80. LUST, Herbst 04
 
Bareback oder safer Sex?
von Bernd Aretz

Safer Sex, notwendig, um einer Hiv-Infektion zu entgehen oder das Virus nicht weiterzugeben, nimmt uns eine ganze Reihe von spontanen Möglichkeiten. Und daher kümmern sich verschiedene Menschen unserer Szene nicht mehr um safer Sex, sondern ignorieren die Aids-Gefahr. Dies wird „Bareback“ genannt. Bernd zeichnet hier für uns eine Gesprächsrunde zu diesem Thema auf.
 
In Internetprofilen wird das Bareback Date gesucht. Bei safer Sex findet sich die Angabe: egal. In den Darkrooms ist scheinbar die Hölle los und das, was in den Saunen bei gutem Wetter an Publikum zu fehlen scheint, findet sich dann im Park oder den Autobahnparkplätzen wieder.
 
Nach zwanzig Jahren Erfahrung mit Aids wird diskutiert, dass die Infektionszahlen bei schwulen Männern wieder leicht ansteigen. Der Vormarsch der Syphilis und der Hepatitis ist besorgniserregend. In der schwulen Presselandschaft gibt es eine neue Diskussion über Verantwortung, Moral, Sitte und Anstand, in der all die Argumente zu hören sind, gegen die wir bei Gauweiler, Dyba und Konsorten auf die Straße gezogen sind. Keine Rechenschaft für Leidenschaft stand 1990 bei der ersten Bundespositivenversammlung in Frankfurt auf den Plakaten.

Ein heißer Sommertag, ideal für die Liebhaber etwas verschwitzterer Männer. Sechs schwule Männer kommen zum Gespräch in die Räume der Deutschen Aids-Hilfe. Ich traf in Berlin Rainer Schilling, der die schwulen Broschüren und Plakate auf den Weg gebracht hat, ein Urgestein der Schwulenbewegung und Mitbegründer der Deutschen Aids-Hilfe. Er ist sechzig. Er verhält sich sexuell so, als sei er infiziert, denn er hat sich nicht testen lassen. Er würde das nur tun, wenn behandlungsbedürftige Krankheiten auf eine Infektion hindeuten würden. Die hat er nicht.
 
Da er aber eine leichte Allergie gegen den Medizinbetrieb hat, möchte er sich dem nicht überflüssig aussetzen. Aber sexuell verhält er sich halt so, als wäre er infiziert, auch wenn er aufgrund seiner bevorliebten sexuellen Praktiken das Risiko eher gering einschätzt. Der Gefickte ist stärker gefährdet als der Fickende, es gibt ja nun auch gelegentlich für den Geschlechtsverkehr Kondome. Auf Spermaaustausch kann man zur deutlichen Risikoverringerung verzichten, dann ist auch Blasen ein überschaubares Risiko. Und wichsen kann bekanntlich allenfalls eine Sehnenscheidentzündung verursachen. Rainer, der Germanist, dem wir die Erkenntnis verdanken, dass Kleist, zum Beispiel, sehr schöne Kommata habe, nähme seine Tagebücher und Schreibzeug mit auf die einsame Insel.

Dirk Hetzel, der dorthin keinesfalls ohne seinen Mann, das Fernsehen und das Rückfahrticket reisen würde, ist 33. Der Diplom-Pädagoge ist bei der Deutschen Aids-Hilfe für alles rund um das positive Leben zuständig. Er hat die Broschüre sex + life für positive schwule Männer herausgegeben, in der infizierte Männer auch über ihre Sexualität berichten. Darin gibt es zwar viele Denkanstöße, aber keine Gebote oder Verbote. Es gibt keine Zuweisung der Verantwortung für safer Sex vor allem an den Positiven sondern die Schilderung ganz unterschiedlicher Sichtweisen Betroffener.
 
Ein schwules Lifestile-Magazin für den gepflegten Herrn unter neunzehn forderte deswegen zwar seinen Kopf, er ist aber der festen Überzeugung, dass er zeigen muss, was ist. Nur wenn sich die Szene in seinen Texten wiederfindet, kann er das Reden über die Bedingungen der Sexualität fördern. Platte Vorschriften und Verbote nützen da nichts. Deswegen findet er gut, wenn im Internet auch die Sehnsüchte nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr sichtbar werden.
 
Die kann er gut verstehen und darüber kann man dann ja reden. Etwa ob beide infiziert sind, welche Vorstellungen sie überhaupt von safer sex haben? Das ist ihm lieber als diejenigen die behaupten, immer safer sex zu wollen, aber sich ganz sehnlich anderes wünschen und damit dann mit ihren Ansprüchen auch immer wieder mal scheitern. Er hält für vertretbar, nur dann auf seine Viren hinzuweisen, wenn er ein barebackdate sucht oder eine Beziehung. Aber für Fragen und Gespräche ist er offen. Das kommt halt auf den gegenüber und auf die Situation an.

