80. LUST, Herbst 04
 
"Die Arbeitswelt ist die Schule der Nation" - oder-
"Was von der Arbeits- und der Sexualmoral bleibt, wenn die Lohnarbeit nicht mehr benötigt wird."
"Die Bundeswehr ist die Schule der Nation", sagte einst der CDU-Bundeskanzler Kiesinger. Das hat zu Protesten geführt, denn nicht der Krieg, sondern der Arbeitsalltag sei der "Ernstfall".
Doch wie ist es heutzutage? Alle sollen mit Druck und mit der entsprechen-den Einstellung möglichst schnell in einen Beruf und auf eine Arbeitsstelle, wobei die Höhe des Lohnes keine Rolle mehr spielen soll. Der Kindergarten soll zur Vorschule werden. Das Schulwesen führt zur Erwerbsarbeit. Für die Erwerbsarbeit ist eine gewissen Disziplin nötig. Wer nicht einer Er-werbsarbeit nachgeht, steht außerhalb der Gesellschaft. Doch die Platzan-gebote für Erwerbsarbeit nehmen ständig ab. Auch die Zeit außerhalb der Erwerbsarbeit richtet sich nach den Zeitvorgaben der Erwerbsarbeit.
 
1. Das Wesen der Arbeit
Als schwuler Mann, als lesbische Frau wissen wir, um einigermaßen unbehelligt, vielleicht sogar zufriedenstellend leben zu können, benötigen wir Geld, wenn wir schon im Kapitalismus leben. Also ist ein möglichst gut bezahlter Ar-beitsplatz oder ein eigener Betrieb die Voraussetzung für alles. Doch am Arbeitsplatz werden von uns Verhaltensweisen erwartet, die uns prägen und verändern. Die Arbeitswelt greift mit ihren Normen und Werten tief in das Leben der Menschen unserer Szene und gestaltet die Szene somit. Was ist ganz allgemein das Wesen der Arbeit?

"Bewusster ziel- und zweckgerichteter Einsatz körperlicher und geistig-seelischer Kräfte des Menschen, der sich in Arbeitsergebnissen vergegens-tändlicht (Güter, Dienstleistungen, geistig-künstlerische Werke), die der Be-friedigung materieller und ideeller Bedürfnisse dienen", steht im Mayers Taschenlexikon. Es folg dann der Text: "Die Wertung der Arbeit im religiösen, philosophischen und weltanschaulichen Denken zeigt im Laufe der Ge-schichte große Unterschiede. Sie reicht von Arbeit als Mühe, Plage und Strafe Gottes. Nach der Aufwertung der Arbeit seit Beginn der Neuzeit (durch die Reformation) bis zu ihrer Hochzeit als eine Form des Gottesdienstes (M. Luther) und von ihrer Anerkennung als von fundamentaler Bedeutung für die Freiheit des Menschen (Hegel) bis gar zum eigentlichen Schöpfer des Men-schen in seinem Prozess seiner Herausbildung aus dem Tierreich (K. Marx)."

Eine solche kurzgefasste und doch umfassende philosophisch-historische Ab-handlung zeichnet dieses Lexikon aus. Nur das Wort "gar" bei Marx ist leider kommentierend und auch unpassend. Es scheint im Marxschen Arbeitsbegriff die Vielfalt der Arbeitsformen mit Bedacht worden zu sein. Der interessante Text geht weiter: "Dabei fällt dem jeweiligen Charakter der Arbeit und der Bedingungen, unter denen Arbeit geleistet wird (schwere körperliche oder geistig-schöpferischer Arbeit, fremdbestimmte oder mitbestimmte, eigenver-antwortliche Arbeit, Zwangsarbeit (z. Beispiel Sklavenarbeit), abhängige Lohnarbeit u.a.) große Bedeutung zu wie auch der Frage, wem das Ergebnis der Arbeit zugute kommt. So wird Arbeit sowohl als Ursache von Entfrem-dung als auch als entscheidender Bereich der Selbstverwirklichung angese-hen." Ich zitiere hier nur ca. 1/3 des Textes über Arbeit, da dieser Teil für unser Thema von größerem Interesse ist.

Arbeit ist aus meiner Sicht ein Begriff, der allgemein menschliche Tätigkeiten beschreibt, die der Mensch vornimmt, um sein Leben und seine Umwelt zu gestalten. Das unterscheidet ihn vom Tier, das nicht in dieser Form arbeitet, sondern in der vorgefundenen Umwelt einen Weg zum Überleben sucht, also im wesentlichen sein Leben und seine Umwelt nicht willentlich gestaltet.

Bei der großen Vielfalt im Tierreich gibt es natürlich auch Lebensformen, die mit menschlicher Arbeit verglichen werden können, aber es sind dies z.B. beim Biber oder bei den staatenbildenden Insekten keine bewussten Handlungen zum Gestalten des Lebens, sondern es sind Notwendigkeiten, um überhaupt leben zu können.

Es ist bei der Definition aus dem Lexikon bezeichnend, dass die Klassenfrage angedeutet ist, nämlich: wer die Erträge der Arbeit anderer erntet. Interessant ist auch, welche Rolle die Religionen in diesem Spiel haben: Sie rechtfertigen die Arbeit zugunsten der wirtschaftlich Profitierenden, indem dort anfangs verkün-det wird, Arbeit sei die Strafe Gottes in Zeiten der Sklaverei und Leibeigen-schaft, und später dann, es sei ein Dienst an Gott in Zeiten von Lohnarbeit, was dann ja für die Arbeiter allenfalls einen sogenannten Gotteslohn nach sich zieht.

Der Mensch kann zugunsten der eigenen Interessen eine Arbeit verrichten oder in Abhängigkeit zugunsten der Interessen anderer. Und wenn es sich nicht um Sklavenarbeit oder Ähnliches handelt, ist dies heutzutage zumeist wohl Lohnarbeit.

Im Fall der Lohnarbeit ist aber im Gegensatz zur Definition der Lexikons das Resultat der Arbeit nicht das Ziel der Arbeit, denn das Resultat der Arbeit dient ja dem Gewinn eines anderen. Das Ziel der Arbeit des Arbeitnehmers ist sein Lohn. Man hat also als Lohnarbeiter keinen wesentlichen Bezug zum Resultat (außer vielleicht in seiner Ideologie), da man ja nur in wirtschaftlicher Abhängigkeit Arbeit verrichtet, dafür seinen Lohn bekommt, unabhängig davon, wie das Resultat der Arbeit vermarktet wird und was das Produkt eventuell anrichten wird. Der Lohnarbeiter kann sich eher mit dem Arbeitsprozess und dem Ge-genstand seiner Arbeit identifizieren, der nach erfolgter Arbeit dann doch nicht ihm gehört. Man ist dann von dem Resultat der Arbeit entfremdet. Für den Lohnarbeiter mag es noch so scheinen, dass man arbeitet, um irgend etwas herzustellen oder eine Dienstleistung zu verrichten. Für den sogenannten Arbeitgeber jedoch, beispielsweise für den Großaktionär, geht es um das Erzeugen eines möglichst großen Gewinnes.

Im allgemeinen wird heutzutage bei uns lediglich die Erwerbsarbeit als Arbeit definiert, und dort besonders die Lohnarbeit. Und das ist ja im wesentlichen entfremdete Arbeit, obwohl man als Arbeitnehmer heutzutage natürlich anderes darüber zu denken hat. Es wird vom Lohnarbeiter ja die Identifikation mit den Arbeitergebnissen erwartet, die dann zum entsprechenden Resultat führen sollen, den Gewinn.

Arbeit ganz allgemein nur als Erwerbsarbeit zu definieren, das ist eine grobe Verkürzung des Begriffes. Denn wenn ich die Blumen bei mir zu Hause gieße, dann arbeite ich ja auch, obwohl mir niemand dafür einen Lohn bezahlt und ich damit keinem Kapitalbesitzer irgend einen Gewinn erzeuge. Es tut nur meinen Pflanzen gut und mir auch, weil ich mich mit schönen Pflanzen umgebe und so willentlich meine Umwelt gestalte.

Unsere Gesellschaftsordnung, in der wir derzeit leben, ist so ausgerichtet, dass ständig neue Verhältnisse erzeugt werden, in denen erarbeitete Werte in die Taschen der Kapitalbesitzer fließen. Damit dies auch klappt, muss genau diese Form der Arbeit, die diese Werteflüsse entstehen lässt, die zentrale moralische Größe in unserer Gesellschaft sein. Und daher ist bei uns ein anerkannter Mensch jemand, der von Lohnarbeit lebt, und als ein Unmensch wird angesehen, der sich durchschlägt und ohne Lohnarbeit dennoch einigermaßen angenehm lebt. Es wird auch psychischer Druck auf ihn ausgeübt, er sei gesellschaftlich unnütz, wertlos und faul, ein Schmarotzer eben. Als Schmarotzer werden natürlich nicht die Menschen angesehen, die an der Spitze dieses Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisses stehen, das ständig die Werte der Arbeit zu ihnen flie-ßen lässt. Die Kritik der offiziellen Gesellschaft richtet sich an kleine Leute, die offensichtlich dazu geboren sind, für andere zu arbeiten und ein schlechtes Ge-wissen haben, wenn sie es nicht tun.
 
