen betrifft, höre ich von anderen religiösen Menschen immer die Ausrede: “Das waren die Machtapparate, die religiösen Gemeinschaften, die Kirchen. Das billige ich hauch nicht. Aber das hat nicht mit Gott, Allah usw. zu tun.” Wie, wenn es Gott gar nicht gäbe, wenn Gott einfach nur die Rechtfertigungsideologie dieser Machtapparate wäre?
 
Ob es so etwas wie einen Gott gibt?
Ich will Euch hier nicht manipulieren und sage deshalb offen meine Auffassung zu dieser Frage: So etwas wie einen Gott gibt es nicht. Heutzutage darf ich das schreiben oder sagen, ohne dass ich dafür bestraft oder hingerichtet werde. Das wäre früher nicht möglich gewesen und könnte auch wieder in Zukunft nicht mehr möglich sein, glaubt man Peter Scholl-Latour, dem o.a. Autor zahlreicher Bücher. Gott oder auch andere Götter und wie sie heißen, sind Erfindung von Menschen, die sich davon Vorteile versprechen. Interessant ist, dass nicht solche Menschen und Strömungen mit Misstrauen bedacht werden, die uns von einem solchen Wesen erzählen, das uns alle wie die Stasi beobachtet, allmächtig ist und nicht eingreift, aber doch belohnt und bestraft. Es werden mit Misstrauen solche Menschen und Strömungen betrachtet, der offen sagen, dass sie diese Geschichten für eine Verdummung halten.

Es ist also gelungen, in die Köpfe der Menschen solche Geschichten zu verankern. Es ist sogar so weit, dass sich viele Menschen wünschen, dass es so etwas geben könnte. Brecht lässt in seinem Theaterstück Galilei einen Mönch sagen: “Wenn es keinen Gott gäbe, müsste man ihn erfinden”.
 
Die Frage, ob es einen Gott gibt
Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: “Ich rate dir, nachzudenken, ob dein verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.”
(B. Brecht in Geschichten von Herrn Keuner, in B. Brecht, Kalendergeschichten, Gebrüder Weiss Verlag, 1953 in Dreieich)

Die Menschen hängen also an ihren Vorstellungen über ein gutes Wesen im Hintergrund. Dieses Wesen ist aber nicht nur gut, sondern es wird auch Rache nehmen an allen Menschen, die uns verletzt haben und gegen die wir nichts machen konnten. Das tröstet uns dann. Und die Bereitschaft, diesem Wesen zu folgen, macht die Menschen auch bereit, anderen Führern zu folgen. Diese Führer sind daran interessiert, dass die Menschen zum Geführt werden bereit sind. Und daher sind diese erfundenen Geschichten bis heute so wirkungsvoll. Interessant ist, dass die Erfinder gleich mit erfunden haben, dass man sofort bestraft wird, wenn man 1. nicht glauben kann und will und 2. wenn man nicht pariert, nicht den Anordnungen der Kirche und der Obrigkeit folgt. Welche Funktion hat diese Erfindung, die mit so viel Mühen, Brutalität und Skrupellosigkeit, Geld und Raffinesse immer wieder neu in die Köpfe der Leute transportiert wird?

In wessen Interesse geschieht denn dieses ständige kulturenschaffende Wirken vieler Menschen, immer wieder vom kritisch-analytischen Denken ablenken zu wollen? Es sind die jeweils wirtschaftlich von den Zuständen profitierenden Eliten, die keineswegs bereit sind, zuzulassen, dass ihnen diese für sie derart förderlichen Zustände entgleiten. Ist es der herrschende Adel und nach der bürgerlichen Revolution der Geldadel zusammen mit den Resten des Adels, die zusätzlich auch zum Geldadel wurden? Sie sind nicht so leicht zu definieren oder zu fassen. Nennen wir sie vielleicht wie Brecht: der Menschenhai.
 
Wenn die Haifische Menschen wären
„Wenn die Haifische Menschen wären“, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?“ „Sicher“, sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste, denn lustige Fische schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in die Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, finden können. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass die Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, daß zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, in anderer Sprache schweigende Fischlein tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang anheften und den Titel „Held“ verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären.“
(Bert Brecht, a.a.O.)
 
Aufklärung und Gegenaufklärung
Religionen sind kein außerhalb der Zeitgeistströmungen stehende Phänomene, sondern sie gehören dazu, sind Teil davon, machen die Zustände für die Opfer erträglicher, weil sie angeblich belohnt oder bestraft werden, wenn sie tot sind. Karl Marx, einer der größten Aufklärer des 19. Jahrhunderts, beschreibt das so:

“Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.” Karl Marx, Frühschriften

Ich gehe davon aus, dass die Analyse von Marx zur Funktion der Religion richtig ist. Wenn Peter Scholl-Latour also glaubt, dass das vor uns liegende Jahrhundert ein Jahrhundert der Religionen ist, so glaubt er vielleicht, dass Religionen von den Verhältnissen losgelöste gesellschaftliche Strömungen sind, die Gesellschaftsordnungen erzeugen. Oder er sieht das wie Marx und glaubt dann, dass die Zustände, die kommen werden, noch größeres Elend mit sich bringen und so den Religionsgemeinschaften im Einvernehmen mit den Haifischen (mit den von diesen Zuständen Profitierenden) noch mehr Möglichkeiten geboten werden, sich mit ihren jeweiligen Illusionen in den Köpfen der Menschen zu verankern.

Beides kann uns Lesben und Schwulen nicht recht sein, denn unsere Möglichkeit, relativ unbehelligt zu leben, ist nicht mit den Religionen, sondern mit der Aufklärung verknüpft. Ob Religionen Gesellschaften errichten (was ich für unglaubwürdig halte) oder ob Gesellschaften Religionen begünstigen, für uns bedeutet das immer, dass wir zu den Minderheiten gehören, deren Scheiterhaufen schon aufgeschichtet sind. Das heißt aber nicht zwingend, dass es uns unter den Bedingungen der Aufklärung immer gut geht.

Die Aufklärung, so wird eine kulturelle Strömung genannt, in der sich das revolutionäre Bürgertum der ideologischen Umklammerung von Adel und Kirche befreite. Heute unterscheidet man nicht nur Zeitalter, sondern auch Autoren der Geisteswissenschaften und der Belletristik, die eher der Aufklärung angehören oder eher der Gegenaufklärung.
 
Die Psychologische Ursache des menschlichen Hangs nach dem Mystischen
Marx sieht hauptsächlich gesellschaftliche Ursachen für die Öffnung eines Menschen nach Religiösem. Ich möchte hier anmerken, dass die Möglichkeit bestehen könnte, dass mit dem Menschwerden des Affen auch die Fähigkeit der Abstraktion einhergeht, was ja Engels durchaus beschrieben hat, und zwar in seinem Buch: “Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen”. Diese Abstraktionsfähigkeit ist mit Begriffen einhergehend. Um etwas begreifen zu können, benötigt man differenzierende Begriffe. Ilse Bindseil schreibt in ihrem Buch “Es denkt”, dass bewusstes Denken eine differenzierte Sprache voraussetzt, dass aber in den Begriffen gesellschaftliche Werte verankert seien, also gäbe es kein Denken außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge.

Ein Regenwurm mag mit allem zur Welt kommen, was er zum Leben benötigt. Je höher ein Wesen geartet ist, desto mehr benötigt das Wesen die Erziehung durch die Umwelt. Jagdtiere lernen von ihrem Rudel. Der Mensch lernt Sprechen, Verstehen und Denken von seinen engen Bezugspersonen. Diese Bezugspersonen sind lehrerhaft für ihn, und so ist die Hierarchie mit dem Sprach- und Denkerwerb verknüpft. Welche Personen bzw. Personengruppen diese gesellschaftliche Erziehungsarbeit in der Entwicklungsgeschichte jeweils geleistet haben, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da gibt es auch viele Deutungen, die unser Proze-dere dort hineinmanipulieren, oft auch ohne Absicht. Auf jeden Fall könnte im menschlichen Denken von Anfang an eine Affinität nach geistiger Führung vorhanden sein.
Menschsein an sich leitet sich vom Aufnehmen des Weitergegeben ab und der Fähigkeit, sogenannte Erfahrungen damit zu addieren.
 