Stephan Jaekel, 33, ist Mitarbeiter in der Beratung von Pluspunkt, einem Ostberliner Projekt, dass sich mit Prävention und der Begleitung Infizierter beschäftigt. Er, der sich nicht ohne Dildo, Fernseher, Videorecorder und Bücher in die Einsamkeit begäbe, kennt das Gefühl des Versagens. Nach seinem positiven Testergebnis vor vier Jahren hat er schon gegrübelt, woher er die Infektion hatte, und gedacht: „anscheinend bin ich zu blöd für diese Großstadt.“
 
Es dauerte, bis er sich erlaubte, zu erinnern, was er denn in dieser und jener Situation, neben seiner safe gelebten Partnerschaft, sexuell erfahren hat. Dieses Eingeständnis, dass er nicht immer so gehandelt hat, wie er es gelernt hat, war ein entscheidender Befreiungsschlag für ihn. Ab da konnten sich der Beziehungsmensch und das Triebungeheuer versöhnen. Und seitdem die finsteren sexuellen Seiten nicht mehr abgespalten werden müssen, sondern auch daran der ganze Mann beteiligt ist, ist es für ihn einfacher zu gucken, was er will und was nicht. Nachdem er für sich akzeptiert hat, dass die Infektion Folge seines Lebensstils ist, spielt die Frage nach einem möglichen Verursacher keine Rolle mehr.

Auch der 31jährige Kinderkrankenpfleger Samuel Arslan ist froh, dass er damals dem Rat seiner Anwältin nicht gefolgt ist. Die meinte nämlich, er könne den Mann anzeigen. Da hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Sperma im Mund - dummerweise nach einer Operation des Weisheitszahnes, noch nichts war verheilt - und schon infizierte er sich bei einem kümmerlichen Mann, der nicht in der Lage war, den Mund aufzumachen. Gut, beide waren sie wohl nicht mehr nüchtern, das Risiko beim Blasen wird gemeinhin als sehr gering angesehen, nicht aber beim Abspritzen in eine frische Wunde. Fair war der Umgang nicht.
 
Heute denkt er, das war halt so und versucht selber, sich anders zu verhalten. Dazu gehört auch sein Engagement als einer der drei Positivensprecher der Berliner Aids-Hilfe, in das er als Deutscher türkischer Abstammung sehr unterschiedliche kulturelle Erfahrungen einbringt. Der kleine Prinz ist sein Lieblingsbuch, und so geht er auch an die Welt, ständig nachfragend und etwas verwundert, dass man die Welt anders wahrnehmen kann als er. Und da hat die Verantwortlichkeit einen ganz hohen Stellenwert. Für ihn heißt das unter anderem: Niemals ficken ohne Kondom und niemals Sperma austauschen.

Kalle Ohnemus aus Hannover, Buchhändler, 46, Kickerleser, verteilt für die Aids-Hilfe Broschüren, Plakate und Karten in den Szenetreffpunkten, den Lokalen, Cafes, Pornokinos und der Sauna. Die Katze, Bücher und den Adam Redakteur nähme er mit auf die einsame Insel. Ihn hat sehr geprägt, schnell über seine Freunde mit Aids konfrontiert zu sein. Er lebte damals noch in Berlin. Außerhalb seiner Beziehung hat er sich sexuell sehr zurückgehalten. Er hat einfach lange gar nichts gemacht, nicht an Orten, an denen er sich nicht durchsetzen kann, an Orten, an denen nicht redet wird. Angst vor der Infektion hat er schon, aber nicht so sehr, dass es ihn, den negativ Getesteten von einer Beziehung mit einem infizierten Mann abhalten könnte. Die Liebe geht eigene Wege und das Gefühl der Sicherheit stellt sich nicht über den Immunstatus her.

Simon Burger, 28 Künstler, lebt in Köln. Seine Abneigung gegen Leben auf dem Land erstreckt sich nicht auf seine Kaninchen. Ihn haut so leicht nichts um. Den Krebs hatte er verdaut, da war ja klar, dass der heilbar ist. Nach dem negativen Testergebnis im August 2002 war er sehr erleichtert und hatte sich fest vorgenommen, danach nur noch safe zu lieben, aber..... War es der Wunsch nach Nähe, vielleicht ein Bier zuviel?
 