2. Erwerbsarbeitsmoral
Auch bei Sklavenarbeit, noch mehr jedoch bei Lohnarbeit kommt es darauf an, dass die Erwerbsarbeiter als den Sinn ihres Lebens ansehen, für andere zu ar-beiten. Das Verbreiten dieser Arbeitsmoral geschieht nach wissenschaftlichen Kriterien und mit dem Auftauchen marktwirtschaftlicher Verhältnisse durch den Staat selbst. Bis dahin waren es die adligen Gutsbesitzer und die Kirche, die sich um die Arbeitsmoral kümmerten, denn sie waren ja zugleich auch die Profiteure der Arbeit ihrer Sklaven oder Leibeigenen.

Nun also kümmerte sich der Staat selber um diese Tugend der Arbeitnehmer, die damals "Industriösität" genannt wurde. Joachim Heinrich Campe schrieb das 1786 in Wolfenbüttel herausgegebene Werk "Über einige verkannte, wenigs-tens ungenutzte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des öffentlichen Wohlstandes". Hier entwarf er die Grundlagen einer allgemeinen Schulbildung für die Arbeiterklasse. Er kümmerte sich um die Landpredigerausbildung, die für die Moral der einfachen Bevölkerung sorgten, schrieb selbst Schulbücher, schrieb Märchen und Abenteuerromane um (z.B. Robinson Crusoe), damit sie seinen Erziehungszielen und Methoden entsprechen konnten, er erfand auch die Bergmannsuniform.
 
Da in den Silberminen die Ausbeute eher bescheiden war, wurde den Arbeitern statt Lohn eine schmucke Bergmannsuni-form gegeben. Rangabzeichen an dieser Uniform war die Größe der wollenen Klunker auf der Bergmannsmütze. Wer besonders aufopfernd arbeitete, bekam einen großen Klunker an den Hut. Wer keine betriebliche Anerkennung fand, hatte nur einen kleinen oder gar keinen Klunker am Hut. Die Mädels im Dorf wollten natürlich nur einen Bergmann mit einem großen Klunker und keinen sogenannten Arbeitsscheuen. So wurde auch die Sexualität zur Belohnung für Erwerbsarbeit, und die Struktur der neuen Geschlechtsfamilie, die die Großfamilie ablöste, sollte diesen Zustand sichern. Die Beziehungsform, die Form des Zusammenlebens des Arbeiters, seine Kleinfamilie eben, hatte den Arbeiter in seiner Arbeitmoral zu stabilisieren. Da seine Ehefrau und seine Kinder von seinem Arbeitslohn abhängig waren, bekam die Frau als Wächterin und Hüterin der Arbeits- wie der Sexualmoral neue Aufgaben. Beziehungsmoral und Arbeitsmoral wurden so miteinander verknüpft, dass sie ein Ganzes abgaben. Campe argumentierte im angegebenen Buch: "Da es nicht mehr bei uns steht, die Menschen wieder simpel, frugal, bedürfnisfrei z machen: so bleibt uns nichts mehr übrig, als zu versuchen, ob wir sie emsiger, industriöser und er-werbsamer machen können, damit Einnahme und Ausgabe einigermaßen wieder ins Gleichgewicht kommen mögen. ... in der Schule oder nirgends kann eine Nation zur Industrie, wie zu jeder anderen moralischen Tugend, gebildet werden".

Sexualität nur in einer heterosexuellen Ehe für legitim zu halten, heißt, Sexualität für Kinderaufzucht oder Alimente, Pflegeverpflichtung und Familienverantwortung, gegenseitige wirtschaftliche Verantwortlichkeit zu funktionalisieren. Sexualität dient also dann den regenerativen und reproduktiven Funktionen des Arbeiterumfeldes, der monogamen Kleinfamilie. Die Triebkraft der körperlichen Sexualität bringt den Menschen aufgrund der vorhandenen Moralauffassung, sich in eine solche Umklammerung zu begeben. Damit ihm die Gefangennahme nicht klar wird, gibt es die dieses verschleiernde Sentimentalität. Deshalb muss der Zugang zu freier Sexualität erschwert werden und deshalb ist, nebenbei bemerkt, beispielsweise die sogenannte Homo-Ehe kein emanzipatorischer, sondern ein integrativer Vorgang.
 
Die Homo-Ehe bekommt, wie wir wissen, jedoch nicht alle Rechte der heterosexuellen Zwangsform menschlichen Zusammenlebens, als Bestrafung dafür, dass meistens keine Kinder versorgt werden, dass also die Reproduktion der Arbeitskraft unvollständig bliebt, im herrschenden Sinne. Sexualität hat jeder Mensch im Überfluss, sie bräuchte niemanden zur Not werden. Sie wird aber künstlich zur Not gemacht, weil auch diese kreative Kraft des Menschen so wirtschaftlich genutzt werden kann.

Campe, der als Anhänger der französischen Revolution bekannt war, ist der Vater der Industrieschule, die der Vorgänger der allgemeinen Volksschule ist. Bezüglich der Ausbildung in der Industrieschule stellte er Fragen ,wie: "Wie kann man es erhalten, dass Kinder gehorsam und Männer dereinst nachgebend werden?", oder: "Wie kann man sie zur Festigkeit des Willens ohne Eigensinn bilden?" Das ist also die Arbeitsmoral, verknüpft mit der Ehemoral, die als einzige gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit sexueller Lust übrig zu bleiben hatte.
 
2.1. Schule
Dass es eine allgemeine Schulbildung geben sollte, ist auf Pädagogen wie Cam-pe zurückzuführen. Sie waren der Aufklärung und ihrer Obrigkeit verpflichtet und halfen, die Gesellschaft im Sinne der Marktwirtschaft umzugestalten. Und ein großes Ziel dieser Umgestaltung war, in der Gesellschaft die Ideologie "Industriösität" zu erzeugen, die man vielleicht heutzutage mit "Arbeitsamkeit" übersetzen könnte.

Es war das Problem zu lösen, dass es zwar viele arbeitslose Menschen gab, die durch die Umstrukturierungen in der Landwirtschaft "frei" wurden, also keine Leibeigenen mehr waren, die es aber nicht einsahen, für einen Hungerlohn, der nicht einmal die Lebensmittelkosten deckte, 12 oder 14 Stunden täglich zu arbeiten. Die Fabriken hatten einen großen Arbeitskräftemangel. Also schloss man Zuchthäuser für die "Arbeitsscheuen" an die Fabriken an. Ins Zuchthaus waren sie gekommen, weil es neue Gesetze gab, die für alle Menschen gleich galten. Nur trafen sie die Menschen unterschiedlich. So war oft Betteln verboten, oder es war bei Strafe verboten, unter einer Brücke zu Schlafen. das durfte weder der Adlige noch der Bettler oder Obdachlose. Es waren dies demokratische Gesetze, da sie für alle gleich galten. Diese Form der Arbeitskräftebeschaffung stellte sich jedoch auf Dauer als nicht erfolgreich heraus. Subtile Formen des passiven Widerstandes der im Zuchthaus schuftenden "Arbeitsscheuen" führten dazu, dass die Arbeitserträge trotz Prügelstrafe nicht ausreichend erschienen, auch die Qualität der Arbeit war mangelhaft. Also nahm man den Arbeitsscheuen die Kinder weg und steckte sie in die Industrieschulen, die als Vorläufer der allge-meinen Volksschule gelten.

Die Kinder saßen bei einfachen Handarbeiten in den harten Bänken der Industrieschulen, die den Fabriken angeschlossen waren. Auf einem Katheder thronte ein Prediger, Pfarrer oder ein ausgedienter Militär, der mit ihnen die 10 Gebote übte, den Rohrstock schwang aber ihnen auch Märchen und Erzählungen vorlas, bei denen die guten Menschen eben arbeitsam waren und dadurch alle Probleme lösten, weil sie ehrlich, fleißig, strebsam sowie dadurch angesehen waren. Alle menschliche Befriedigung, jegliche Tugend war nur durch Arbeit zu erreichen. Selbstbefriedigung hingegen war etwas sehr schlimmes, wovon man krank wurde. Der deftige Wortschatz über körperliche Belange durfte nicht mehr benutzt werden, da dies die Gossensprache sei. So wurde die Arbeiterklasse für sexuelle Dinge sprachlos. Ärzte, Juristen und Theologen benutzten die lateinische Sprache dafür.