Auch Erfahrungen sind nicht wertfrei, denn was ich aus den Ereignissen erfahren kann, wird durch das Raster meiner Werte beeinflusst. In unseren heutzutage überschaubaren historischen Gesellschaften wurden Sprache und somit Werte den Kindern durch solche Menschen weitergegeben, die in eine solche Frauenrolle gebracht wurden, in der die intuitiven Vorgänge wichtiger zu sein schienen als die intellektuellen. So sind wohl die frühkindlichen Lernprozesse mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins unter eine machtvolle Willkür verknüpft. Dass dies ein Bereitschaft zur Hinwendung nach Religiösen begünstigt, dass daher auch eine gewissen Zufriedenheit bzw. Geborgenheit im gelenkt werden möglich ist, scheint mir logisch zu sein.

Dennoch gibt es Zeiten, in denen die Menschen diesen Geborgenheiten entfliehen wollen, weil sie sich dieser Abhängigkeit entziehen wollen, die sie im wesentlichen als beengend empfinden. Das sind dann Zeiten, in denen Religionen ihren Einfluss verlieren. Es sind Zeiten der Aufklärung. Andererseits gibt es gesellschaftliche Verhältnisse, wo sich viele Menschen nach einer gewissen Geborgenheit sehnen, das sind dann Zeiten zunehmender Religiosität und Zeiten der Gegenaufklärung.
 
Humanismus und Aufklärung
Humanismus ist das Bemühen um Humanität, um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft durch Bildung und Erziehung und/oder Schaffung der dafür notwendigen Lebens- und Umweltbedingungen selbst. Man wandte sich daher im “Renaissance-Humanismus” (14. Bis 16. Jahrhundert) gegen die kirchliche Dogmatik, in dem man die Wiederentdeckung der griechisch-römischen Lebensart forcierte, durch Aneignung der griechischen und lateinischen Sprache, Literatur und Wissenschaft. Im “Neuhumanismus” des 18. Und 19. Jahrhunderts glaubte man eine in der Antike schon festgelegte anthropozentrische Einstellung zu erkennen. Der philosophisch-politische Humanismus von L. Feuerbach sah den Humanismus als gesellschaftliches Postulat. Im “realen Humanismus” schließlich sieht Marx die vollendete Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen im Kommunismus, also der klassenlosen Gesellschaft. Der Mensch kann also nur dann von religiösen Illusionen völlig frei sein, wenn es keine Über- oder Unterordnung mehr gibt, weil es keine Klassen mehr gibt. Das wäre also der wichtigste emanzipatorische Schritt des Menschen zu seiner Mündigkeit. Die Kritiker des Humanismus behaupten, dass es immer Herrscher und Beherrschte geben müsse, weil dies dem Menschen zueigen sei, wobei sie vergessen, dass man heutzutage nur solche Menschen vorfindet, die in einer Welt von Herrschern und Beherrschten ihr Menschsein lernten.

Aufklärung ist ein im 18. Jahrhundert aufkommender Begriff, der auf die Befreiung von Traditionen, Institutionen, Konventionen und Normen gerichtet ist, die nicht vernunftgemäß begründet werden können. Aufklärer streben danach, die Gesamtheit der Menschen durch die so gewonnenen Erkenntnisse im Sinne des Fortschritts zu verändern, der den Prozess der Säkularisierung einleitet. Alle Vertreter der Aufklärung vertreten die Grundüberzeugung von der Autonomie der menschlichen Vernunft. Die Vernunft ist die einzige und letzte Instanz, die über Methoden, Wahrheit und Irrtum jeder Erkenntnis ebenso entscheidet wie über die Normen des ethischen, politischen und sozialen Handelns. Daher die Forderung nach Meinungsfreiheit und die Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Ein wesentliches Merkmal der Aufklärung ist die Kritik des Bestenden, ein Merkmal für Aufklärer ist das Erreichen der Kritikfähigkeit für möglichst alle. Die Kritiker der Aufklärung behaupten, dass die menschliche Vernunft nicht ausreiche. Sie übersehen, dass man heutzutage nahezu nur Menschen findet, deren Vernunft durch den wirtschaftlichen Machtkampf im Kapitalismus, durch Religionen und Aberglaube ihre Grenzen findet.
 