Im November diagnostizierten irgendwelche Landärzte wegen Ausschlages auf der Brust die Röteln. Der Kölner Arzt brauchte nur einen Blick, um zutreffend die Syphilis zu erkennen und zwei Blutuntersuchungen, um Hiv festzustellen. Auch bei ihm dann diese häufige Diskrepanz. Mit seinem eigenen Schutz hat er es nicht ganz so ernst genommen, solange er meinte, nicht infiziert zu sein. Seit der Syphilis und mit einem positiven Partner zusammenlebend, sagt er, man kann ja nun auch nicht alles mit nach Hause bringen, was es sonst noch so gibt.

Der eindeutige Rat aller Experten lautet, sich gegen Hepatitis A und B impfen zu lassen und bei sexuell umtriebigen Menschen, sich regelmäßig bei den Checks alle drei bis sechs Monate, auf Syphilis untersuchen zu lassen, sei denn, man lebe außergewöhnlich keusch. Im übrigen gilt immer noch, dass bei jeder Veränderung an Anus oder Penis - nimmt man mal die Erektionen und entspannungstechnischen Meisterleistungen aus - der Besuch beim Arzt angesagt ist.
 
Simon bestätigt, das erste Stadium sei nicht zu sehen gewesen. Manche Vorstellungen findet der Tänzer naiv. Wenn im Internet nach gesunden Partnern gesucht werde, solle jeder, der sich bare ficken lässt oder bare Sex macht, davon ausgehen, dass der andere positiv ist. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Wenn man es einmal unsafe Sex macht, macht man es immer wieder. Der andere weiß vielleicht nicht einmal, dass er infiziert ist. Immerhin dauert es ein paar Wochen, bis eine Infektion über den Test überhaupt nachweisbar ist.

Am Barebacking erhitzen sich die Gemüter. Vom: „Wie hirnverbrannt muss jemand sein, um an einer solchen Party teilzunehmen?“ bis zum: „Endlich ein ethisch vertretbarer Rahmen, in dem zu eindeutig und offen ausgehandelten Bedingungen Verschmelzung und Austausch möglich sind“. Die Diskussion ging heiß her. Vom Riechen, Lecken und Schmecken war die Rede, vom Wunsch nach Nähe, von Räuschen, sexuellen und anderen, aber auch von dem Bedürfnis nur nach Zärtlichkeit, dem unanstrengenden, unkomplizierten, sozusagen als sauber phantasierten Sex, vor und nach dem man duschen kann und vielleicht während dessen auch noch.
 
Die Freude, gebadet mit dem Geliebten nach einer Wahnsinnsnummer in frischer, möglichst noch gebügelter Wäsche zu liegen, braucht bei manchen Männern offensichtlich nicht den Vorlauf des Animalischen. Solides sexuelles Handwerk tut es da auch. Und bei denen ist dann offensichtlich der regelmäßige Gebrauch von Kondomen, oder die Risiko senkenden Strategien des Rausziehen, bevor es kommt, heute dippen, früher so fein coitus interruptus genannt, kein Problem.

Was aber, wenn denn zur Begegnung das rauschhafte Entdecken des anderen Körpers und seiner Landschaften und Gerüche dazugehört, wenn dazu gehört, sich hier anzukuscheln, dort einzuschmeicheln, da zu verkriechen und sich immer wieder mal von der Geilheit mitreißen zu lassen? Jedenfalls sagt nicht nur Simon, dass Pariser dabei eher störend sind. Stephan weist darauf hin, dass es den wenigsten vergönnt ist, das Vögeln in oder mit Gummi als eigenständigen sexuellen Fetisch zu haben.
 
Erleichtert das offene vorherige Gespräch über die Bedingungen der Sexualität vielleicht das Einhalten verabredeter Grenzen? Einig sind alle darüber, dass die Infektion in engeren Beziehungen möglichst bald klar sein müsse. Erfahrungen, dass deswegen mal ein erhoffter Sexualpartner gekniffen hat, haben fast alle gemacht, aber auch für sich festgestellt, dass es wohl nicht schade drum war. Ärgerlich war das schon, schließlich kann man von schwuler sexueller Szene doch erwarten, dass sie nicht dann plötzlich den Schwanz einzieht, wenn man ihr ausnahmsweise einmal offen und damit ja wohl auch respektvoll kommt.

Für Dirk ist auch eine Frage des Respekts, den Siebzehn- oder Neunzehnjährigen ernst zu nehmen, der für ein Bareback Date einen Partner sucht. Klar ist für ihn, dass er, Dirk, niemals auf eine solche Anfrage einginge. Aber ist er denn der liebe Gott, was weiß er denn schon, außer dass er für sich verantwortlich ist und dazu gehört nun einmal, auch nichts zu tun, was das Gewissen oder die Seele belastet. Da ist er ganz egoistisch. In den Spiegel schauen möchte er am nächsten Morgen schon können. Aber die Wünsche des jungen Mannes, die wird man ja wohl verstehen dürfen. Auch das Argument, die Gemeinschaft werde mit Kosten belastet, klingt merkwürdig aus dem Mund von Rauchern, regelmäßigen Alkoholtrinkern, Workoholics und all derjenigen, die durch ihren Lebensstil gesundheitliche Risiken erhöhen.