Während meines Lehrerstudiums war ich in Frankfurt in einem Seminar, in dem wir angehenden DeutschlehrerInnen damals (1973) Schullesebücher nach normativen Tendenzen untersuchten. Wir stellten in den Büchern für die Haupt-schule fest, dass tatsächlich immer noch eine Arbeitsmoral wie bei Campe in den Texten gelehrt wurde. Auch die Sexualität wurde, wie bei Campe auch, nur in einer Ehe geduldet. Jede Abweichung von den rigiden Normen der Adenauer-Zeit wurden hier einerseits mit schuldgefühlerzeugenden sentimentalen Lesebuchgeschichten bestraft. Andererseits fanden wir religiös-sentimentale Ehe- und Treuegeschichten als gesellschaftspolitisches Leitbild, denn die traditionelle Ehe mit der entsprechenden "Treue"- und dem absichernden Eifersuchtsmodell ist ja die andere Seite der Arbeitsmoral. Da hat auch im Märzen der Bauer noch immer die Rösslein angespannt, als befänden wir uns noch immer in einer von Adel und Klerus beherrschten Agrargesellschaft und die Arbeiter wären Leibeigene oder aus der Leibeigenschaft entlassene Lohnarbeiter. Dies Arbeits- und die Sexualmoral fiel zum Teil sogar noch hinter Campes "Aufklärung" zurück, die wir dort vorfanden.

In den Schullesebüchern, die auf die sogenannte mittlere Reife vorbereiteten, war Campe durch alle Zeilen zu spüren. Die Arbeitsdisziplin war industrieller, die naturwissenschaftlichen Aussagen waren aufgeklärter, während sich die Sexualmoral sich an einer Moral orientierte, die alle menschlichen Bedürfnisse sich in der Arbeit erfüllen lässt und die Sexualität eben lediglich als Belohnung für Arbeit in der ehelichen Zeugung ihre wesentliche Funktion hat, was Selbst-befriedigung und besonders Homosexualität absolut ausschließt.

In den Gymnasial-Lesebücher fanden wir Abweichungen vor. Da war die Sexualität nicht direkt an die Ehe gebunden, sondern an eine Leib-Seele-Einheit, also an eine auf Sentimentalität begründete Dauerbeziehung. Selbstbefriedigung wurde sogar ohne Schuldgefühle geduldet, weil dies die außerehelichen und spontanen Sexkontakte reduzieren würde. Sogar Spottgeschichten über Moral-apostel waren zu finden, während man ja selbst nur raffinierter argumentierte a-ber eben doch auch moralisch war. Homosexuelle waren hier kranke Menschen, die man nicht diskriminieren sollte, aber ihre Nähe auch nicht aufsuchen sollte. Was die Darstellung der Arbeitswelt betraf, so war man auf der Höhe der Zeit. Schließlich wurden hier ja lohnabhängige Führungskräfte ausgebildet, die für Reformen aufgeschlossen sein sollen. "Ohne die Arbeitnehmer als billige und willige Mitarbeiter wäre es den Unternehmern nicht möglich gewesen, diese Aufbauleistungen zu erbringen", konnte man da zum Beispiel lesen.

Heute ist die allgemeine Bildung für alle zwar in der Theorie ein Schulziel aber kaum mehr in der machbaren Schulpraxis, denn die Lehrkräfte haben es mit anderen Problemen zu tun. Ein relativ großer Teil ihrer Schüler verstehen nicht einmal die Sprache des Lehrers. Hinzu kommt, dass die allgemeinbildenden Schulen zunehmend finanziell vernachlässigt werden, während es staatlich un-terstütze private Eliteschulen gibt, die sich in ihren gesellschaftspolitischen Normgebungen der marktwirtschaftlichen Durchdringung aller gesellschaftli-chen Bereiche verpflichten und bezüglich der gesellschaftspolitischen Wertebildung des Humanismus der öffentlichen wissenschaftlichen Kontrolle entziehen. Schließlich gibt es noch eine weitere Veränderung im sogenannten Klientel.
Auch heute ist ein sozialer Klassen-Unterschied zu spüren. Zukünftige Arbeit-nehmerInnen und zukünftige arbeitslose SozialhilfeempfängerInnen einerseits, und zukünftige Führungskräfte andererseits, zeigen eher folgende Verhaltensweisen:

1. Gut gestylte IdiotInnen, die sich deshalb großartig fühlen, weil sie durch Un-verschämtheit, gepaart mit dreister Niveaulosigkeit ältere Menschen verblüffen, legen keinen Wert mehr auf eine allgemeine Bildung, die ihnen in der sich ab-zeichnenden neoliberalen Gesellschaft ohnehin keine wirtschaftlichen Chancen eröffnet. Diese Inhalte sind ihnen schlicht zu langweilig. Es gehr nicht um Klugheit, sondern um Schläue. Ihr Selbstbewusstsein ist kein Produkt der Schu-le, sondern ein Produkt der Straße, der Medien und anderer wertebildender Strukturen und Zusammenhänge. Es geht ihnen nicht um irgendeine Form von Zivilisation, sondern um ihre Durchsetzungsfähigkeit der eigenen Bedürfnisse. Schlechte Noten sind nicht das Resultat mangelnden Eifers, sondern weil der Lehrer was gegen sie habe. Verzweifelte LehrerInnen versuchen zum Beispiel über den prinzipiellen Vorteil der umlagenfinanzierten Sozialversicherungen im Gegensatz zu den kapitalgedeckten Privatversicherungen aufzuklären und scheitern sowohl an dem nicht vorhandenen Interesse der SchülerInnen und auch an dem nicht vorhandenen Vorwissen wie letztlich an der Politik der Regierung und der Opposition in Berlin. Was bleibt denn dann noch trotz besten Absichten im Sinne einer aufgeklärteren Arbeitsmoral? Diese oben beschriebene Haltung ist nicht bei allen Jugendlichen und Kindern vorzufinden, aber es ist in der Hauptschule ein durchgängiger Trend.

2. Bei den SchülerInnen höherer sozialer Schichten ist die Dreistigkeit gegenüber anderen Menschen mit Klassenarroganz gepaart. Es ist gleichzeitig eine schon sehr früh karriereorientierte Haltung vorzufinden, was wohl in der Familie und der altersbezogenen Peergroup seine Entsprechung findet. Flankiert wird das ganze durch eine menschenverachtende entweder religiös oder national mo-tivierten Ideologie. Sie finden sich in der FDP oder CDU/CSU-Jugend wieder. Und verwirrte AnhängerInnen der Grünen oder der SPD unterscheiden sich mit ihren Auffassungen nur marginal von ihnen. Es ist für sie selbstverständlich, dass ihnen alle Führungspositionen der Gesellschaft zustehen, und wenn andere eine haben, dann sind diese dort Versager. Hier ist der Neoliberalismus voll-kommen ideologisch verankert. Wenn sie sich anderen Menschen gegenüber an-ständig verhalten, dann deshalb, weil sie denken, dass es für sie einen Karrieresinn macht.

Das gesamte Schulwesen hat erkennbar als einzigen übrig gebliebenes Ziel, die Kinder und Jugendlichen auf ihre spätere Berufstätigkeit vorzubreiten. Eine allgemeine Bildung ist angesichts knapper Mittel und der Struktur des Klientels sowie der Struktur der Schulen kein realistisches Bildungsziel mehr. Was in der Schule auf jeden Fall zu lernen ist, sind solche allgemeinbildende Kenntnisse und Fertigkeiten, die als Grundlage der beruflichen Ausbildung anzusehen sind. Eine über diesen Bereich hinausgehende kulturelle Bildung findet weder in der Haupt- noch in der Realschule nennenswert statt. Lediglich im Gymnasium gibt es ein schmales Band an kulturellen Grundlagen, was ja, genau genommen, für den bildungsbürgerlichen Mittelstand auch zur beruflichen Grundlage gehört. Was aber heutzutage im Abitur von den Kindern und Jugendlichen verlangt wird, ist vom Niveau her unter dem, was noch vor einigen Jahren von ihnen verlangt wurde.

Vor einigen Jahren noch begann nach dem Abitur eine weitere anstrengende Zeit, die Zeit des Studiums, das in den akademischen Beruf zu münden hatte. Heutzutage schließt sich teilweise auch nur noch eine normale Lehre an das A-bitur an, mit der Option auf ein Ingenieursstudium. Das kulturell abgespeckte Abitur wird aber von den Abiturienten zunehmend so gefeiert, als ob es ein Uni-versitätsabschluss wäre.

In den Medien gibt es Kampagnen gegen Studenten, die angeblich zu lange stu-dieren. Kann es gut sein, wenn von allen kulturellen Leistungen einer Gesellschaft lediglich das schmale Wissen übrigbleibt, das für den Berufsalltag eines bestimmten Berufes nötig ist? Immerhin ist damit zu rechnen, dass immer weni-ger der für die Berufe ausgebildeten Kinder und Jugendlichen in der gewerbli-che Arbeitswelt überhaupt noch benötigt werden. Hat eine Gesellschaft nicht auch noch die ideelle Aufgabe, zur Verbesserung der Kultur und der Zivilisation beizutragen? Dies würde aber dem Zynismus der neoliberalen Gesellschaft nicht entsprechen.
Offensichtlich sind die Schule und die allgemeine Bildung nicht mehr wichtig für die zukünftige Gesellschaft, in der jeder für sich sorgen muss, denn eine rea-listische Aussicht auf lebenssichernde Erwerbsarbeit wie die soziale Verant-wortung der Gemeinschaft gibt es nicht mehr.

Die allgemeinbildende Schule ist offensichtlich als treibende Kraft für die sich abzeichnende Gesellschaft unwichtiger geworden. Sie kleckert aus wie auch die Sozialsysteme auskleckern. Aber auf die Manipulation der Bevölkerung kann die wirtschaftliche Obrigkeit nicht verzichten. Wer übernimmt denn nun die Aufgabe, die von der wissenschaftlich überprüfbaren Schule nicht mehr geleistet werden kann? Ich behaupte, es sind die Medien, die sich ja dem Kommerz mehr verpflichtet fühlen als irgendwelchen überprüfbaren bildungspolitischen oder gesellschaftspolitischen Zielen.
2.2. Medien
Dort, wo die Schule nicht mehr in der Lage ist, an der allgemeinen Bildung ausgerichtete gesellschaftspolitische Ziele zu verinnerlichen, gelingt es den Medien, eine entsprechende gesellschaftlich wünschenswerte verschärfte Arbeits- und Sexualmoral besonders den Jugendlichen zu vermitteln. Die Medien, besonders die privaten Medien, nutzen dabei Erkenntnisse, die aus der Pädagogik und Didaktik stammen. Besonders aber aus der Werbepsychologie stammen die Tricks, mit denen die nachwachsenden Generationen die entsprechende gesellschaftspolitische Haltung vermittelt bekommen. Um nicht missverstanden zu werden, auch hier geht es nicht um eine allgemeine Bildung, die ja auch emanzipatorische Prozesse ermöglichen könnte.

Ehe und Familie, die Zweierbeziehung als solche sind deutlich über das hinaus, was sie zusammenbrachte, die Verliebtheit, zu wirtschaftlichen Einheiten ge-worden. Das ist deutlich im Steuer-, Erb-, Scheidungs- und Sozialrecht zu er-kennen. Sie werden auf jeden Fall als wirtschaftliche Einheiten durch die Ge-setzgebung gestaltet und im öffentlichen Leben auf diese Weise in Anspruch genommen. Und die sogenannte Homo-Ehe wird ja auch von Volker Beck gegenüber konservativen Angriffen auf ihn mit der Verantwortung füreinander be-gründet, die die Sozialkassen des Staates entlasten würde.

Die Gesellschaft wird in den unteren Schichten der Bevölkerung durch den Arbeitsethos und die Beziehungsideologie der Bevölkerung in ihren inneren Werten, die marktwirtschaftlich sind, erhalten. Wer vermittelt sie uns? Es geschieht durch Frauen, die uns als Kinder erzogen haben, und an die wir deshalb emotio-nal bis weit über die Kindheit hinaus gebunden sind, und um Frauen, an denen Männer erotischen Gefallen finden, die auch an den Männern nicht nur eroti-schen Gefallen finden.

Diese beiden Gruppen von Frauen sind, wie es in der Webepsychologie heißt, in Sachen Arbeits- und Beziehungsmoral die Meinungsführerinnen in der Gesellschaft. Viele Appelle der Medien richten sich gar nicht an den einzelnen, sondern an MeinungsführerInnen. Wir Schauen uns die Sendungen des öffentlichen und des privaten Fernsehens an, die sich vorrangig an Frauen richten. Es sind dies die Vormittagssendungen für die erziehenden und familienbildenden Frauen und natürlich auch die arbeitslosen Bestandteile der Bevölkerung, und es sind die Frühabendsendungen für die jungen Mädchen, um die sich die jungen Männer bewerben.
Sowohl die zahlreichen Arztserien wie die Familiengeschichten zeigen, wenn es um Männer geht, arbeitsame Männer, die dadurch verantwortlich ihre Familien ernähren und sich aufopfernd um ihre Kinder kümmern, während sie jahrzehntelang liebevoll ihre Frauen umschmeicheln. Die Frauen stärken ihnen den Rücken und flankieren die Bemühungen ihrer Männer. Und dann gibt es auch noch die Versager und Versagerinnen. Das sind Frauen, die intrigant gegen ehrliche Familien vorgehen. Wenn sie vorübergehend siegen, dann deshalb, weil sie erpressen, lügen, Menschen durch falsche Versprechungen in Abhängigkeit bringen usw.
 
Und das sind Männer, die keine Beziehungen pflegen oder Familien haben, aufbauen, schützen und versorgen, sondern sie sind Versager, und, wenn sie gefährlich sind, schlaue Versager. Sie schmarotzen an anderen Familien oder ihren eigenen Frauen, betrügen und rauben und sie sind oft Alkoholiker. Sie sind Frauen gegenüber gewalttätig und gehen fremd. Diese Männer werden dann zu gefährlichen und gewalttätigen Monstern. So also ist das gut-böse-Schema. Lesben und Schwule sind dieser Norm völlig unterworfen, sie leben in treuen Beziehungen, tragen Sorge füreinander und für die Nachbarn, pflegen oft auch hin-gebungsvoll Kinder, die an Aids erkrankt sind. So kann man nichts gegen sie haben, sie sind (weitgehend) "anständig". Auch berufstätige Frauen finden wir gelegentlich in den Soups und Ärzteserien, meistens als Alleinerziehende, während heterosexuelle Männer, die den Haushalt machen oder Kinder versorgen, eher zu den Witzfiguren gehören. Immerhin tauchen zunehmend Frauen auf, die sich zäh, ehrlich und arbeitsam an die Spitze von Unternehmen bringen.

Soups wie "Reich und schön" haben hier hohe Einschaltquoten und verkörpern das Leben wohlhabender Menschen, das ein Mensch der Arbeiterklasse nie er-reichen wird und das sich im übrigen auch so nicht abspielen würde. In Ge-richtssendungen tauchen auch diese Typisierungen auf. Die Talk-Shows wie die Soups am Vormittag richten sich also überwiegend an sogenannte Hausfrauen, die gegenüber ihren Kindern, Enkel und der Nachbarn ihre moralisierende Rolle in der Gesellschaft spielen.

Die Vorabend-Soups, (Verbotene Liebe, Marienhof, Gute Zeiten schlechte Zei-ten) drehen sich um die Suche nach Beziehungen, um das Pflegen von Bezie-hungen und hauptsächlich dort um das sogenannte Fremdgehen (den Sexerleb-nissen mit anderen) als die größte Gefahr einer Beziehung, weil es nicht gedul-det wird und die Beziehungen nach dem bekannt Werden beendet werden.

Am schlimmsten aber sind die Nachmittags-Gerichtssendungen und die Nach-mittag-Talk-Shows. Die richten sich im wesentlichen an junge Leute. Da werden (meist recht dumme) Menschen (oft auch, leicht erkennbar, mit schlechten SchauspielerInnen inszeniert) einer Meute anderer Menschen ausgeliefert, die dadurch überzeugen, dass sie als Meute klatschen, schreien, beschimpfen usw. Diese klakierende Meute ist offensichtlich eine Art Volksgerichtshof.

Schlimmes Verhalten ist dort das Beziehen von Sozialhilfe ohne Schuldgefühle und das sogenannte Fremdgehen. Fremdgehen ist immer verwerflich, egal ob es sich um einen Hetenmann oder einen Schwulen handelt, eine Hetenfrau oder ei-ne Lesbe. Und wer leben will, ohne einer Lohnarbeit nachzugehen, der ist mo-ralisch unten durch, verwerflich, und für den soll es weder ein positives Image geben noch einen Spielraum, sich zu entfalten. Schließlich, so wird das darge-stellt, lebt er schmarotzend von der Arbeit der Arbeitenden. Das ist die in den Medien vermittelte Moral. Wie kann der einzelne da an eine bessere Zukunft glauben, wie kommt er da raus? Nun, die gleichen Medien helfen da auch, denn Deutschland sucht ja ständig den Superstar, entweder auf der Alm, in einem Container, im Dschungelcamp, im Tonstudio oder irgendwo anders. Das ist einfach ekelhaft.

Als gutes moralisches Verhalten gilt zum Beispiel auch der Übergriff aus Eifersucht, das Einmischen in die Verhältnisse anderer, weil diese sich nicht an die Norm halten. Damit keine Missverständnisse auftauchen, sind auch gelegentlich Lesben- oder Schwulenpaare auf dem heißen Sitz, um ihr Verhalten von diesem Publikum beurteilen zu lassen. Sie treten als solche Beziehungspaare auf, als seine sie Heten. Hier merkt man ganz besonders, dass viele Szenen inszenierte Darstellungen sind. Meistens werden aber Hetenpaare inszeniert.

Bei Arabella tauchte zum Beispiel eine Frau auf, die bei ihrem Freund heimlich in der Wohnung rumschnüffelte, Briefe früherer Lebenspartnerinnen vernichte-te, das Bett, in dem er mit den früheren Partnerinnen verkehrte, zersägte, den Mietvertrag für seine Wohnung, in der er früher andere Frauen empfing, mit ge-fälschte Unterschrift aufkündigte, denn er sollte mit ihr zusammenziehen usw. Der in dieser Weise behandelte junge Mann ging auf das Diktat seiner Angebe-teten unter dem Applaus des Publikums ein. Das ist also die Normalität, an die sich Beziehungen zu gewöhnen zu haben: diese Beziehung ist ein Gefängnis, und die Gefängniswächter sind die BeziehungspartnerInnen selbst, die Distanzlosigkeit für eine Tugend halten. Diese Form der Beziehung ist die Ergänzung der Arbeitswelt, ist offensichtlich nötig, um die Kraft für Lohnarbeit zu erneu-ern, und sie ist genau so unerfreulich wie die Arbeitswelt mit ihren Abhängig-keitsverhältnissen.

Da geben wir viel Geld aus, um uns einen Fernseher zu kaufen, und wir geben das Geld nur deshalb aus, um uns freiwillig mit der vorherrschenden Ideologie vollmüllen zu lassen. Und da sprechen wir mit anderen Leuten, und was be-kommen wir zu hören? Genau das, was wir im Fernsehen nicht mehr sehen wollen.
 
2.3. Wirtschaft
Zu der in der Gesellschaft verbreiteten Ideologie gehört, dass die Wirtschaft da-zu da ist, für unser aller Wohlergehen zu sorgen, und dass wir deshalb die Inter-essenswahrnehmung der Wirtschaft für Naturgesetze zu halten haben. Was "die Wirtschaft" fordert, ist die Verpflichtung, noch mehr Werte in die Taschen derer umzuleiten, denen schon alles gehört. Immer unverblümter wird offenbar, dass es sich tatsächlich um Ausbeutung handelt.

Die bezahlte Pinkelpause bei Daimler in Sindelfingen soll wegfallen, oder alle werden arbeitslos, und über 50 Millionen Euro verteilen die Vorstände unter sich. Diese geraten aber immer mehr in die Diskussion, weil die Aktionäre, die eigentlichen BesitzerInnen der Wirtschaft, größere Teile vom Kuchen abhaben wollen. Die die Reichtümer erarbeiten, sollen möglichst wenig kosten, also möglichst wenig erhalten. Und als die Pinkelpause der Arbeiter erhalten zu wer-den drohte, sanken sofort die Aktienkurse. Vor allen Augen findet eine schamlo-se Ausbeutung statt, und weder die Regierung noch die Opposition hat etwas dagegen, im Gegenteil. Es geht deutlich darum, zu Lasten der ArbeitnehmerIn-nen genau diese Form der Bereicherung zu stärken. Und da sich dieses System weltweit verbreitet hat, ist eben "die Wirtschaft" vor allen Augen der weltweite Diktator, sind also die Verhältnisse, die die Werte in die Taschen der großen Gewinnler fließen lassen, zu den "natürlichen" Verhältnisse auf der Welt geworden.

Reichtum vermehrt sich nicht von alleine, sondern dazu müssen andere Men-schen arbeiten. Und wir sind die anderen Menschen, die dafür zu arbeiten haben, ob wir kleine selbständige Gewerbetreibende sind oder Arbeitnehmer. Es geht um ein Verhältnis, bei dem die einen dienen und die anderen einsacken. Und zwischen der kleinen Gruppe, die einsackt, und der anderen Menschengruppe, die dient, gibt es noch solche, die die Kontroll- und Vorgesetztenarbeit im Auf-trag der da oben machen, die sogenannten Besserverdienenden: Spitzenpolitike-rInnen der unterschiedlichen Parteien und ganz besonders WirtschftsmanagerIn-nen der Banken und der Industrien, die auch wie Banken betrieben werden. Viele SpitzenpolitikerInnen und WirtschaftsmanagerInnen wechseln zwischen diesen beiden Tätigkeitsbereichen hin und her, und das ist möglich, weil es in beiden Bereichen um die gleiche Aufgabe geht. Auf diese Funktionäre in Wirt-schaft und Politik wird der momentan auch der Zorn der sogenannten kleinen Leute gelenkt. Diese Gruppe bekommt nämlich für ihre Dienste im Auftrag der Einsackenden etwas mehr vom Kuchen. Wenn wir im allgemeinen an Leute denken, denen es gut geht, denken wir zumeist an solche leitenden Leute, denn die sind von den Lohnarbeitern im Arbeitsprozess und den Menschen wie Du und Ich weiter oben noch sichtbar.

Der/die normale ArbeitnehmerIn oder der/die kleine selbständige Gewerbetrei-bende ist in Wirklichkeit nicht in der Lage, das zu verdienen, was er oder sie zum Leben braucht, dafür ist gesorgt worden. Wir sind nämlich abhängig von den Sozialsystemen, wenn wir erkranken, arbeitslos oder zu Rentnern werden, und diese Systeme werden immer weiter so umgeformt, dass wir noch mehr in die Abhängigkeit solcher Einrichtungen geraten und dann das System als ganzes verteidigen. Denken wir zum Beispiel nur an die Kopfprämie, die von der Union für alle Krankenversicherten vorgesehen ist, egal wie viel sie verdienen. Für sol-che, die diese Höhe nicht aufbringen können, soll es "Beihilfen" geben, was da-zu führt, dass auch sie irgendwelchen Behörden ihre finanziellen Verhältnisse öffentlich machen müssen, einschließlich der Sparbücher ihrer nahen Verwand-ten. So werden wir zu BittstellerInnen gemacht und dafür noch Gedemütigt, ob-wohl wie zu denen gehören, die ihr Leben lang regelmäßig arbeiten oder gear-beitet haben.
 
3. Nation, Nationalismus und Marktwirtschaft
Ein gutes Mittel, die Menschen in die gewünschte Arbeitnehmerideologie zu bringen, ist die Identität mit dem vorgefundenen Staat und mit seiner Ordnung. Die Ideologie dieser marktorientierten Wirtschaftsordnung ist die der individu-ellen Freiheit. Die hat natürlich auch Grenzen, doch ist das erträgliche Leben für Lesben und Schwule eine Errungenschaft der bürgerlichen individuellen Frei-heit. Man hat sie, begrenzt, wenn man brav arbeitet und sich an die Beziehungs-ordnung hält und die individuelle Freiheit deshalb nicht in Anspruch nimmt.

Als die Gay-Manager, die schwulen Wirtschaftführer, in die Öffentlichkeit tra-ten, erklärten sie unter steigender Aufmerksamkeit der Medien, dass homosexu-elle Menschen auch die entsprechende Erwerbarbeitermoral haben, dass sie auch in einer diese absichernden monogamen Beziehung leben wollten, wenn man sie nur ließe, und dass deshalb kein Grund bestehe, diese AbweicherInnen von der gesellschaftlichen Norm in irgendeiner Form auszugrenzen oder zu diskriminie-ren. Durch den Schulterschluss des grün-dominierten LSVD mit den Gay-Managern wurde so der Weg frei, dass sich nun auch Schwule und "weniger häufig" Lesben in der CDU und der CSU öffentlich zu Wort melden.

Individualismus und bürgerliche Freiheit sind das eine Markenzeichen des bür-gerlichen kapitalistischen Staates. Die bürgerliche Freiheit ist aber aus all den genannten Gründen im wesentlichen die Freiheit, sich auf arbeitsamer Leute Kosten zu bereichern und sich auf Lasten anderer Menschen ein gutes Leben zu machen, sofern man nicht zu den ArbeitnehmerInnen gehört. Die Möglichkeit, diese Freiheit für sich zu nutzen hat der, der auf der anderen Seite der Wirtschaftsordnung steht, der sich in den oberen Rängen der Wirtshaftshierarchie aufhält. Wenn aber die arbeitenden Menschen immer mehr merken, dass sie all das bezahlen und dass ihnen selbst immer weniger übrigbleibt, könnte es sein, dass sie das nicht mehr erdulden können.. Aber auch das Gegenteil dieser Ideo-logie der Freiheit ist eine Erfindung der Marktwirtschaft.

Über den Individualismus hinaus ist auch der Nationalismus eine Erfindung des freien Unternehmertums. Im Nationalismus ist die Volksgemeinschaft integriert. An Stelle des Klassenkampfes, in dem die Arbeiterklasse gegen die sie ausbeutende Großunternehmerklasse kämpft, teilweise unterstützt von den sogenannten Mittelschichten, je nach dem, wird ideologisch der Rassenkampf oder der Kampf der Kulturen oder Religionen gestellt, in dem der deutsche Arbeiter zusammen mit den deutschen Unternehmer gegen Untermenschen von den Fremd-völkern kämpft, zugunsten des Wohlstandes der deutschen Volksgemeinschaft. Dazu ist eine aufopferungsbereite Bevölkerung nötig. Diese Ideologie eignet sich auch hervorragend zum Verdienen und zur Rechtfertigung von Kriegen. Sie führt zu Völkermord; Vertreibung und den Gewinnen daraus.

Die Nationalismus-Ideologie ist in der Lage, die Auseinandersetzungen um das Dienen und Verdienen in der Gesellschaft auf ein anderes Gleis zu führen. Es ist nicht mehr die Organisationsform der Arbeit, die geändert werden muss, son-dern es sind Gruppen von Menschen, die als Schuldige für erlittene Einschränkungen und Schicksalsschläge in den Medien angeprangert werden, die deshalb vertrieben, verfolgt oder gar ausgelöscht werden sollen. Als Teil einer solchen Gruppe ist man dann ohne Tatnachweis schuldig, dass man so ist wie man ist, und somit alle Verdächtigungen bestätigt. Dies kennen Lesben und Schwule in vielen Ländern und wir Lesben und Schwule in Deutschland aus der Geschichte, dies kennen auch Angehörige anderer Minderheiten.

Nationalismus ist eine perfide Ideologie, die ganze Gruppen von Menschen im Zuge von sogenannten Neid-Diskussionen zu Unmenschen macht und ein streng getrenntes Oben und Unten rechtfertigt. Die persönlichen Freiheiten können dann nicht mehr das Markenzeichen der Gesellschaft sein, deren Aufgabe es ist, seine wirtschaftliche Oberschicht zu bereichern. "Es muss sich alles ändern", heißt es dann bezüglich der individuellen Freiheiten, "damit alles so bleibt, wie es ist", womit das gesellschaftlich Oben und Unten gemeint ist.
 
4. Internationalismus
Als man früher die Arbeiterklasse und den unteren Mittelstand mithilfe des Na-tionalismus disziplinierte, gab es auch schon die multinationalen Konzerne, die aber in Konkurrenz mit anderen Konzernen sich ihre Märkte sicherten sowie sich ihrer arbeitsfähigen Bevölkerung sichern wollte. Nationalismus war hier ei-ne wirksame Ideologie zum Durchsetzen wirtschaftlicher Ziele. "Der Deutsche lebt um zu arbeiten und der Franzose arbeitet um zu leben," kennt Ihr diesen Spruch noch? Die Führer der Arbeiterklasse setzten gegen den Nationalismus der Konzernherren den proletarischen Internationalismus. Die internationale Ar-beiterklasse wird in vielen Ländern von der marktwirtschaftlichen Ordnung ausgebeutet, mit dem Nationalismus werden die Arbeiter gegeneinander aufgehetzt, durch internationale Solidarität kann die Revolution gegen das Kapital gelingen, so wurde argumentiert.

Im Zuge der Globalisierung gibt es gar keine nationalen Konzerne und tatsäch-lich auch keine nationale Wirtschaft mehr. Staaten sind zu handlichen Verwal-tungseinheiten geworden, in denen immer das Passende geschieht, damit die globale Wirtschaft weiterhin ihre Aufgabe erfüllt, die Werteströme nach oben fließen zu lassen. Und das ist noch nicht im Bewusstsein großer Teile der Be-völkerung angekommen, die man mit Nationalismus diszipliniert und auch hin-ters Licht führt. Internationalismus ist zur wirtschaftlichen Grundlage der großen Konzerne geworden: Europa statt Deutschland. Globalisierung statt "Wir und die anderen".

Internationale Konzerne kontrollieren die Rohstoffe, die Versorgung der Bevöl-kerung mit den Mitteln des alltäglichen Bedarfes. Sie kontrollieren die Regie-rungen und die staatlichen Armeen, oder sie unterhalten selber Armeen, um die Staaten, die anders zu ticken versuchen, zu destabilisieren.

Arbeitsfähige Bevölkerungen und für die Wirtschaft zu allem bereite Menschen gibt es in allen Ländern. Internationale Konzerne übernehmen schrittweise das, was bisher der Staat, der öffentliche Dienst oder die Sozialversicherungen regelten. Internationale Fachkräfte werden in den unterschiedlichen Staaten ange-worben und als Arbeitskräfte eingestellt.

Nationalismus dient nur noch der ideologischen Verwirrung der Menschen im Inland. Es wird so getan, als habe die Regierung des Staates noch den Spiel-raum, für die Menschen des eigenen Volkes Verbesserungen zu erreichen. Über-all werden die Menschen für eine Moral des Jeder-gegen-Jeden vorbereitet, Jeder ist seines Glückes Schmied und gegen jede Form von sozialer Verantwortung und von Mitmenschlichkeit usw. eingestellt.

Und die Familie wird zu einem Dienstleistungsunternehmen und auch innerhalb der Familien geht es zunehmend darum, wer auch dort wen ausbeutet. Durch Sentimentalität und die dazugehörige Beziehungsmoral sollen jungen Menschen so früh wie möglich in solche Familien gelotst werden, neuerdings auch in unse-rer Szene, denn der Single hat keine Familienform, die an die Stelle der öffentli-chen Sozialkassen eintritt. Menschen werden auf eine Arbeitswelt vorbereitet, obwohl man aufgrund einer hohen Produktivität vielleicht noch ¼ der arbeitsfä-higen Menschen dazu noch benötigt, um die entsprechenden Gewinne einzufahren.

Das Alte Rom war eine Sklavenhaltergesellschaft. Alles geschah durch die schuftenden Sklaven. Im Alten Rom wurden Menschen vieler Völker für die brutalen Spiele im Kolosseum abgerichtet, auch moralisch abgerichtet. Einige wurden aufgrund ihrer Fähigkeiten als brutale Kämpfer gebraucht, andere waren in ständiger Wartestellung. So kommt mir die arbeitsfähige Bevölkerung vor, die gar nicht benötigt wird und die man dann dafür bestraft, dass sie ohne Arbeit ist. Die Gladiatoren, die im Sinne der damaligen Kämpfe in der Arena nicht so leistungsfähig waren, wurden nicht durch römische Sozialsysteme lange ernährt, sondern sie wurden in der Arena einfach abgeschlachtet. Dies ist derzeit in der Arbeitswelt noch nicht so direkt wieder Brauch. Nun, man wird sich was einfallen lassen, man hat ja die Erfahrungen alles bisheriger Systeme im Fundus.
 
5. Religion
Ein Religionsführer sagt über seine Macht in einem Theaterstück: "Wenn es keinen Gott gäbe, müsste man ihn erfinden." Er lobte damit die Moral, die zugunsten der Vorteile wirtschaftlicher Nutznießer von den Sprechern der Religion verkündet werden. Mich interessiert hier nicht die Frage, ob es einen Gott gibt. Ich selbst halte diese Auffassung aber nicht für glaubwürdig. Religionen aber gibt es, und das sind selbstverständlich weltliche Einrichtungen, die ganz be-stimmten Menschen nutzen. Und alle diese Einrichtungen fordern ihre Schäfchen auf zu arbeiten, da dies Gottes Wille sei. Flankiert wird das natürlich dann auch mit der entsprechenden Sexualmoral, wie wir Lesben und Schwule ja wissen.

Mit Religion lässt sich die befreiende Aufklärung in der Bevölkerung zurück-drängen. Der Papst hat nun geäußert, dass die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft, der Feminismus also, die biologischen Unterschiede der Frau zum Mann negiere und dass die rechtliche Gleichstellung homosexueller Menschen die Ehe und die Familie gefährde. Eine muslimische Lehrerin an einer deutschen Schule in NRW sagte, der Islam trage zur Verjüngung Europas bei, da die Familie wieder eine größere Bedeutung bekomme. So bieten sich die einzel-nen Religionen an, der Wirtschaft die ideologische Basisarbeit zu machen. Wie ich schon ausgeführt habe, besteht eine enge Verbindung zwischen der Form des Zusammenlebens und der Form der Arbeit. Im Islam gilt die Erwerbsarbeit als Mühe, Plage und Strafe Gottes. Im aufgeklärteren (also nicht fundamentalisti-schen) Teil des Christentums ist Arbeit eine Form des Gottesdienstes. Belohnt für die Moral und die aufopferungsvolle Arbeit wird der Mensch nach seinem Ableben von Gott, was die Arbeitskosten für die Wirtschaft niedrig hält.
 
6. Freiheit...
ist die Kneipe nebenan, heißt es in einem Lied von Georg Kreisler, weil man nur besoffen Urlaub vom Gehorsam mache. Er fragt: "Wie ist man frei, wenn man Gefangene um sich hat, und alle angstbedrückt, gramgebückt, chefgeknickt, geldverrückt...". Um frei zu sein, muss ich da einsam sein, weil es gar keine Mitmenschen gibt, die auch frei sein wollen? Wenn ich in menschlicher Gesellschaft frei sein möchte, werde ich dann zum sogenannten Weltverbesserer, der den anderen auf die Nerven geht? Kann man in unseren Gesellschaften leben, ohne in irgendeiner Form von den Normen und Zwängen der Lohnarbeit erreicht zu werden? Selbst wenn man das Geld dazu hätte, müsste man sich an Öff-nungszeiten, den Feierabend der Mitmenschen usw. halten. Und das meiste müsste am Wochenende geschehen, wenn man nicht alleine sein will, denn wer hat schon Zeit in der Woche? Diese Erfahrung machen alle RentnerInnen.

Frei ist man doch, wenn man nicht gezwungen ist, gegen seine Interessen zu handeln. Gezwungen wird man durch staatliche Gesetze, durch gesellschaftli-chen Druck, durch wirtschaftliche Zwänge, aber auch durch Krankheit und Schicksalsschläge und den gesellschaftliche Möglichkeiten, ihnen zu begegnen. Die Organisationsformen der Gesellschaft, die uns dazu bringen, immer wieder in Abhängigkeit und Unfreiheit zu fallen, existieren nicht zufällig, sie sind beab-sichtigt. Die staatlichen Gesetze geben uns heutzutage einen größeren individu-ellen Entfaltungsspielraum als je zuvor, doch sind wir trotzdem nicht frei, weil die Bedingungen und Strukturen der Gesellschaft uns überall dort einen Riegel vorschieben, wo wir wirklich frei zu entscheiden drohen.

Der Rahmen, in dem wir wirtschaftlich einigermaßen zufriedenstellend leben können, spannt uns in andere Netzwerke ein. Jedes Ding fesselt dich wieder in einem Netzwerk. Man kauft heutzutage nicht mehr etwas, ein für alle mal, son-dern man kauft sich in ein Netzwerk und einen Prozess ein, für den man ständig wieder Geld aufbringen muss. Ich meine nicht nur die Miete und die Lebensmittel, die man ständig neu benötigt, und nicht nur die vielen Versicherungen usw. Willst du Musik hören? Dann kaufst du dir eine Anlage, die Strom ver-braucht ständig der Ergänzung durch CDs bedarf. Willst du die Freiheit der Mo-bilität mittels Auto kaufen, dann kaufst du dich in ein System von Versicherungen, Tankstellen, Steuern, Werkstätten, Parkberechtigungen und Verkehrsregeln ein, nicht zu vergessen den ganzen Straßenbaus usw.

Damit die Menschen einer Gesellschaft frei entscheiden können, benötigt man auch eine soziale Struktur, die ein Leben ohne Angst vor einer sozialen Katast-rophe ermöglicht. Um frei sein zu können, benötigt man nicht nur andere freie und freiheitsliebende Mitmenschen, man benötigt auch, dass man vor den Inte-ressen anderer Menschen keine Angst zu haben braucht.

Dann lebt man vielleicht, von außen betrachtet, gar nicht so viel anders als vor-her, oder doch, wenn man will, aber eben vom eigenen Gefühl her ganz anders, nämlich ohne äußeren Druck und deshalb mit weniger Angst und viel zufriede-ner. Wer die Erwerbsarbeitsmoral nicht hat, arbeitet auch. Wer die entsprechende Familienmoral nicht hat, verliebt sich auch. Das Leben in Freiheit sieht im Detail von außen wahrscheinlich kaum anders aus.
 
7. Der Arbeitsbegriff, die Sexualmoral und die Alternativen
In Deutschland mit seinen derzeit ca. 82 Millionen EinwohnerInnen sind knapp 38 Millionen berufstätig. Der Anteil der Berufstätigen an der Gesamtbevölke-rung wird eher abnehmen. Zu den 38 Millionen gehören auch die, deren Arbeit es ist, die erarbeiteten Werte einzustreichen. Die anderen sind Hausfrauen, Kin-der und RentnerInnen, Arbeits- und Obdachlose sowie Behinderte und Kranke.
Die 44 Millionen Nichterwerbstätigen aber arbeiten auch. Es handelt sich um Arbeiten, die in den offiziellen Zahlen deshalb nicht auftauchen, weil die wirt-schaftliche Obrigkeit davon keinen direkten Nutzen hat. Indirekten Nutzen hat sie davon schon, denn es hat sich gezeigt, dass wir Berufstätigen unser Einge-bundensein in die Zwänge des Arbeitsprozesses nur deshalb derart absolut ertra-gen können, weil einerseits kommerzielle Dienstleistungen, die wir bezahlen, a-ber auch unbezahlte Dienstleistungen von BeziehungspartnerInnen an uns dies ermöglichen, indem sie uns den Rücken frei halten, uns mit tausend kleinen Hilfestellungen umgeben. Das tun wir durchaus auch gegenseitig, ohne dies zu be-merken, weil dies eben unser normales Leben ist.

Arbeit in seiner wirklichen Bedeutung ist eine menschliche Lebensäußerung. Arbeit heißt, bewusst das Leben und die Umwelt zu gestalten. Solche Arbeit be-friedigt, weil sie nicht entfremdet ist, das heißt: ihr Resultat ist auch ihr Zweck.

Also, ehrlich gesagt, mich würde es nicht stören, wenn es keine wirtschaftliche Obrigkeit geben würde, die die Umwelt um sich so organisiert, dass große Teile des Erarbeiteten in ihre Taschen fließen. Ohne deren Anteil, würde es für uns alle sicherganz gut reichen.
Wie würde ein Arbeitsleben aussehen können, das nicht entfremdet ist, das nicht für "die da oben" da ist, sondern für uns? Bräuchten wir dafür auch diese 1. Arbeitsmoral und diese 2. Sexualmoral? Ich beziehe mich in meinen Antwortversuchen auf Marx, weil der die Arbeit als das grundlegend Menschliche ansah und gleichzeitig die Freiheit des Menschen vor Ausbeutung anstrebte. Wie soll denn das aussehen? Geht das auch ohne Arbeits- und diese Familienmoral?
 
Die Arbeitsmoral der Zukunft
"Schweißgebadet baut der Mann das Haus, in dem er nicht wohnen wird. A-ber es schuftet schweißgebadet auch der Mann, der sein eigenes Haus baut",
schreibt Brecht. Also die Arbeit in der Ausbeutung sieht genau so aus wie die Arbeit in Freiheit?
Marx meint zur Weiterentwicklung der Gesellschaft in Bezug auf Arbeit: "Man hat eingewendet, mit der Aufhebung des Privateigentums werde alle Tätigkeit aufhören und eine allgemeine Faulheit einreißen. Hiernach müsste die bür-gerliche Gesellschaft längst an Trägheit zugrunde gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht. Das ganze Bedenken läuft auf die Tautologie hinaus, dass es keine Lohnarbeit mehr gibt, sobald es kein Kapital mehr gibt." Das ist aus dem "Manifest der kommu-nistischen Partei", das wie folg endet: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwick-lung aller ist". Klingt irgendwie gut, aber wie soll man sich das vorstellen?

Marx stellte in seinen Schriften dar, dass unter der Bedingung der Marktwirt-schaft der Mensch nicht, wie behauptet wird, nach seiner Leistung entlohnt wird. Je widerwärtiger und mühevoller die Arbeit sei, desto schlechter werde sie auch bezahlt. Im Sozialismus erst, der von ihm prognostizierten Wirtschaftsform, die den Kapitalismus ablöse, könne man davon sprechen, dass jeder entsprechend seiner Leistung erhalte. Im Kommunismus dann schließlich, in der klassenlosen Gesellschaft also, sei die Arbeit das größte Lebensbedürfnis des Menschen. Klingt interessant, aber ich kann mir das nicht wirklich vorstellen.

Ein Leben, das die Arbeit der Menschen anerkennt, auch wenn sich niemand dadurch bereichern kann, kann ich mir gar nicht so richtig vorstellen. Die Moral der Erwerbsarbeit habe ich da zu stark verinnerlicht. Wären die Kapitalisten ab-geschafft, würde ich dann besser leben?. Ich würde es sicherlich dann kaum be-merken, wenn an die Stelle der wirtschaftlich Mächtigen einfach ihre nächsten Sachwalter treten würden: Manager, Spitzenpolitiker und Funktionäre, um "das Vakuum" zu füllen, oder gar Religionsführer und Mafiabosse.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Jeremy Rifkin schrieb 1993 über das Ende der Industriearbeit aufgrund einer neuen industriel-len Revolution, des Computers, das sich in den Massenentlassungen bei immer größeren Renditen abzeichnen würde. Er meint, dass der Staat als Organisations-form seine Macht zunehmend an die multinationalen Konzerne verlieren würde und keine Regierung es sich mehr leisten könnte, staatliche Arbeits- oder Sozi-alprogramme aufzulegen. Der Staat müsse sich überall aus seiner sozialen Ver-antwortung zurückziehen. Auch im Dienstleistungsbereich würde der Computer Arbeitsplätze vernichten, dieser Bereich könne also nicht alle die Suchenden aufnehmen. Notgedrungen müssten immer größere Gruppen von Menschen ver-suchen, da sie im 1. Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen könn-ten, andere Möglichkeiten des Lebens bzw. Überlebens zu finden. Und sie könnten diese Möglichkeiten nur dort finden, wo in der Gesellschaft ein Bereich sei, dessen Arbeit von der Wirtschaft nicht anerkannt werden könnte, da seine Gewinne nicht in Form von Renditen und Löhnen vorliegen würden, im freiwil-ligen Bereich, im Non-Profit-Bereich.

Hier würden die Menschen andere als Marktbeziehungen miteinander eingehen. In der Marktwirtschaft sei ein Mensch so viel wert, wie er Kaufkraft habe. Hier seien andere Qualitäten wertbestimmend. Mit dem Non-Profit-Bereich meint er die vielen Freiwilligenorganisationen der Gesellschaft, die das Leben in der Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen, von der freiwilligen Feuerwehr über Aids-Hilfen zur Tafel für notleidende Menschen, Musik- und Theatervereinen, Gruppen mit kulturellen, sozialen, zwischenmenschlichen und emanzipatori-schen Zielen. Die Kosten dafür müssten von den Produktivitätsgewinnen abge-zweigt werden, die das Computerzeitalter so reich bescheren würde. Ein zum Beispiel staatlich garantiertes Grundgehalt für alle Menschen müsste an solche freiwilligen Arbeiten gekoppelt werden, um den Übergang der Gesellschaften in das postmarktwirtschaftliche Zeitalter bewältigen zu können. Also, was ich jetzt als Hobby mache, die Zeitschrift LUST und die Gruppenarbeit, dafür sollte ich dann meinen Lebensunterhalt bekommen? Nun frage ich mich, wenn der Staat durch die multinationalen Konzerne geschwächt ist, wer soll die Produktivitäts-gewinne der Wirtschaft den Milliardären mit ihren Privatarmeen wegnehmen und in die Gesellschaft umleiten? Da stehen dann doch wohl neue Klassenkämpfe an, wenn er recht hat.
 
Die Sexualmoral der Zukunft
Die Sexualmoral, die derzeit die Aufgabe hat, die Arbeitsmoral zu stabilisieren, würde sich dann sicherlich auch ändern. Friedrich Engels meint 1884 dazu: "Was wir also heutzutage vermuten können über die Ordnung der Geschlechterverhältnisse nach der bevorstehenden Wegwerfung der kapitalisti-schen Produktion ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Män-nern, die nie im Leben in den Fall gekommen sind, für Geld und andere sozi-alen Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, dass sie tun sollen; sie werden sich ihre eigene Praxis und ihre danach abge-messne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen - Punktum." (Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates; Berlin 1983, S.98) Und schließlich ist er noch der Auffassung, dass sich die Geschlechterverhältnisse von der Gruppen-Ehe bis hin zur Monogamie verfeinert hätten, und die Monogamie böte die Chance, die Gleichheit der Geschlechter zu erreichen. Dann zitiert er den Ethnologen Morgan: "... Sollte in entfernter Zukunft die monogame Familie nicht imstande sein, die Ansprüche der Gesell-schaft zu erfüllen, so ist unmöglich vorherzusagen, von welcher Beschaffen-heit ihre Nachfolgerin sein wird."
Hans-Georg Stühmke und Rudi Finkler kritisierten in ihrem 1981 bei Rowohlt erschienenen Taschenbuch "Rosa Winkel, Rosa Listen" die Haltung von Marx und Engels gegenüber der Homosexualität. Immerhin hatten sich die beiden Kritiker der bürgerlichen Doppelmoral äußerst abfällig über die Homosexualität und homosexuelle Menschen geäußert, politische Gegner als Homosexuelle verdächtigt und sogar vom neu gegründeten Kaiserreich erhofft, mit preußischer Strenge gegen Homosexualität vorzugehen, wärend sie ansonsten das Preußen-tum kritisierten.. Stühmke und Finkler zitieren Marx und Engels: "Ist nur die auf Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die Liebe fortbe-steht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechterliebe ist aber nach dem Individuum sehr verschieden, namentlich bei den Männern, und ein positives Aufhören der Zuneigung oder ihre Verdrängung durch einen neue lei-denschaftlichen Liebe macht die Scheidung für beide Teile wie für die Gesellschaft zur Wohltat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten." (MEW, Band 21, S. 83)

Dieses Zitat ist aber nur auf dem ersten Blick ein emanzipatives, denn wieso soll beim Mann die Liebe schneller aufhören als bei der Frau? In dem angegebenen Buch von Stühmke/Finkler aber versteigen sie die Autoren bei ihrer berechtigten Marxkritik in folgende Behauptung: "Die freie Liebe, wie sie hier (bei Marx und Engels) als konkrete Utopie gesehen wurde, war freilich bei den Homose-xuellen Praxis." (S. 51)

Hier ist aber nun alles falsch. Marx und Engels ging es nicht um die "Freie Liebe", sondern um das Recht, schnell einen neue monogame Beziehung eingehen zu können, "namentlich für den Mann". Und bei den Schwulen wird keine "Freie Liebe" gelebt, sondern bestenfalls eine bindungslose Sexualität, weil Bindungen auf Dauer zu verräterisch und zu unpraktisch waren, wenn man heterosexuelle Scheinbindungen pflegte, und weil Sex zwischen Männern keine Folgen hat, wie z. B. eine Schwangerschaft. Aber neuerdings wird mit der Integration der Lesben und Schwulen in die auf Dauer angelegte Zweierbeziehung eine Homo-Ehe auch zur Norm. Und wo sie nicht Norm ist, kann beobachtet werden, dass solche jungen Männer, die in der Marktwirtschaft als sexuelle erotische Werbeträger fungieren, von allen ersehnt werden und einen hohen Marktwert auf dem Liebesmarkt haben. Die anderen, besonders die älteren von ihnen ver-spüren aber überhaupt nichts von irgendeiner Form freien Liebe, sondern sie vereinsamen, sexuell und oft auch menschlich.

Wir wissen heute natürlich, dass sich die Marktwirtschaft noch viel tiefer in das Leben der Menschen hineingefressen hat. Die 68er Jugendrevolte, die auch eine Sexrevolte war, die damit auch die Arbeitsmoral erschütterte, hatte nicht die entfremdete Arbeit abgeschafft, aber der Strafende und belohnende Unternehmer-patriarch ist in einem versachlichten Unternehmen hinter den Manager getreten, wurde unsichtbar. Sexualität ist nicht befreit aber zunehmend selbst zur Ware, zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden. Und dadurch ist ein Markt entstan-den, der sich allzu rigider Moralisierung entzieht aber davon lebt, dass Men-schen sich real nicht ausreichend befriedigen. Ziel stattlichen Eingriffs ist es nun deshalb, dafür zu sorgen, dass auch hier nicht zu viel individuelle Freiheit entsteht.

Wir würden wohl das ganze Netz an Strukturen, das der Ausbeutung dient, nur loswerden können, wenn die Organisationsformen der Arbeit völlig umgebaut würden und die Grundfesten der Arbeitsmoral und der Beziehungsmoral erschüttert würden. Die Welt der Erwerbsarbeit ist aber tatsächlich an ihre Grenzen gekommen, sie ist auf dem Rückzug. Das Entwickeln neuer Formen, hoffentlich erträglicherer Formen, wird für die Gesellschaften eine der Hauptaufgaben der Zukunft sein, sofern sich die Menschheit zukünftig halbwegs zivilisatorischer Formen des Zusammenlebens bedient. (js)

Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite