- 84. LUST (Herbst 05)
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- Wo die Naturalnyje den Ton
angeben
von Ulrich Heyden, Moskau
Eine Gay-Parade schwächt die Nation,
so eine weitverbreitete Meinung in Moskau.
Moskau (n-ost) Der einzigste Tag an dem die Moskauer mal so richtig
Karneval feiern durften, das war der erste Mai. Inzwischen hat
sich das geändert. Die Stadt ist bunt geworden und bietet
Vergnügen für jeden Geschmack. Viele westliche Feiertage
haben die Russen inzwischen in ihren Fest-Kalender integriert.
So feiert man in Moskau wie selbstverständlich den St. Valentinstag,
Haloween, das katholische Weihnachten und alljährlich
zieht eine irische Bier-Parade über Einkaufsmeile Arbat.
Mit einer Gay-Parade haben die Russen dagegen Probleme. Die Schwulen-
und Lesbenszene in der Metropole Moskau ist verschwindend klein.
In der öffentlichen Meinung geben die Heteros Russisch:
Naturalnyje den Ton an.
Doch die Schwulen- und Lesbengruppen der Stadt wollen an die
Öffentlichkeit. Vor vier Jahren versuchte man es im Rahmen
einer Love-Parade. Aber das wachsame Auge von Bürgermeister
Luschkow erkannte Gefahr für die öffentliche Moral
und verbot kurzerhand die ganze Love Parade. Nun haben sich Gay-Aktivisten
etwas Neues überlegt. Am 27. Mai 2006 wollen sie den Jahrestag
feiern, an dem vor 13 Jahren fast unbemerkt von der Öffentlichkeit
- der Anti-Homosexuellen-Paragraph aus dem Strafgesetzbuch gestrichen
wurde. Doch kaum hatte der Bürgermeister von der neuen Initiative
Wind bekommen, legte er schon sein Veto ein. Mit welchem Gesetz
der Stadtvater die Parade verbieten will, ist unklar. Dass er
die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, ist sicher.
Nach dem Machtwort des Bürgermeisters wollte das liberale
Info-Radio Echo Moskwy nicht einfach zur Tagesordnung
übergehen und setzte eine Expertendiskussion an. Doch selbst
die gebildete und in politischen Fragen aufgeklärte Echo-Hörerschaft
erwies als resistent gegenüber den Argumenten der Gay-Aktivisten.
Eine im Laufe der Sendung durchgeführte Hörerumfrage
ließ dem Moderator fast den Atem stocken. Bei einer Rekordzahl
von 8.000 Anrufern sprachen sich überwältigende 68
Prozent gegen eine Gay-Parade und nur 32 Prozent dafür aus.
Dabei hatten die Vertreter der Schwulenbewegung in der Radio-Diskussion
hoch und heilig versprochen, man werde bei der Moskauer Parade
nichts Nacktes und Aufreizendes zeigen. Nur die Regenbogenfahne
wolle man schwenken.
An der Diskussion beteiligte sich auch ein Abgeordneter der links-patriotischen
Partei Heimat, der die Stimmung im Volk auf den Punkt
brachte. Eine Gay-Parade richte sich gegen die jahrhundertealten,
russischen Traditionen, sie beleidige die Ehre
der Nation. Vater Alexander von der russisch-orthodoxen
Kirche erklärte, Schwulsein sei eine Anomalie,
eine Gay-Parade verletze die christlichen Werte.
Angesichts der oftmals beschworenen russischen Traditionen ist
schon erstaunlich, wie gut Moskau mit anderen Vergnügungen
zurecht kommt. In der Stadt gibt es über 30 Strip-Lokale.
Sex-Shops und käuflichen Sex gibt es an fast jeder Straßenecke.
Zehntausende Frauen geben jede Nacht ihre Körper für
Geld hin, in Clubs, Autos und Privatwohnungen. Damit hat sich
die öffentliche Meinung abgefunden.
Schließlich war es eine Frau, welche die Debatte im Echo-Radio
auf einen ganz praktischen Aspekte lenkte. Eine Gay-Parade habe
Russland mit seinem rapiden Geburtenrückgang gerade
noch gefehlt, meinte die Hörerin Tatjana Jarikowa.
GayRussia-Vertreter Nikolaj Aleksejew konterte, nicht
die Schwulen seien am Geburtenrückgang schuld. Der Staat
tue nichts, um die normale Ehe zu schützen. Im Gegensatz
zu Europa gäbe es in Russland keine materiellen Vergünstigungen
für Ehepaare. Wenn in Russland ein Ehemann seine Familie
verlässt, ist das für die Frau eine Katastrophe. Die
vom Gesetz vorgeschriebenen, kümmerlichen Alimente zahlen
die flüchtenden Männer in der Regel nicht.
In der Moskauer Schwulen- und Lesbenszene wird weiter über
die Idee einer Parade gestritten. Auf der Website GayRussia.ru
erscheinen viele zustimmende Erklärungen aus dem In- und
Ausland, zum Beispiel von der liberalen Politikerin Irina Chakamada.
Selbst Akram Khazam, Moskau-Korrespondent von Al-Jazeera meinte,
Warum nicht? Jaques Lang, Sozialist und ehemaliger
französische Kulturminister, schickte einen Brief, in dem
er seine Teilnahme an der Moskauer Parade ankündigte. Ein
Recht erfordere die ständige Erprobung in der Praxis,
schrieb der ex-Minister.
Doch in der Gay-Gemeinde gibt es auch Skeptiker. Zu ihnen gehört
Ilja Abaturow, Direktor des Szene-Clubs Die drei Affen.
Ich habe an vielen Gay-Paraden in verschiedenen Ländern
teilgenommen. Dort reagieren die Menschen mit Freude, bei uns
aber löst das Bosheit aus. Eine Gay-Parade sei erst
möglich, wenn sich das soziale Klima im Land verbessert
habe.
LUST-Kommentar:
Ändert sich das gesellschaftliche Klima, wenn man zurückhaltend
oder wenn man offensiv ist?
Der CSD demonstriert den Stolz über Erreichtes. Das geht,
wenn man gesellschaftlich etwas erreicht hat, z.B. wenn den homophoben
Störern gerade durch die Staatsorgane klar gemacht wird,
dass Homophobie die Störung ist und nicht das freche Auftreten
der Homosexuellen. Es geht nach langen Mühen, wenn der Staat
sich öffentlich hinter seine Minderheiten stellt, weil das
die Menschenrechte gebieten, anstatt sie zu demütigen oder
zu unterdrücken. Das geht auch, wenn, wie in Warschau, Politiker
aus dem Ausland mitgehen und die Staatsorgane so zwingen, sie
zu schützen.
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