Für Rainer ist es eine klare Sache. Da treffen sich zwei Menschen mit einer unterschiedlichen Geschichte, die vielleicht auch unterschiedlich schutzbedürftig sind, und die müssen respektvoll miteinander umgehen. Dazu gehört natürlich, dass man keine Unerfahrenheit ausnutzt, oder den Schwips, oder auch die Obdachlosigkeit. Sei es bei Strichern, sei es bei dem Einsamen, weil der Gatte sich in der gemeinsamen Wohnung mit anderen Herren die Zeit vertreibt. Je heller die Beleuchtung sei, so Rainer, desto eher werde wohl der Schwanz oder das Loch gegenüber zu einem ganzen Mann.
 
Trotzdem sieht er bei den Darkrooms nicht so schwarz. Das ist ein Ort, an dem sich viele kennen. Manches von dem, was von außen betrachtet unsafer sex ist, ist in Wahrheit doch eine kommunizierte und bewusste Entscheidung. Wie man das aushandelt, ist natürlich eine Frage des Ortes und der beteiligten Individuen. Dirk sieht jedenfalls noch nicht den Punkt erreicht, an dem man allgemein diskriminiert würde, weil man safer sex wünsche.

Kalle findet sich in den Darkrooms nicht zurecht. Da kommt er mit den Kommunikationsformen nicht klar, denkt er manchmal. Vielleicht ist es aber einfach auch so, dass seine sexuellen Sehnsüchte von den sexuellen Sehnsüchten der meisten anderen an diesem Ort so abweichen, dass auch die Sprache nicht wirklich zur Verständigung beitragen könnte.

Rainer merkt an, dass um vier Uhr morgens meist doch der Spermaaustausch nicht das Erhoffte sei. Viele suchten doch im Grunde nur jemanden zum kuscheln, zum knutschen, vielleicht zum leichten Spiele. Deutlich wird im Gespräch, dass es ganz unterschiedliche Vorstellungen von Sexualität gibt und ebenso viele Strategien im sexuellen Umgang mit den blöden Viren. Klar ist nur eines: Reden kann nicht schaden.

Stephan hat Hiv so in sein Leben integriert, dass er es erwähnt, wenn es nötig ist, nicht jedoch den Brötchenkauf davon abhängig macht, dass die Bäckerin nun jede Einzelheit von ihm weiß. Vor Medien drückt er sich allerdings auch nicht.

Für Dirk gehört die Öffentlichkeit zu seinen zentralen Berufsinhalten. Samuel lebt szeneöffentlich und in seinen selbstgewählten Bezügen, aber er lässt die Familie weit vor den Toren der Stadt außen vor. Dass er schwul ist, weiß sie von ihm, aber er könnte ihr vielleicht nicht vermitteln, dass er als positiver Mann auch seine Neffen und Nichten im Arm halten darf.

Simon bleibt zur Zeit, da er sich von Engagement zu Engagement hangeln muss, keine Wahl dazu, keinerlei Zweifel an seiner Fitness und Präsenz aufkommen zu lassen. Hiv gehört nicht zu den karrierefördernden Umständen.

Rainer hat die Phase, in der es ihn leicht befangen machte, wenn jemand infiziert war, längst hinter sich. Geblieben sind viele Narben in der Seele und eine Haut die durch das nahe Erleben von Aids in allen Formen dünn geworden ist.

Kalle macht mit dem Verteilen der Broschüren und Postkarten an den Orten der Lust in Hannover Informationsangebote. Und immerhin fand er bei einer Lesung in einem Pornokino zugunsten der dortigen Aids-Hilfe seinen Mann. Und so lohnt dann auch mal wirklich gute Szenearbeit einer Aids-Hilfe für deren Mitarbeiter. Klar ist für ihn, auch wenn es mal schwer fällt, dass man sich in Beziehungen, so lang oder kurz sie sind, offen begegnen muss. Ihn hindern keine beruflich oder familiär notwendigen Rücksichtnahmen, so dass er mit den anderen in Aids-Projekten tätigen mit aufs Bild kann.

Einig sind alle darüber: Sprechen ist aufregend. Es war ein schöner und vergnügter Nachmittag im Gespräch mit geilen und klugen Männern. Danke.
 
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