Perspektivisches I.
In Deutschland seien die Moral, die Ehe und das Christentum auf dem Rückzug, sagte im Fernsehen eine muslimische Lehrerin, die mit ihrem Kopftuch in einer Hauptschule in NRW unterrichtet, daher sei der Islam in Deutschland sinnvoll und wichtig, um die Gesellschaft zu erneuern, um Moral, Religion und Ehe wieder aufleben zu lassen. So bieten sich die Religionen an, den Herrschenden die ideologische Arbeit zu machen. Die Angst vor dieser Drohung, dass durch eine islamische Auslöschung des Humanismus und der Aufklärung die Gesellschaft “erneuert” wird, also wieder ins Mittelalter katapultiert wird, höre ich derzeit von vielen Menschen. Der Islam wird aber auch von solchen hier leben Menschen als Bedrohung empfunden, die dem Christentum gegenüber kein solches Misstrauen empfinden.
Alle Errungenschaften der menschlichen Emanzipation, von der Anerkennung des Menschen als Individuum, der Demokratien und der Meinungsfreiheit, der Gleichberechtigung der Frau, vom wieder errungenem Recht auf Homosexualität, wurden uns nicht vom Christentum oder einer anderen Religion gewährt, sondern durch das Zurückdrängen der Macht der Religionsgemeinschaften ertrotzt und erkämpft. Das bedeutet nun nicht, dass die Anhänger der Emanzipation ohne Werte und ohne Ethik sind, sondern dass sie eben die Errungenschaften der französischen Revolution achten, die auf die strikte Trennung zwischen Religion und Staat beharrt, was in Deutschland noch nicht ganz erreicht ist. Es bedeutet dies durchaus, sich dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet zu fühlen.
 
Eine Tagung
Angesichts des Weltjugendtreffens der katholischen Kirche in Köln fuhr ein Lastwagen durch Köln, auf dem ein riesiger Dinosaurier modelliert war, mit Papst-Lila angestrichen, übrigens ein Tyranno-Saurus Rex, also was Gefährliches. Der lief zwischen lauter modellierten blöd glotzender Schafen rum. Das hat natürlich die frommen Katholiken geärgert und andere Leute belustigt, die sagten: wie treffend. Das alles wurde immerhin in den Nachrichten gezeigt.

Man konnte auch die Interent-Präsenz http://www.religionsfreie-zone.de der Initiatoren erkennen. Damit ist verlinkt die HP: http://www.leitkultur-humanismus,de. Es handelt sich um eine Veranstaltung mit dem Namen “Leitkultur Humanismus und Aufklärung, Perspektiven säkularer Politik in Deutschland”. Die öffentliche Tagung findet am Sonntag, 2. Oktober und Montag, den 3.Oktober 2005 im JH-Tagungshaus, Siegesstraße 5, Köln-Deutz statt. Die Teilnahme am Programm ist kostenlos, für Verpflegung und evtl. Unterkunft muss allerdings gezahlt werden. Träger ist ein Bündnis verschiedener Organisationen:

Im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten e.V. (IBKA) haben sich nichtreligiöse Menschen zusammengeschlossen, um sich für Menschenrechte, Aufklärung sowie Trennung von Staat und Kirche politisch einzusetzen und damit die Interessen der Konfessionsfreien in der Gesellschaft zu vertreten. Website: http://www.ibka.org

Die Giordano Bruno Stiftung (GBS) sammelt neuste Erkenntnisse der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, um ihre Bedeutung für das Anliegen eines “friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens der Menschen im Diesseits“ herauszuarbeiten. Ziel der Stiftung ist es, die Grundzüge eines naturalistischen Weltbildes sowie einer säkularen, evolutionär-humanistischen Ethik zu entwickeln und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Website: http://www.giordano-bruno-stiftung.de

Der Bund für Geistesfreiheit München ist eine Weltanschauungsgemeinschaft, die sich an den Grundsätzen der Aufklärung und des Humanismus orientiert. Als parteiunabhängige Interessenvertretung von Menschen, die keiner Kirche oder Sekte angehören, setzt er sich für die konsequente Trennung von Staat und Kirche ein. Website: http://www.bfg-muenchen.de
 
Das Tagungsthema
Während konservative Politiker eine christlich-patriotische Leitkultur (“Werte des christlichen Abendlandes”) einklagen, träumen andere von der “multikulturellen Gesellschaft” incl. einer “Einbürgerung des Islam”. Doch weder die konservative Wiederbelebung der Idee einer “christlichen Festung Europa” noch die postmoderne Beschwichtigungspolitik gegenüber religiösen und esoterischen Strömungen werden das Projekt einer “offenen Gesellschaft” voran bringen. Eigentlich sollte es einleuchtend sein, dass wir kaum eine andere Chance haben, als auf jene “verdrängte Leitkultur” zu setzen, mit der der gesellschaftliche Fortschritt in der Geschichte verknüpft war: die Leitkultur von Humanismus und Aufklärung.
Doch von einer solchen Einsicht ist das politische Establishment meilenweit entfernt. Obgleich alle großen Errungenschaften der Moderne mit der Tradition der Aufklärung verbunden sind (technisches Know-how, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit etc.), ist sie auf weltanschaulichem Gebiet eine “Untergrundsbewegung” geblieben. Das zeigt sich auch darin, dass die vielen Millionen Menschen, die den Religionen in Deutschland bereits den Rücken gekehrt haben, in Politik und Medien kolossal unterrepräsentiert sind.
Was aber müsste getan werden, um das aufklärerische, humanistische Denken stärker in die gesellschaftliche Debatte einzubringen? Diese Perspektivfrage steht im Zentrum der offenen Tagung, zu der alle, die sich für säkulare Politik interessieren, herzlich eingeladen sind.
 
Perspektivisches II
Die christliche Religion in Form ihrer Organisationsform, der Kirche, stellte sich zusammen mit dem Adel gegen die staatliche Machtergreifung des Bürgertums, was zur Trennung zwischen Kirche und Staat führte, nachdem das Bürgertum in Frankreich trotz fehlender kirchlicher Weihen siegte. Dadurch sind aber die Kirchen nicht ausgestorben, sonder erweisen sich als ungeheuer flexibel, was man von anderen Religionen auch sagen kann. Den Haifischen dürfte es so ziemlich egal sein, welche der Weltanschauungen, die sich anbieten, die ideologische Flankierung für sie übernehmen: Die Menschen an Unerklärliches zu gewöhnen und sie auf ein besseres Leben nach dem Tode zu vertrösten, das dann erreicht werden kann, wenn man im Diesseits auf ein besseres Leben verzichtet. Dies könnte auch die Philosophie des Humanismus bieten, wenn man mal an das humanistische Gymnasium der deutschen Kaiserzeit denkt, als ein Beispiel.

Es scheint also den Veranstaltern der oben beschriebenen Veranstaltung darum zu gehen, dass Humanismus und Aufklärung wie eine Religionsgemeinschaft neben den beiden christlichen Kirchen staatlich anerkannt wird, dies natürlich aus rein taktischen Gründen. Unterdessen gibt es ja schon auch die Anerkennung des Judentums und des Islams, freilich nicht mit den gleichen staatlichen Privilegien.
Ich weiß nicht so recht, ob man das Glauben an sich und das sich führen Lassen dadurch bekämpfen kann, dass man sich die Weihen der staatlichen Anerkennung verdient. Der Staat hat schließlich dafür zu sorgen, dass die in der Gesellschaft erarbeiteten Werte der alt bekannt Oberschicht, den Haifischen, zufließen. Wenn dies in Gefahr zu geraten droht, ist der Weg zur extremsten Form der Gegenaufklärung nicht weit, wie wir es aus der eigenen Geschichte ja wissen.
Ich meine auch, dass Religionen nur dadurch bedeutungslos werden, dass die Grundlagen verschwinden, die die Menschen immer wieder zur Illusion des Glückes treiben, statt sie im Diesseits glücklich leben zu lassen. (js)
 
Gegen Verführung
1
Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren
Es kommt kein Morgen mehr.
 
2
Lasst euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müsst!
 
3
Lasst euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!
Lasst Moder den Verwesten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.
 
4
Lasst euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.
Bertolt Brecht, Hauspostille
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite