- 80. LUST, Herbst 04
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- "Die Arbeitswelt ist die Schule der
Nation" - oder-
- "Was von der Arbeits- und der Sexualmoral
bleibt, wenn die Lohnarbeit nicht mehr benötigt wird."
"Die Bundeswehr ist die Schule der
Nation", sagte einst der CDU-Bundeskanzler Kiesinger. Das
hat zu Protesten geführt, denn nicht der Krieg, sondern
der Arbeitsalltag sei der "Ernstfall".
Doch wie ist es heutzutage? Alle sollen mit Druck und mit der
entsprechen-den Einstellung möglichst schnell in einen Beruf
und auf eine Arbeitsstelle, wobei die Höhe des Lohnes keine
Rolle mehr spielen soll. Der Kindergarten soll zur Vorschule
werden. Das Schulwesen führt zur Erwerbsarbeit. Für
die Erwerbsarbeit ist eine gewissen Disziplin nötig. Wer
nicht einer Er-werbsarbeit nachgeht, steht außerhalb der
Gesellschaft. Doch die Platzan-gebote für Erwerbsarbeit
nehmen ständig ab. Auch die Zeit außerhalb der Erwerbsarbeit
richtet sich nach den Zeitvorgaben der Erwerbsarbeit.
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- 1. Das Wesen der Arbeit
Als schwuler Mann, als lesbische Frau wissen wir, um einigermaßen
unbehelligt, vielleicht sogar zufriedenstellend leben zu können,
benötigen wir Geld, wenn wir schon im Kapitalismus leben.
Also ist ein möglichst gut bezahlter Ar-beitsplatz oder
ein eigener Betrieb die Voraussetzung für alles. Doch am
Arbeitsplatz werden von uns Verhaltensweisen erwartet, die uns
prägen und verändern. Die Arbeitswelt greift mit ihren
Normen und Werten tief in das Leben der Menschen unserer Szene
und gestaltet die Szene somit. Was ist ganz allgemein das Wesen
der Arbeit?
"Bewusster ziel- und zweckgerichteter Einsatz körperlicher
und geistig-seelischer Kräfte des Menschen, der sich in
Arbeitsergebnissen vergegens-tändlicht (Güter, Dienstleistungen,
geistig-künstlerische Werke), die der Be-friedigung materieller
und ideeller Bedürfnisse dienen", steht im Mayers Taschenlexikon.
Es folg dann der Text: "Die Wertung der Arbeit im religiösen,
philosophischen und weltanschaulichen Denken zeigt im Laufe der
Ge-schichte große Unterschiede. Sie reicht von Arbeit als
Mühe, Plage und Strafe Gottes. Nach der Aufwertung der Arbeit
seit Beginn der Neuzeit (durch die Reformation) bis zu ihrer
Hochzeit als eine Form des Gottesdienstes (M. Luther) und von
ihrer Anerkennung als von fundamentaler Bedeutung für die
Freiheit des Menschen (Hegel) bis gar zum eigentlichen Schöpfer
des Men-schen in seinem Prozess seiner Herausbildung aus dem
Tierreich (K. Marx)."
Eine solche kurzgefasste und doch umfassende philosophisch-historische
Ab-handlung zeichnet dieses Lexikon aus. Nur das Wort "gar"
bei Marx ist leider kommentierend und auch unpassend. Es scheint
im Marxschen Arbeitsbegriff die Vielfalt der Arbeitsformen mit
Bedacht worden zu sein. Der interessante Text geht weiter:
"Dabei fällt dem jeweiligen Charakter der Arbeit und
der Bedingungen, unter denen Arbeit geleistet wird (schwere körperliche
oder geistig-schöpferischer Arbeit, fremdbestimmte oder
mitbestimmte, eigenver-antwortliche Arbeit, Zwangsarbeit (z.
Beispiel Sklavenarbeit), abhängige Lohnarbeit u.a.) große
Bedeutung zu wie auch der Frage, wem das Ergebnis der Arbeit
zugute kommt. So wird Arbeit sowohl als Ursache von Entfrem-dung
als auch als entscheidender Bereich der Selbstverwirklichung
angese-hen." Ich zitiere hier nur ca. 1/3 des Textes
über Arbeit, da dieser Teil für unser Thema von größerem
Interesse ist.
Arbeit ist aus meiner Sicht ein Begriff, der allgemein menschliche
Tätigkeiten beschreibt, die der Mensch vornimmt, um sein
Leben und seine Umwelt zu gestalten. Das unterscheidet ihn vom
Tier, das nicht in dieser Form arbeitet, sondern in der vorgefundenen
Umwelt einen Weg zum Überleben sucht, also im wesentlichen
sein Leben und seine Umwelt nicht willentlich gestaltet.
Bei der großen Vielfalt im Tierreich gibt es natürlich
auch Lebensformen, die mit menschlicher Arbeit verglichen werden
können, aber es sind dies z.B. beim Biber oder bei den staatenbildenden
Insekten keine bewussten Handlungen zum Gestalten des Lebens,
sondern es sind Notwendigkeiten, um überhaupt leben zu können.
Es ist bei der Definition aus dem Lexikon bezeichnend, dass die
Klassenfrage angedeutet ist, nämlich: wer die Erträge
der Arbeit anderer erntet. Interessant ist auch, welche Rolle
die Religionen in diesem Spiel haben: Sie rechtfertigen die Arbeit
zugunsten der wirtschaftlich Profitierenden, indem dort anfangs
verkün-det wird, Arbeit sei die Strafe Gottes in Zeiten
der Sklaverei und Leibeigen-schaft, und später dann, es
sei ein Dienst an Gott in Zeiten von Lohnarbeit, was dann ja
für die Arbeiter allenfalls einen sogenannten Gotteslohn
nach sich zieht.
Der Mensch kann zugunsten der eigenen Interessen eine Arbeit
verrichten oder in Abhängigkeit zugunsten der Interessen
anderer. Und wenn es sich nicht um Sklavenarbeit oder Ähnliches
handelt, ist dies heutzutage zumeist wohl Lohnarbeit.
Im Fall der Lohnarbeit ist aber im Gegensatz zur Definition der
Lexikons das Resultat der Arbeit nicht das Ziel der Arbeit, denn
das Resultat der Arbeit dient ja dem Gewinn eines anderen. Das
Ziel der Arbeit des Arbeitnehmers ist sein Lohn. Man hat also
als Lohnarbeiter keinen wesentlichen Bezug zum Resultat (außer
vielleicht in seiner Ideologie), da man ja nur in wirtschaftlicher
Abhängigkeit Arbeit verrichtet, dafür seinen Lohn bekommt,
unabhängig davon, wie das Resultat der Arbeit vermarktet
wird und was das Produkt eventuell anrichten wird. Der Lohnarbeiter
kann sich eher mit dem Arbeitsprozess und dem Ge-genstand seiner
Arbeit identifizieren, der nach erfolgter Arbeit dann doch nicht
ihm gehört. Man ist dann von dem Resultat der Arbeit entfremdet.
Für den Lohnarbeiter mag es noch so scheinen, dass man arbeitet,
um irgend etwas herzustellen oder eine Dienstleistung zu verrichten.
Für den sogenannten Arbeitgeber jedoch, beispielsweise für
den Großaktionär, geht es um das Erzeugen eines möglichst
großen Gewinnes.
Im allgemeinen wird heutzutage bei uns lediglich die Erwerbsarbeit
als Arbeit definiert, und dort besonders die Lohnarbeit. Und
das ist ja im wesentlichen entfremdete Arbeit, obwohl man als
Arbeitnehmer heutzutage natürlich anderes darüber zu
denken hat. Es wird vom Lohnarbeiter ja die Identifikation mit
den Arbeitergebnissen erwartet, die dann zum entsprechenden Resultat
führen sollen, den Gewinn.
Arbeit ganz allgemein nur als Erwerbsarbeit zu definieren, das
ist eine grobe Verkürzung des Begriffes. Denn wenn ich die
Blumen bei mir zu Hause gieße, dann arbeite ich ja auch,
obwohl mir niemand dafür einen Lohn bezahlt und ich damit
keinem Kapitalbesitzer irgend einen Gewinn erzeuge. Es tut nur
meinen Pflanzen gut und mir auch, weil ich mich mit schönen
Pflanzen umgebe und so willentlich meine Umwelt gestalte.
Unsere Gesellschaftsordnung, in der wir derzeit leben, ist so
ausgerichtet, dass ständig neue Verhältnisse erzeugt
werden, in denen erarbeitete Werte in die Taschen der Kapitalbesitzer
fließen. Damit dies auch klappt, muss genau diese Form
der Arbeit, die diese Werteflüsse entstehen lässt,
die zentrale moralische Größe in unserer Gesellschaft
sein. Und daher ist bei uns ein anerkannter Mensch jemand, der
von Lohnarbeit lebt, und als ein Unmensch wird angesehen, der
sich durchschlägt und ohne Lohnarbeit dennoch einigermaßen
angenehm lebt. Es wird auch psychischer Druck auf ihn ausgeübt,
er sei gesellschaftlich unnütz, wertlos und faul, ein Schmarotzer
eben. Als Schmarotzer werden natürlich nicht die Menschen
angesehen, die an der Spitze dieses Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisses
stehen, das ständig die Werte der Arbeit zu ihnen flie-ßen
lässt. Die Kritik der offiziellen Gesellschaft richtet sich
an kleine Leute, die offensichtlich dazu geboren sind, für
andere zu arbeiten und ein schlechtes Ge-wissen haben, wenn sie
es nicht tun.
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- 2. Erwerbsarbeitsmoral
Auch bei Sklavenarbeit, noch mehr jedoch bei Lohnarbeit kommt
es darauf an, dass die Erwerbsarbeiter als den Sinn ihres Lebens
ansehen, für andere zu ar-beiten. Das Verbreiten dieser
Arbeitsmoral geschieht nach wissenschaftlichen Kriterien und
mit dem Auftauchen marktwirtschaftlicher Verhältnisse durch
den Staat selbst. Bis dahin waren es die adligen Gutsbesitzer
und die Kirche, die sich um die Arbeitsmoral kümmerten,
denn sie waren ja zugleich auch die Profiteure der Arbeit ihrer
Sklaven oder Leibeigenen.

Nun also kümmerte sich der Staat selber um diese Tugend
der Arbeitnehmer, die damals "Industriösität"
genannt wurde. Joachim Heinrich Campe schrieb das 1786 in Wolfenbüttel
herausgegebene Werk "Über einige verkannte, wenigs-tens
ungenutzte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung
und des öffentlichen Wohlstandes". Hier entwarf
er die Grundlagen einer allgemeinen Schulbildung für die
Arbeiterklasse. Er kümmerte sich um die Landpredigerausbildung,
die für die Moral der einfachen Bevölkerung sorgten,
schrieb selbst Schulbücher, schrieb Märchen und Abenteuerromane
um (z.B. Robinson Crusoe), damit sie seinen Erziehungszielen
und Methoden entsprechen konnten, er erfand auch die Bergmannsuniform.
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- Da in den Silberminen die Ausbeute eher bescheiden
war, wurde den Arbeitern statt Lohn eine schmucke Bergmannsuni-form
gegeben. Rangabzeichen an dieser Uniform war die Größe
der wollenen Klunker auf der Bergmannsmütze. Wer besonders
aufopfernd arbeitete, bekam einen großen Klunker an den
Hut. Wer keine betriebliche Anerkennung fand, hatte nur einen
kleinen oder gar keinen Klunker am Hut. Die Mädels im Dorf
wollten natürlich nur einen Bergmann mit einem großen
Klunker und keinen sogenannten Arbeitsscheuen. So wurde auch
die Sexualität zur Belohnung für Erwerbsarbeit, und
die Struktur der neuen Geschlechtsfamilie, die die Großfamilie
ablöste, sollte diesen Zustand sichern. Die Beziehungsform,
die Form des Zusammenlebens des Arbeiters, seine Kleinfamilie
eben, hatte den Arbeiter in seiner Arbeitmoral zu stabilisieren.
Da seine Ehefrau und seine Kinder von seinem Arbeitslohn abhängig
waren, bekam die Frau als Wächterin und Hüterin der
Arbeits- wie der Sexualmoral neue Aufgaben. Beziehungsmoral und
Arbeitsmoral wurden so miteinander verknüpft, dass sie ein
Ganzes abgaben. Campe argumentierte im angegebenen Buch:
"Da es nicht mehr bei uns steht, die Menschen wieder simpel,
frugal, bedürfnisfrei z machen: so bleibt uns nichts mehr
übrig, als zu versuchen, ob wir sie emsiger, industriöser
und er-werbsamer machen können, damit Einnahme und Ausgabe
einigermaßen wieder ins Gleichgewicht kommen mögen.
... in der Schule oder nirgends kann eine Nation zur Industrie,
wie zu jeder anderen moralischen Tugend, gebildet werden".

Sexualität nur in einer heterosexuellen Ehe für legitim
zu halten, heißt, Sexualität für Kinderaufzucht
oder Alimente, Pflegeverpflichtung und Familienverantwortung,
gegenseitige wirtschaftliche Verantwortlichkeit zu funktionalisieren.
Sexualität dient also dann den regenerativen und reproduktiven
Funktionen des Arbeiterumfeldes, der monogamen Kleinfamilie.
Die Triebkraft der körperlichen Sexualität bringt den
Menschen aufgrund der vorhandenen Moralauffassung, sich in eine
solche Umklammerung zu begeben. Damit ihm die Gefangennahme nicht
klar wird, gibt es die dieses verschleiernde Sentimentalität.
Deshalb muss der Zugang zu freier Sexualität erschwert werden
und deshalb ist, nebenbei bemerkt, beispielsweise die sogenannte
Homo-Ehe kein emanzipatorischer, sondern ein integrativer Vorgang.
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- Die Homo-Ehe bekommt, wie wir wissen, jedoch
nicht alle Rechte der heterosexuellen Zwangsform menschlichen
Zusammenlebens, als Bestrafung dafür, dass meistens keine
Kinder versorgt werden, dass also die Reproduktion der Arbeitskraft
unvollständig bliebt, im herrschenden Sinne. Sexualität
hat jeder Mensch im Überfluss, sie bräuchte niemanden
zur Not werden. Sie wird aber künstlich zur Not gemacht,
weil auch diese kreative Kraft des Menschen so wirtschaftlich
genutzt werden kann.
Campe, der als Anhänger der französischen Revolution
bekannt war, ist der Vater der Industrieschule, die der Vorgänger
der allgemeinen Volksschule ist. Bezüglich der Ausbildung
in der Industrieschule stellte er Fragen ,wie: "Wie
kann man es erhalten, dass Kinder gehorsam und Männer dereinst
nachgebend werden?", oder: "Wie kann
man sie zur Festigkeit des Willens ohne Eigensinn bilden?"
Das ist also die Arbeitsmoral, verknüpft mit der Ehemoral,
die als einzige gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit
sexueller Lust übrig zu bleiben hatte.
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- 2.1. Schule
Dass es eine allgemeine Schulbildung geben sollte, ist auf Pädagogen
wie Cam-pe zurückzuführen. Sie waren der Aufklärung
und ihrer Obrigkeit verpflichtet und halfen, die Gesellschaft
im Sinne der Marktwirtschaft umzugestalten. Und ein großes
Ziel dieser Umgestaltung war, in der Gesellschaft die Ideologie
"Industriösität" zu erzeugen, die man vielleicht
heutzutage mit "Arbeitsamkeit" übersetzen könnte.

Es war das Problem zu lösen, dass es zwar viele arbeitslose
Menschen gab, die durch die Umstrukturierungen in der Landwirtschaft
"frei" wurden, also keine Leibeigenen mehr waren, die
es aber nicht einsahen, für einen Hungerlohn, der nicht
einmal die Lebensmittelkosten deckte, 12 oder 14 Stunden täglich
zu arbeiten. Die Fabriken hatten einen großen Arbeitskräftemangel.
Also schloss man Zuchthäuser für die "Arbeitsscheuen"
an die Fabriken an. Ins Zuchthaus waren sie gekommen, weil es
neue Gesetze gab, die für alle Menschen gleich galten. Nur
trafen sie die Menschen unterschiedlich. So war oft Betteln verboten,
oder es war bei Strafe verboten, unter einer Brücke zu Schlafen.
das durfte weder der Adlige noch der Bettler oder Obdachlose.
Es waren dies demokratische Gesetze, da sie für alle gleich
galten. Diese Form der Arbeitskräftebeschaffung stellte
sich jedoch auf Dauer als nicht erfolgreich heraus. Subtile Formen
des passiven Widerstandes der im Zuchthaus schuftenden "Arbeitsscheuen"
führten dazu, dass die Arbeitserträge trotz Prügelstrafe
nicht ausreichend erschienen, auch die Qualität der Arbeit
war mangelhaft. Also nahm man den Arbeitsscheuen die Kinder weg
und steckte sie in die Industrieschulen, die als Vorläufer
der allge-meinen Volksschule gelten.

Die Kinder saßen bei einfachen Handarbeiten in den harten
Bänken der Industrieschulen, die den Fabriken angeschlossen
waren. Auf einem Katheder thronte ein Prediger, Pfarrer oder
ein ausgedienter Militär, der mit ihnen die 10 Gebote übte,
den Rohrstock schwang aber ihnen auch Märchen und Erzählungen
vorlas, bei denen die guten Menschen eben arbeitsam waren und
dadurch alle Probleme lösten, weil sie ehrlich, fleißig,
strebsam sowie dadurch angesehen waren. Alle menschliche Befriedigung,
jegliche Tugend war nur durch Arbeit zu erreichen. Selbstbefriedigung
hingegen war etwas sehr schlimmes, wovon man krank wurde. Der
deftige Wortschatz über körperliche Belange durfte
nicht mehr benutzt werden, da dies die Gossensprache sei. So
wurde die Arbeiterklasse für sexuelle Dinge sprachlos. Ärzte,
Juristen und Theologen benutzten die lateinische Sprache dafür.
Während meines Lehrerstudiums war ich in Frankfurt in einem
Seminar, in dem wir angehenden DeutschlehrerInnen damals (1973)
Schullesebücher nach normativen Tendenzen untersuchten.
Wir stellten in den Büchern für die Haupt-schule fest,
dass tatsächlich immer noch eine Arbeitsmoral wie bei Campe
in den Texten gelehrt wurde. Auch die Sexualität wurde,
wie bei Campe auch, nur in einer Ehe geduldet. Jede Abweichung
von den rigiden Normen der Adenauer-Zeit wurden hier einerseits
mit schuldgefühlerzeugenden sentimentalen Lesebuchgeschichten
bestraft. Andererseits fanden wir religiös-sentimentale
Ehe- und Treuegeschichten als gesellschaftspolitisches Leitbild,
denn die traditionelle Ehe mit der entsprechenden "Treue"-
und dem absichernden Eifersuchtsmodell ist ja die andere Seite
der Arbeitsmoral. Da hat auch im Märzen der Bauer noch immer
die Rösslein angespannt, als befänden wir uns noch
immer in einer von Adel und Klerus beherrschten Agrargesellschaft
und die Arbeiter wären Leibeigene oder aus der Leibeigenschaft
entlassene Lohnarbeiter. Dies Arbeits- und die Sexualmoral fiel
zum Teil sogar noch hinter Campes "Aufklärung"
zurück, die wir dort vorfanden.

In den Schullesebüchern, die auf die sogenannte mittlere
Reife vorbereiteten, war Campe durch alle Zeilen zu spüren.
Die Arbeitsdisziplin war industrieller, die naturwissenschaftlichen
Aussagen waren aufgeklärter, während sich die Sexualmoral
sich an einer Moral orientierte, die alle menschlichen Bedürfnisse
sich in der Arbeit erfüllen lässt und die Sexualität
eben lediglich als Belohnung für Arbeit in der ehelichen
Zeugung ihre wesentliche Funktion hat, was Selbst-befriedigung
und besonders Homosexualität absolut ausschließt.
In den Gymnasial-Lesebücher fanden wir Abweichungen vor.
Da war die Sexualität nicht direkt an die Ehe gebunden,
sondern an eine Leib-Seele-Einheit, also an eine auf Sentimentalität
begründete Dauerbeziehung. Selbstbefriedigung wurde sogar
ohne Schuldgefühle geduldet, weil dies die außerehelichen
und spontanen Sexkontakte reduzieren würde. Sogar Spottgeschichten
über Moral-apostel waren zu finden, während man ja
selbst nur raffinierter argumentierte a-ber eben doch auch moralisch
war. Homosexuelle waren hier kranke Menschen, die man nicht diskriminieren
sollte, aber ihre Nähe auch nicht aufsuchen sollte. Was
die Darstellung der Arbeitswelt betraf, so war man auf der Höhe
der Zeit. Schließlich wurden hier ja lohnabhängige
Führungskräfte ausgebildet, die für Reformen aufgeschlossen
sein sollen. "Ohne die Arbeitnehmer als billige und willige
Mitarbeiter wäre es den Unternehmern nicht möglich
gewesen, diese Aufbauleistungen zu erbringen", konnte man
da zum Beispiel lesen.

Heute ist die allgemeine Bildung für alle zwar in der Theorie
ein Schulziel aber kaum mehr in der machbaren Schulpraxis, denn
die Lehrkräfte haben es mit anderen Problemen zu tun. Ein
relativ großer Teil ihrer Schüler verstehen nicht
einmal die Sprache des Lehrers. Hinzu kommt, dass die allgemeinbildenden
Schulen zunehmend finanziell vernachlässigt werden, während
es staatlich un-terstütze private Eliteschulen gibt, die
sich in ihren gesellschaftspolitischen Normgebungen der marktwirtschaftlichen
Durchdringung aller gesellschaftli-chen Bereiche verpflichten
und bezüglich der gesellschaftspolitischen Wertebildung
des Humanismus der öffentlichen wissenschaftlichen Kontrolle
entziehen. Schließlich gibt es noch eine weitere Veränderung
im sogenannten Klientel.
Auch heute ist ein sozialer Klassen-Unterschied zu spüren.
Zukünftige Arbeit-nehmerInnen und zukünftige arbeitslose
SozialhilfeempfängerInnen einerseits, und zukünftige
Führungskräfte andererseits, zeigen eher folgende Verhaltensweisen:
1. Gut gestylte IdiotInnen, die sich deshalb großartig
fühlen, weil sie durch Un-verschämtheit, gepaart mit
dreister Niveaulosigkeit ältere Menschen verblüffen,
legen keinen Wert mehr auf eine allgemeine Bildung, die ihnen
in der sich ab-zeichnenden neoliberalen Gesellschaft ohnehin
keine wirtschaftlichen Chancen eröffnet. Diese Inhalte sind
ihnen schlicht zu langweilig. Es gehr nicht um Klugheit, sondern
um Schläue. Ihr Selbstbewusstsein ist kein Produkt der Schu-le,
sondern ein Produkt der Straße, der Medien und anderer
wertebildender Strukturen und Zusammenhänge. Es geht ihnen
nicht um irgendeine Form von Zivilisation, sondern um ihre Durchsetzungsfähigkeit
der eigenen Bedürfnisse. Schlechte Noten sind nicht das
Resultat mangelnden Eifers, sondern weil der Lehrer was gegen
sie habe. Verzweifelte LehrerInnen versuchen zum Beispiel über
den prinzipiellen Vorteil der umlagenfinanzierten Sozialversicherungen
im Gegensatz zu den kapitalgedeckten Privatversicherungen aufzuklären
und scheitern sowohl an dem nicht vorhandenen Interesse der SchülerInnen
und auch an dem nicht vorhandenen Vorwissen wie letztlich an
der Politik der Regierung und der Opposition in Berlin. Was bleibt
denn dann noch trotz besten Absichten im Sinne einer aufgeklärteren
Arbeitsmoral? Diese oben beschriebene Haltung ist nicht bei allen
Jugendlichen und Kindern vorzufinden, aber es ist in der Hauptschule
ein durchgängiger Trend.

2. Bei den SchülerInnen höherer sozialer Schichten
ist die Dreistigkeit gegenüber anderen Menschen mit Klassenarroganz
gepaart. Es ist gleichzeitig eine schon sehr früh karriereorientierte
Haltung vorzufinden, was wohl in der Familie und der altersbezogenen
Peergroup seine Entsprechung findet. Flankiert wird das ganze
durch eine menschenverachtende entweder religiös oder national
mo-tivierten Ideologie. Sie finden sich in der FDP oder CDU/CSU-Jugend
wieder. Und verwirrte AnhängerInnen der Grünen oder
der SPD unterscheiden sich mit ihren Auffassungen nur marginal
von ihnen. Es ist für sie selbstverständlich, dass
ihnen alle Führungspositionen der Gesellschaft zustehen,
und wenn andere eine haben, dann sind diese dort Versager. Hier
ist der Neoliberalismus voll-kommen ideologisch verankert. Wenn
sie sich anderen Menschen gegenüber an-ständig verhalten,
dann deshalb, weil sie denken, dass es für sie einen Karrieresinn
macht.
Das gesamte Schulwesen hat erkennbar als einzigen übrig
gebliebenes Ziel, die Kinder und Jugendlichen auf ihre spätere
Berufstätigkeit vorzubreiten. Eine allgemeine Bildung ist
angesichts knapper Mittel und der Struktur des Klientels sowie
der Struktur der Schulen kein realistisches Bildungsziel mehr.
Was in der Schule auf jeden Fall zu lernen ist, sind solche allgemeinbildende
Kenntnisse und Fertigkeiten, die als Grundlage der beruflichen
Ausbildung anzusehen sind. Eine über diesen Bereich hinausgehende
kulturelle Bildung findet weder in der Haupt- noch in der Realschule
nennenswert statt. Lediglich im Gymnasium gibt es ein schmales
Band an kulturellen Grundlagen, was ja, genau genommen, für
den bildungsbürgerlichen Mittelstand auch zur beruflichen
Grundlage gehört. Was aber heutzutage im Abitur von den
Kindern und Jugendlichen verlangt wird, ist vom Niveau her unter
dem, was noch vor einigen Jahren von ihnen verlangt wurde.

Vor einigen Jahren noch begann nach dem Abitur eine weitere anstrengende
Zeit, die Zeit des Studiums, das in den akademischen Beruf zu
münden hatte. Heutzutage schließt sich teilweise auch
nur noch eine normale Lehre an das A-bitur an, mit der Option
auf ein Ingenieursstudium. Das kulturell abgespeckte Abitur wird
aber von den Abiturienten zunehmend so gefeiert, als ob es ein
Uni-versitätsabschluss wäre.
In den Medien gibt es Kampagnen gegen Studenten, die angeblich
zu lange stu-dieren. Kann es gut sein, wenn von allen kulturellen
Leistungen einer Gesellschaft lediglich das schmale Wissen übrigbleibt,
das für den Berufsalltag eines bestimmten Berufes nötig
ist? Immerhin ist damit zu rechnen, dass immer weni-ger der für
die Berufe ausgebildeten Kinder und Jugendlichen in der gewerbli-che
Arbeitswelt überhaupt noch benötigt werden. Hat eine
Gesellschaft nicht auch noch die ideelle Aufgabe, zur Verbesserung
der Kultur und der Zivilisation beizutragen? Dies würde
aber dem Zynismus der neoliberalen Gesellschaft nicht entsprechen.
Offensichtlich sind die Schule und die allgemeine Bildung nicht
mehr wichtig für die zukünftige Gesellschaft, in der
jeder für sich sorgen muss, denn eine rea-listische Aussicht
auf lebenssichernde Erwerbsarbeit wie die soziale Verant-wortung
der Gemeinschaft gibt es nicht mehr.
Die allgemeinbildende Schule ist offensichtlich als treibende
Kraft für die sich abzeichnende Gesellschaft unwichtiger
geworden. Sie kleckert aus wie auch die Sozialsysteme auskleckern.
Aber auf die Manipulation der Bevölkerung kann die wirtschaftliche
Obrigkeit nicht verzichten. Wer übernimmt denn nun die Aufgabe,
die von der wissenschaftlich überprüfbaren Schule nicht
mehr geleistet werden kann? Ich behaupte, es sind die Medien,
die sich ja dem Kommerz mehr verpflichtet fühlen als irgendwelchen
überprüfbaren bildungspolitischen oder gesellschaftspolitischen
Zielen.
- 2.2. Medien
Dort, wo die Schule nicht mehr in der Lage ist, an der allgemeinen
Bildung ausgerichtete gesellschaftspolitische Ziele zu verinnerlichen,
gelingt es den Medien, eine entsprechende gesellschaftlich wünschenswerte
verschärfte Arbeits- und Sexualmoral besonders den Jugendlichen
zu vermitteln. Die Medien, besonders die privaten Medien, nutzen
dabei Erkenntnisse, die aus der Pädagogik und Didaktik stammen.
Besonders aber aus der Werbepsychologie stammen die Tricks, mit
denen die nachwachsenden Generationen die entsprechende gesellschaftspolitische
Haltung vermittelt bekommen. Um nicht missverstanden zu werden,
auch hier geht es nicht um eine allgemeine Bildung, die ja auch
emanzipatorische Prozesse ermöglichen könnte.
Ehe und Familie, die Zweierbeziehung als solche sind deutlich
über das hinaus, was sie zusammenbrachte, die Verliebtheit,
zu wirtschaftlichen Einheiten ge-worden. Das ist deutlich im
Steuer-, Erb-, Scheidungs- und Sozialrecht zu er-kennen. Sie
werden auf jeden Fall als wirtschaftliche Einheiten durch die
Ge-setzgebung gestaltet und im öffentlichen Leben auf diese
Weise in Anspruch genommen. Und die sogenannte Homo-Ehe wird
ja auch von Volker Beck gegenüber konservativen Angriffen
auf ihn mit der Verantwortung füreinander be-gründet,
die die Sozialkassen des Staates entlasten würde.
Die Gesellschaft wird in den unteren Schichten der Bevölkerung
durch den Arbeitsethos und die Beziehungsideologie der Bevölkerung
in ihren inneren Werten, die marktwirtschaftlich sind, erhalten.
Wer vermittelt sie uns? Es geschieht durch Frauen, die uns als
Kinder erzogen haben, und an die wir deshalb emotio-nal bis weit
über die Kindheit hinaus gebunden sind, und um Frauen, an
denen Männer erotischen Gefallen finden, die auch an den
Männern nicht nur eroti-schen Gefallen finden.
Diese beiden Gruppen von Frauen sind, wie es in der Webepsychologie
heißt, in Sachen Arbeits- und Beziehungsmoral die Meinungsführerinnen
in der Gesellschaft. Viele Appelle der Medien richten sich gar
nicht an den einzelnen, sondern an MeinungsführerInnen.
Wir Schauen uns die Sendungen des öffentlichen und des privaten
Fernsehens an, die sich vorrangig an Frauen richten. Es sind
dies die Vormittagssendungen für die erziehenden und familienbildenden
Frauen und natürlich auch die arbeitslosen Bestandteile
der Bevölkerung, und es sind die Frühabendsendungen
für die jungen Mädchen, um die sich die jungen Männer
bewerben.
Sowohl die zahlreichen Arztserien wie die Familiengeschichten
zeigen, wenn es um Männer geht, arbeitsame Männer,
die dadurch verantwortlich ihre Familien ernähren und sich
aufopfernd um ihre Kinder kümmern, während sie jahrzehntelang
liebevoll ihre Frauen umschmeicheln. Die Frauen stärken
ihnen den Rücken und flankieren die Bemühungen ihrer
Männer. Und dann gibt es auch noch die Versager und Versagerinnen.
Das sind Frauen, die intrigant gegen ehrliche Familien vorgehen.
Wenn sie vorübergehend siegen, dann deshalb, weil sie erpressen,
lügen, Menschen durch falsche Versprechungen in Abhängigkeit
bringen usw.
-
- Und das sind Männer, die keine Beziehungen
pflegen oder Familien haben, aufbauen, schützen und versorgen,
sondern sie sind Versager, und, wenn sie gefährlich sind,
schlaue Versager. Sie schmarotzen an anderen Familien oder ihren
eigenen Frauen, betrügen und rauben und sie sind oft Alkoholiker.
Sie sind Frauen gegenüber gewalttätig und gehen fremd.
Diese Männer werden dann zu gefährlichen und gewalttätigen
Monstern. So also ist das gut-böse-Schema. Lesben und Schwule
sind dieser Norm völlig unterworfen, sie leben in treuen
Beziehungen, tragen Sorge füreinander und für die Nachbarn,
pflegen oft auch hin-gebungsvoll Kinder, die an Aids erkrankt
sind. So kann man nichts gegen sie haben, sie sind (weitgehend)
"anständig". Auch berufstätige Frauen finden
wir gelegentlich in den Soups und Ärzteserien, meistens
als Alleinerziehende, während heterosexuelle Männer,
die den Haushalt machen oder Kinder versorgen, eher zu den Witzfiguren
gehören. Immerhin tauchen zunehmend Frauen auf, die sich
zäh, ehrlich und arbeitsam an die Spitze von Unternehmen
bringen.
Soups wie "Reich und schön" haben hier hohe Einschaltquoten
und verkörpern das Leben wohlhabender Menschen, das ein
Mensch der Arbeiterklasse nie er-reichen wird und das sich im
übrigen auch so nicht abspielen würde. In Ge-richtssendungen
tauchen auch diese Typisierungen auf. Die Talk-Shows wie die
Soups am Vormittag richten sich also überwiegend an sogenannte
Hausfrauen, die gegenüber ihren Kindern, Enkel und der Nachbarn
ihre moralisierende Rolle in der Gesellschaft spielen.
Die Vorabend-Soups, (Verbotene Liebe, Marienhof, Gute Zeiten
schlechte Zei-ten) drehen sich um die Suche nach Beziehungen,
um das Pflegen von Bezie-hungen und hauptsächlich dort um
das sogenannte Fremdgehen (den Sexerleb-nissen mit anderen) als
die größte Gefahr einer Beziehung, weil es nicht gedul-det
wird und die Beziehungen nach dem bekannt Werden beendet werden.
Am schlimmsten aber sind die Nachmittags-Gerichtssendungen und
die Nach-mittag-Talk-Shows. Die richten sich im wesentlichen
an junge Leute. Da werden (meist recht dumme) Menschen (oft auch,
leicht erkennbar, mit schlechten SchauspielerInnen inszeniert)
einer Meute anderer Menschen ausgeliefert, die dadurch überzeugen,
dass sie als Meute klatschen, schreien, beschimpfen usw. Diese
klakierende Meute ist offensichtlich eine Art Volksgerichtshof.
Schlimmes Verhalten ist dort das Beziehen von Sozialhilfe ohne
Schuldgefühle und das sogenannte Fremdgehen. Fremdgehen
ist immer verwerflich, egal ob es sich um einen Hetenmann oder
einen Schwulen handelt, eine Hetenfrau oder ei-ne Lesbe. Und
wer leben will, ohne einer Lohnarbeit nachzugehen, der ist mo-ralisch
unten durch, verwerflich, und für den soll es weder ein
positives Image geben noch einen Spielraum, sich zu entfalten.
Schließlich, so wird das darge-stellt, lebt er schmarotzend
von der Arbeit der Arbeitenden. Das ist die in den Medien vermittelte
Moral. Wie kann der einzelne da an eine bessere Zukunft glauben,
wie kommt er da raus? Nun, die gleichen Medien helfen da auch,
denn Deutschland sucht ja ständig den Superstar, entweder
auf der Alm, in einem Container, im Dschungelcamp, im Tonstudio
oder irgendwo anders. Das ist einfach ekelhaft.
Als gutes moralisches Verhalten gilt zum Beispiel auch der Übergriff
aus Eifersucht, das Einmischen in die Verhältnisse anderer,
weil diese sich nicht an die Norm halten. Damit keine Missverständnisse
auftauchen, sind auch gelegentlich Lesben- oder Schwulenpaare
auf dem heißen Sitz, um ihr Verhalten von diesem Publikum
beurteilen zu lassen. Sie treten als solche Beziehungspaare auf,
als seine sie Heten. Hier merkt man ganz besonders, dass viele
Szenen inszenierte Darstellungen sind. Meistens werden aber Hetenpaare
inszeniert.
Bei Arabella tauchte zum Beispiel eine Frau auf, die bei ihrem
Freund heimlich in der Wohnung rumschnüffelte, Briefe früherer
Lebenspartnerinnen vernichte-te, das Bett, in dem er mit den
früheren Partnerinnen verkehrte, zersägte, den Mietvertrag
für seine Wohnung, in der er früher andere Frauen empfing,
mit ge-fälschte Unterschrift aufkündigte, denn er sollte
mit ihr zusammenziehen usw. Der in dieser Weise behandelte junge
Mann ging auf das Diktat seiner Angebe-teten unter dem Applaus
des Publikums ein. Das ist also die Normalität, an die sich
Beziehungen zu gewöhnen zu haben: diese Beziehung ist ein
Gefängnis, und die Gefängniswächter sind die BeziehungspartnerInnen
selbst, die Distanzlosigkeit für eine Tugend halten. Diese
Form der Beziehung ist die Ergänzung der Arbeitswelt, ist
offensichtlich nötig, um die Kraft für Lohnarbeit zu
erneu-ern, und sie ist genau so unerfreulich wie die Arbeitswelt
mit ihren Abhängig-keitsverhältnissen.
Da geben wir viel Geld aus, um uns einen Fernseher zu kaufen,
und wir geben das Geld nur deshalb aus, um uns freiwillig mit
der vorherrschenden Ideologie vollmüllen zu lassen. Und
da sprechen wir mit anderen Leuten, und was be-kommen wir zu
hören? Genau das, was wir im Fernsehen nicht mehr sehen
wollen.
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- 2.3. Wirtschaft
Zu der in der Gesellschaft verbreiteten Ideologie gehört,
dass die Wirtschaft da-zu da ist, für unser aller Wohlergehen
zu sorgen, und dass wir deshalb die Inter-essenswahrnehmung der
Wirtschaft für Naturgesetze zu halten haben. Was "die
Wirtschaft" fordert, ist die Verpflichtung, noch mehr Werte
in die Taschen derer umzuleiten, denen schon alles gehört.
Immer unverblümter wird offenbar, dass es sich tatsächlich
um Ausbeutung handelt.
Die bezahlte Pinkelpause bei Daimler in Sindelfingen soll wegfallen,
oder alle werden arbeitslos, und über 50 Millionen Euro
verteilen die Vorstände unter sich. Diese geraten aber immer
mehr in die Diskussion, weil die Aktionäre, die eigentlichen
BesitzerInnen der Wirtschaft, größere Teile vom Kuchen
abhaben wollen. Die die Reichtümer erarbeiten, sollen möglichst
wenig kosten, also möglichst wenig erhalten. Und als die
Pinkelpause der Arbeiter erhalten zu wer-den drohte, sanken sofort
die Aktienkurse. Vor allen Augen findet eine schamlo-se Ausbeutung
statt, und weder die Regierung noch die Opposition hat etwas
dagegen, im Gegenteil. Es geht deutlich darum, zu Lasten der
ArbeitnehmerIn-nen genau diese Form der Bereicherung zu stärken.
Und da sich dieses System weltweit verbreitet hat, ist eben "die
Wirtschaft" vor allen Augen der weltweite Diktator, sind
also die Verhältnisse, die die Werte in die Taschen der
großen Gewinnler fließen lassen, zu den "natürlichen"
Verhältnisse auf der Welt geworden.
Reichtum vermehrt sich nicht von alleine, sondern dazu müssen
andere Men-schen arbeiten. Und wir sind die anderen Menschen,
die dafür zu arbeiten haben, ob wir kleine selbständige
Gewerbetreibende sind oder Arbeitnehmer. Es geht um ein Verhältnis,
bei dem die einen dienen und die anderen einsacken. Und zwischen
der kleinen Gruppe, die einsackt, und der anderen Menschengruppe,
die dient, gibt es noch solche, die die Kontroll- und Vorgesetztenarbeit
im Auf-trag der da oben machen, die sogenannten Besserverdienenden:
Spitzenpolitike-rInnen der unterschiedlichen Parteien und ganz
besonders WirtschftsmanagerIn-nen der Banken und der Industrien,
die auch wie Banken betrieben werden. Viele SpitzenpolitikerInnen
und WirtschaftsmanagerInnen wechseln zwischen diesen beiden Tätigkeitsbereichen
hin und her, und das ist möglich, weil es in beiden Bereichen
um die gleiche Aufgabe geht. Auf diese Funktionäre in Wirt-schaft
und Politik wird der momentan auch der Zorn der sogenannten kleinen
Leute gelenkt. Diese Gruppe bekommt nämlich für ihre
Dienste im Auftrag der Einsackenden etwas mehr vom Kuchen. Wenn
wir im allgemeinen an Leute denken, denen es gut geht, denken
wir zumeist an solche leitenden Leute, denn die sind von den
Lohnarbeitern im Arbeitsprozess und den Menschen wie Du und Ich
weiter oben noch sichtbar.
Der/die normale ArbeitnehmerIn oder der/die kleine selbständige
Gewerbetrei-bende ist in Wirklichkeit nicht in der Lage, das
zu verdienen, was er oder sie zum Leben braucht, dafür ist
gesorgt worden. Wir sind nämlich abhängig von den Sozialsystemen,
wenn wir erkranken, arbeitslos oder zu Rentnern werden, und diese
Systeme werden immer weiter so umgeformt, dass wir noch mehr
in die Abhängigkeit solcher Einrichtungen geraten und dann
das System als ganzes verteidigen. Denken wir zum Beispiel nur
an die Kopfprämie, die von der Union für alle Krankenversicherten
vorgesehen ist, egal wie viel sie verdienen. Für sol-che,
die diese Höhe nicht aufbringen können, soll es "Beihilfen"
geben, was da-zu führt, dass auch sie irgendwelchen Behörden
ihre finanziellen Verhältnisse öffentlich machen müssen,
einschließlich der Sparbücher ihrer nahen Verwand-ten.
So werden wir zu BittstellerInnen gemacht und dafür noch
Gedemütigt, ob-wohl wie zu denen gehören, die ihr Leben
lang regelmäßig arbeiten oder gear-beitet haben.
-
- 3. Nation, Nationalismus und Marktwirtschaft
Ein gutes Mittel, die Menschen in die gewünschte Arbeitnehmerideologie
zu bringen, ist die Identität mit dem vorgefundenen Staat
und mit seiner Ordnung. Die Ideologie dieser marktorientierten
Wirtschaftsordnung ist die der individu-ellen Freiheit. Die hat
natürlich auch Grenzen, doch ist das erträgliche Leben
für Lesben und Schwule eine Errungenschaft der bürgerlichen
individuellen Frei-heit. Man hat sie, begrenzt, wenn man brav
arbeitet und sich an die Beziehungs-ordnung hält und die
individuelle Freiheit deshalb nicht in Anspruch nimmt.
Als die Gay-Manager, die schwulen Wirtschaftführer, in die
Öffentlichkeit tra-ten, erklärten sie unter steigender
Aufmerksamkeit der Medien, dass homosexu-elle Menschen auch die
entsprechende Erwerbarbeitermoral haben, dass sie auch in einer
diese absichernden monogamen Beziehung leben wollten, wenn man
sie nur ließe, und dass deshalb kein Grund bestehe, diese
AbweicherInnen von der gesellschaftlichen Norm in irgendeiner
Form auszugrenzen oder zu diskriminie-ren. Durch den Schulterschluss
des grün-dominierten LSVD mit den Gay-Managern wurde so
der Weg frei, dass sich nun auch Schwule und "weniger häufig"
Lesben in der CDU und der CSU öffentlich zu Wort melden.
Individualismus und bürgerliche Freiheit sind das eine Markenzeichen
des bür-gerlichen kapitalistischen Staates. Die bürgerliche
Freiheit ist aber aus all den genannten Gründen im wesentlichen
die Freiheit, sich auf arbeitsamer Leute Kosten zu bereichern
und sich auf Lasten anderer Menschen ein gutes Leben zu machen,
sofern man nicht zu den ArbeitnehmerInnen gehört. Die Möglichkeit,
diese Freiheit für sich zu nutzen hat der, der auf der anderen
Seite der Wirtschaftsordnung steht, der sich in den oberen Rängen
der Wirtshaftshierarchie aufhält. Wenn aber die arbeitenden
Menschen immer mehr merken, dass sie all das bezahlen und dass
ihnen selbst immer weniger übrigbleibt, könnte es sein,
dass sie das nicht mehr erdulden können.. Aber auch das
Gegenteil dieser Ideo-logie der Freiheit ist eine Erfindung der
Marktwirtschaft.
Über den Individualismus hinaus ist auch der Nationalismus
eine Erfindung des freien Unternehmertums. Im Nationalismus ist
die Volksgemeinschaft integriert. An Stelle des Klassenkampfes,
in dem die Arbeiterklasse gegen die sie ausbeutende Großunternehmerklasse
kämpft, teilweise unterstützt von den sogenannten Mittelschichten,
je nach dem, wird ideologisch der Rassenkampf oder der Kampf
der Kulturen oder Religionen gestellt, in dem der deutsche Arbeiter
zusammen mit den deutschen Unternehmer gegen Untermenschen von
den Fremd-völkern kämpft, zugunsten des Wohlstandes
der deutschen Volksgemeinschaft. Dazu ist eine aufopferungsbereite
Bevölkerung nötig. Diese Ideologie eignet sich auch
hervorragend zum Verdienen und zur Rechtfertigung von Kriegen.
Sie führt zu Völkermord; Vertreibung und den Gewinnen
daraus.
Die Nationalismus-Ideologie ist in der Lage, die Auseinandersetzungen
um das Dienen und Verdienen in der Gesellschaft auf ein anderes
Gleis zu führen. Es ist nicht mehr die Organisationsform
der Arbeit, die geändert werden muss, son-dern es sind Gruppen
von Menschen, die als Schuldige für erlittene Einschränkungen
und Schicksalsschläge in den Medien angeprangert werden,
die deshalb vertrieben, verfolgt oder gar ausgelöscht werden
sollen. Als Teil einer solchen Gruppe ist man dann ohne Tatnachweis
schuldig, dass man so ist wie man ist, und somit alle Verdächtigungen
bestätigt. Dies kennen Lesben und Schwule in vielen Ländern
und wir Lesben und Schwule in Deutschland aus der Geschichte,
dies kennen auch Angehörige anderer Minderheiten.
Nationalismus ist eine perfide Ideologie, die ganze Gruppen von
Menschen im Zuge von sogenannten Neid-Diskussionen zu Unmenschen
macht und ein streng getrenntes Oben und Unten rechtfertigt.
Die persönlichen Freiheiten können dann nicht mehr
das Markenzeichen der Gesellschaft sein, deren Aufgabe es ist,
seine wirtschaftliche Oberschicht zu bereichern. "Es muss
sich alles ändern", heißt es dann bezüglich
der individuellen Freiheiten, "damit alles so bleibt, wie
es ist", womit das gesellschaftlich Oben und Unten gemeint
ist.
-
- 4. Internationalismus
Als man früher die Arbeiterklasse und den unteren Mittelstand
mithilfe des Na-tionalismus disziplinierte, gab es auch schon
die multinationalen Konzerne, die aber in Konkurrenz mit anderen
Konzernen sich ihre Märkte sicherten sowie sich ihrer arbeitsfähigen
Bevölkerung sichern wollte. Nationalismus war hier ei-ne
wirksame Ideologie zum Durchsetzen wirtschaftlicher Ziele. "Der
Deutsche lebt um zu arbeiten und der Franzose arbeitet um zu
leben," kennt Ihr diesen Spruch noch? Die Führer der
Arbeiterklasse setzten gegen den Nationalismus der Konzernherren
den proletarischen Internationalismus. Die internationale Ar-beiterklasse
wird in vielen Ländern von der marktwirtschaftlichen Ordnung
ausgebeutet, mit dem Nationalismus werden die Arbeiter gegeneinander
aufgehetzt, durch internationale Solidarität kann die Revolution
gegen das Kapital gelingen, so wurde argumentiert.
Im Zuge der Globalisierung gibt es gar keine nationalen Konzerne
und tatsäch-lich auch keine nationale Wirtschaft mehr. Staaten
sind zu handlichen Verwal-tungseinheiten geworden, in denen immer
das Passende geschieht, damit die globale Wirtschaft weiterhin
ihre Aufgabe erfüllt, die Werteströme nach oben fließen
zu lassen. Und das ist noch nicht im Bewusstsein großer
Teile der Be-völkerung angekommen, die man mit Nationalismus
diszipliniert und auch hin-ters Licht führt. Internationalismus
ist zur wirtschaftlichen Grundlage der großen Konzerne
geworden: Europa statt Deutschland. Globalisierung statt "Wir
und die anderen".
Internationale Konzerne kontrollieren die Rohstoffe, die Versorgung
der Bevöl-kerung mit den Mitteln des alltäglichen Bedarfes.
Sie kontrollieren die Regie-rungen und die staatlichen Armeen,
oder sie unterhalten selber Armeen, um die Staaten, die anders
zu ticken versuchen, zu destabilisieren.
Arbeitsfähige Bevölkerungen und für die Wirtschaft
zu allem bereite Menschen gibt es in allen Ländern. Internationale
Konzerne übernehmen schrittweise das, was bisher der Staat,
der öffentliche Dienst oder die Sozialversicherungen regelten.
Internationale Fachkräfte werden in den unterschiedlichen
Staaten ange-worben und als Arbeitskräfte eingestellt.
Nationalismus dient nur noch der ideologischen Verwirrung der
Menschen im Inland. Es wird so getan, als habe die Regierung
des Staates noch den Spiel-raum, für die Menschen des eigenen
Volkes Verbesserungen zu erreichen. Über-all werden die
Menschen für eine Moral des Jeder-gegen-Jeden vorbereitet,
Jeder ist seines Glückes Schmied und gegen jede Form von
sozialer Verantwortung und von Mitmenschlichkeit usw. eingestellt.
Und die Familie wird zu einem Dienstleistungsunternehmen und
auch innerhalb der Familien geht es zunehmend darum, wer auch
dort wen ausbeutet. Durch Sentimentalität und die dazugehörige
Beziehungsmoral sollen jungen Menschen so früh wie möglich
in solche Familien gelotst werden, neuerdings auch in unse-rer
Szene, denn der Single hat keine Familienform, die an die Stelle
der öffentli-chen Sozialkassen eintritt. Menschen werden
auf eine Arbeitswelt vorbereitet, obwohl man aufgrund einer hohen
Produktivität vielleicht noch ¼ der arbeitsfä-higen
Menschen dazu noch benötigt, um die entsprechenden Gewinne
einzufahren.
Das Alte Rom war eine Sklavenhaltergesellschaft. Alles geschah
durch die schuftenden Sklaven. Im Alten Rom wurden Menschen vieler
Völker für die brutalen Spiele im Kolosseum abgerichtet,
auch moralisch abgerichtet. Einige wurden aufgrund ihrer Fähigkeiten
als brutale Kämpfer gebraucht, andere waren in ständiger
Wartestellung. So kommt mir die arbeitsfähige Bevölkerung
vor, die gar nicht benötigt wird und die man dann dafür
bestraft, dass sie ohne Arbeit ist. Die Gladiatoren, die im Sinne
der damaligen Kämpfe in der Arena nicht so leistungsfähig
waren, wurden nicht durch römische Sozialsysteme lange ernährt,
sondern sie wurden in der Arena einfach abgeschlachtet. Dies
ist derzeit in der Arbeitswelt noch nicht so direkt wieder Brauch.
Nun, man wird sich was einfallen lassen, man hat ja die Erfahrungen
alles bisheriger Systeme im Fundus.
-
- 5. Religion
Ein Religionsführer sagt über seine Macht in einem
Theaterstück: "Wenn es keinen Gott gäbe, müsste
man ihn erfinden." Er lobte damit die Moral, die zugunsten
der Vorteile wirtschaftlicher Nutznießer von den Sprechern
der Religion verkündet werden. Mich interessiert hier nicht
die Frage, ob es einen Gott gibt. Ich selbst halte diese Auffassung
aber nicht für glaubwürdig. Religionen aber gibt es,
und das sind selbstverständlich weltliche Einrichtungen,
die ganz be-stimmten Menschen nutzen. Und alle diese Einrichtungen
fordern ihre Schäfchen auf zu arbeiten, da dies Gottes Wille
sei. Flankiert wird das natürlich dann auch mit der entsprechenden
Sexualmoral, wie wir Lesben und Schwule ja wissen.
Mit Religion lässt sich die befreiende Aufklärung in
der Bevölkerung zurück-drängen. Der Papst hat
nun geäußert, dass die Gleichberechtigung der Frau
in der Gesellschaft, der Feminismus also, die biologischen Unterschiede
der Frau zum Mann negiere und dass die rechtliche Gleichstellung
homosexueller Menschen die Ehe und die Familie gefährde.
Eine muslimische Lehrerin an einer deutschen Schule in NRW sagte,
der Islam trage zur Verjüngung Europas bei, da die Familie
wieder eine größere Bedeutung bekomme. So bieten sich
die einzel-nen Religionen an, der Wirtschaft die ideologische
Basisarbeit zu machen. Wie ich schon ausgeführt habe, besteht
eine enge Verbindung zwischen der Form des Zusammenlebens und
der Form der Arbeit. Im Islam gilt die Erwerbsarbeit als Mühe,
Plage und Strafe Gottes. Im aufgeklärteren (also nicht fundamentalisti-schen)
Teil des Christentums ist Arbeit eine Form des Gottesdienstes.
Belohnt für die Moral und die aufopferungsvolle Arbeit wird
der Mensch nach seinem Ableben von Gott, was die Arbeitskosten
für die Wirtschaft niedrig hält.
-
- 6. Freiheit...
ist die Kneipe nebenan, heißt es in einem Lied von Georg
Kreisler, weil man nur besoffen Urlaub vom Gehorsam mache. Er
fragt: "Wie ist man frei, wenn man Gefangene um sich hat,
und alle angstbedrückt, gramgebückt, chefgeknickt,
geldverrückt...". Um frei zu sein, muss ich da einsam
sein, weil es gar keine Mitmenschen gibt, die auch frei sein
wollen? Wenn ich in menschlicher Gesellschaft frei sein möchte,
werde ich dann zum sogenannten Weltverbesserer, der den anderen
auf die Nerven geht? Kann man in unseren Gesellschaften leben,
ohne in irgendeiner Form von den Normen und Zwängen der
Lohnarbeit erreicht zu werden? Selbst wenn man das Geld dazu
hätte, müsste man sich an Öff-nungszeiten, den
Feierabend der Mitmenschen usw. halten. Und das meiste müsste
am Wochenende geschehen, wenn man nicht alleine sein will, denn
wer hat schon Zeit in der Woche? Diese Erfahrung machen alle
RentnerInnen.
Frei ist man doch, wenn man nicht gezwungen ist, gegen seine
Interessen zu handeln. Gezwungen wird man durch staatliche Gesetze,
durch gesellschaftli-chen Druck, durch wirtschaftliche Zwänge,
aber auch durch Krankheit und Schicksalsschläge und den
gesellschaftliche Möglichkeiten, ihnen zu begegnen. Die
Organisationsformen der Gesellschaft, die uns dazu bringen, immer
wieder in Abhängigkeit und Unfreiheit zu fallen, existieren
nicht zufällig, sie sind beab-sichtigt. Die staatlichen
Gesetze geben uns heutzutage einen größeren individu-ellen
Entfaltungsspielraum als je zuvor, doch sind wir trotzdem nicht
frei, weil die Bedingungen und Strukturen der Gesellschaft uns
überall dort einen Riegel vorschieben, wo wir wirklich frei
zu entscheiden drohen.
Der Rahmen, in dem wir wirtschaftlich einigermaßen zufriedenstellend
leben können, spannt uns in andere Netzwerke ein. Jedes
Ding fesselt dich wieder in einem Netzwerk. Man kauft heutzutage
nicht mehr etwas, ein für alle mal, son-dern man kauft sich
in ein Netzwerk und einen Prozess ein, für den man ständig
wieder Geld aufbringen muss. Ich meine nicht nur die Miete und
die Lebensmittel, die man ständig neu benötigt, und
nicht nur die vielen Versicherungen usw. Willst du Musik hören?
Dann kaufst du dir eine Anlage, die Strom ver-braucht ständig
der Ergänzung durch CDs bedarf. Willst du die Freiheit der
Mo-bilität mittels Auto kaufen, dann kaufst du dich in ein
System von Versicherungen, Tankstellen, Steuern, Werkstätten,
Parkberechtigungen und Verkehrsregeln ein, nicht zu vergessen
den ganzen Straßenbaus usw.
Damit die Menschen einer Gesellschaft frei entscheiden können,
benötigt man auch eine soziale Struktur, die ein Leben ohne
Angst vor einer sozialen Katast-rophe ermöglicht. Um frei
sein zu können, benötigt man nicht nur andere freie
und freiheitsliebende Mitmenschen, man benötigt auch, dass
man vor den Inte-ressen anderer Menschen keine Angst zu haben
braucht.
Dann lebt man vielleicht, von außen betrachtet, gar nicht
so viel anders als vor-her, oder doch, wenn man will, aber eben
vom eigenen Gefühl her ganz anders, nämlich ohne äußeren
Druck und deshalb mit weniger Angst und viel zufriede-ner. Wer
die Erwerbsarbeitsmoral nicht hat, arbeitet auch. Wer die entsprechende
Familienmoral nicht hat, verliebt sich auch. Das Leben in Freiheit
sieht im Detail von außen wahrscheinlich kaum anders aus.
-
- 7. Der Arbeitsbegriff, die Sexualmoral
und die Alternativen
In Deutschland mit seinen derzeit ca. 82 Millionen EinwohnerInnen
sind knapp 38 Millionen berufstätig. Der Anteil der Berufstätigen
an der Gesamtbevölke-rung wird eher abnehmen. Zu den 38
Millionen gehören auch die, deren Arbeit es ist, die erarbeiteten
Werte einzustreichen. Die anderen sind Hausfrauen, Kin-der und
RentnerInnen, Arbeits- und Obdachlose sowie Behinderte und Kranke.
Die 44 Millionen Nichterwerbstätigen aber arbeiten auch.
Es handelt sich um Arbeiten, die in den offiziellen Zahlen deshalb
nicht auftauchen, weil die wirt-schaftliche Obrigkeit davon keinen
direkten Nutzen hat. Indirekten Nutzen hat sie davon schon, denn
es hat sich gezeigt, dass wir Berufstätigen unser Einge-bundensein
in die Zwänge des Arbeitsprozesses nur deshalb derart absolut
ertra-gen können, weil einerseits kommerzielle Dienstleistungen,
die wir bezahlen, a-ber auch unbezahlte Dienstleistungen von
BeziehungspartnerInnen an uns dies ermöglichen, indem sie
uns den Rücken frei halten, uns mit tausend kleinen Hilfestellungen
umgeben. Das tun wir durchaus auch gegenseitig, ohne dies zu
be-merken, weil dies eben unser normales Leben ist.
Arbeit in seiner wirklichen Bedeutung ist eine menschliche Lebensäußerung.
Arbeit heißt, bewusst das Leben und die Umwelt zu gestalten.
Solche Arbeit be-friedigt, weil sie nicht entfremdet ist, das
heißt: ihr Resultat ist auch ihr Zweck.
Also, ehrlich gesagt, mich würde es nicht stören, wenn
es keine wirtschaftliche Obrigkeit geben würde, die die
Umwelt um sich so organisiert, dass große Teile des Erarbeiteten
in ihre Taschen fließen. Ohne deren Anteil, würde
es für uns alle sicherganz gut reichen.
Wie würde ein Arbeitsleben aussehen können, das nicht
entfremdet ist, das nicht für "die da oben" da
ist, sondern für uns? Bräuchten wir dafür auch
diese 1. Arbeitsmoral und diese 2. Sexualmoral? Ich beziehe mich
in meinen Antwortversuchen auf Marx, weil der die Arbeit als
das grundlegend Menschliche ansah und gleichzeitig die Freiheit
des Menschen vor Ausbeutung anstrebte. Wie soll denn das aussehen?
Geht das auch ohne Arbeits- und diese Familienmoral?
-
- Die Arbeitsmoral der Zukunft
"Schweißgebadet baut der
Mann das Haus, in dem er nicht wohnen wird. A-ber es schuftet
schweißgebadet auch der Mann, der sein eigenes Haus baut", schreibt Brecht. Also die Arbeit in der Ausbeutung
sieht genau so aus wie die Arbeit in Freiheit?
Marx meint zur Weiterentwicklung der Gesellschaft in Bezug auf
Arbeit: "Man hat eingewendet, mit der Aufhebung des
Privateigentums werde alle Tätigkeit aufhören und eine
allgemeine Faulheit einreißen. Hiernach müsste die
bür-gerliche Gesellschaft längst an Trägheit zugrunde
gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und
die in ihr erwerben, arbeiten nicht. Das ganze Bedenken läuft
auf die Tautologie hinaus, dass es keine Lohnarbeit mehr gibt,
sobald es kein Kapital mehr gibt." Das ist aus dem
"Manifest der kommu-nistischen Partei", das wie folg
endet: "An die Stelle der alten bürgerlichen
Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt
eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die
Bedingung für die freie Entwick-lung aller ist".
Klingt irgendwie gut, aber wie soll man sich das vorstellen?
Marx stellte in seinen Schriften dar, dass unter der Bedingung
der Marktwirt-schaft der Mensch nicht, wie behauptet wird, nach
seiner Leistung entlohnt wird. Je widerwärtiger und mühevoller
die Arbeit sei, desto schlechter werde sie auch bezahlt. Im Sozialismus
erst, der von ihm prognostizierten Wirtschaftsform, die den Kapitalismus
ablöse, könne man davon sprechen, dass jeder entsprechend
seiner Leistung erhalte. Im Kommunismus dann schließlich,
in der klassenlosen Gesellschaft also, sei die Arbeit das größte
Lebensbedürfnis des Menschen. Klingt interessant, aber ich
kann mir das nicht wirklich vorstellen.
Ein Leben, das die Arbeit der Menschen anerkennt, auch wenn sich
niemand dadurch bereichern kann, kann ich mir gar nicht so richtig
vorstellen. Die Moral der Erwerbsarbeit habe ich da zu stark
verinnerlicht. Wären die Kapitalisten ab-geschafft, würde
ich dann besser leben?. Ich würde es sicherlich dann kaum
be-merken, wenn an die Stelle der wirtschaftlich Mächtigen
einfach ihre nächsten Sachwalter treten würden: Manager,
Spitzenpolitiker und Funktionäre, um "das Vakuum"
zu füllen, oder gar Religionsführer und Mafiabosse.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Jeremy
Rifkin schrieb 1993 über das Ende der Industriearbeit aufgrund
einer neuen industriel-len Revolution, des Computers, das sich
in den Massenentlassungen bei immer größeren Renditen
abzeichnen würde. Er meint, dass der Staat als Organisations-form
seine Macht zunehmend an die multinationalen Konzerne verlieren
würde und keine Regierung es sich mehr leisten könnte,
staatliche Arbeits- oder Sozi-alprogramme aufzulegen. Der Staat
müsse sich überall aus seiner sozialen Ver-antwortung
zurückziehen. Auch im Dienstleistungsbereich würde
der Computer Arbeitsplätze vernichten, dieser Bereich könne
also nicht alle die Suchenden aufnehmen. Notgedrungen müssten
immer größere Gruppen von Menschen ver-suchen, da
sie im 1. Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen
könn-ten, andere Möglichkeiten des Lebens bzw. Überlebens
zu finden. Und sie könnten diese Möglichkeiten nur
dort finden, wo in der Gesellschaft ein Bereich sei, dessen Arbeit
von der Wirtschaft nicht anerkannt werden könnte, da seine
Gewinne nicht in Form von Renditen und Löhnen vorliegen
würden, im freiwil-ligen Bereich, im Non-Profit-Bereich.
Hier würden die Menschen andere als Marktbeziehungen miteinander
eingehen. In der Marktwirtschaft sei ein Mensch so viel wert,
wie er Kaufkraft habe. Hier seien andere Qualitäten wertbestimmend.
Mit dem Non-Profit-Bereich meint er die vielen Freiwilligenorganisationen
der Gesellschaft, die das Leben in der Gesellschaft überhaupt
erst ermöglichen, von der freiwilligen Feuerwehr über
Aids-Hilfen zur Tafel für notleidende Menschen, Musik- und
Theatervereinen, Gruppen mit kulturellen, sozialen, zwischenmenschlichen
und emanzipatori-schen Zielen. Die Kosten dafür müssten
von den Produktivitätsgewinnen abge-zweigt werden, die das
Computerzeitalter so reich bescheren würde. Ein zum Beispiel
staatlich garantiertes Grundgehalt für alle Menschen müsste
an solche freiwilligen Arbeiten gekoppelt werden, um den Übergang
der Gesellschaften in das postmarktwirtschaftliche Zeitalter
bewältigen zu können. Also, was ich jetzt als Hobby
mache, die Zeitschrift LUST und die Gruppenarbeit, dafür
sollte ich dann meinen Lebensunterhalt bekommen? Nun frage ich
mich, wenn der Staat durch die multinationalen Konzerne geschwächt
ist, wer soll die Produktivitäts-gewinne der Wirtschaft
den Milliardären mit ihren Privatarmeen wegnehmen und in
die Gesellschaft umleiten? Da stehen dann doch wohl neue Klassenkämpfe
an, wenn er recht hat.
-
- Die Sexualmoral der Zukunft
Die Sexualmoral, die derzeit die Aufgabe hat, die Arbeitsmoral
zu stabilisieren, würde sich dann sicherlich auch ändern.
Friedrich Engels meint 1884 dazu: "Was wir also heutzutage
vermuten können über die Ordnung der Geschlechterverhältnisse
nach der bevorstehenden Wegwerfung der kapitalisti-schen Produktion
ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf
das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich
entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird:
ein Geschlecht von Män-nern, die nie im Leben in den Fall
gekommen sind, für Geld und andere sozi-alen Machtmittel
die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie
in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen Rücksichten
als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben noch dem Geliebten
die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor ökonomischen Folgen.
Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren,
was man heute glaubt, dass sie tun sollen; sie werden sich ihre
eigene Praxis und ihre danach abge-messne öffentliche Meinung
über die Praxis jedes einzelnen selbst machen - Punktum."
(Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates; Berlin
1983, S.98) Und schließlich ist er noch der Auffassung,
dass sich die Geschlechterverhältnisse von der Gruppen-Ehe
bis hin zur Monogamie verfeinert hätten, und die Monogamie
böte die Chance, die Gleichheit der Geschlechter zu erreichen.
Dann zitiert er den Ethnologen Morgan: "... Sollte
in entfernter Zukunft die monogame Familie nicht imstande sein,
die Ansprüche der Gesell-schaft zu erfüllen, so ist
unmöglich vorherzusagen, von welcher Beschaffen-heit ihre
Nachfolgerin sein wird."
Hans-Georg Stühmke und Rudi Finkler kritisierten in ihrem
1981 bei Rowohlt erschienenen Taschenbuch "Rosa Winkel,
Rosa Listen" die Haltung von Marx und Engels gegenüber
der Homosexualität. Immerhin hatten sich die beiden Kritiker
der bürgerlichen Doppelmoral äußerst abfällig
über die Homosexualität und homosexuelle Menschen geäußert,
politische Gegner als Homosexuelle verdächtigt und sogar
vom neu gegründeten Kaiserreich erhofft, mit preußischer
Strenge gegen Homosexualität vorzugehen, wärend sie
ansonsten das Preußen-tum kritisierten.. Stühmke und
Finkler zitieren Marx und Engels: "Ist nur die auf
Liebe gegründete Ehe sittlich, so auch nur die, worin die
Liebe fortbe-steht. Die Dauer des Anfalls der individuellen Geschlechterliebe
ist aber nach dem Individuum sehr verschieden, namentlich bei
den Männern, und ein positives Aufhören der Zuneigung
oder ihre Verdrängung durch einen neue lei-denschaftlichen
Liebe macht die Scheidung für beide Teile wie für die
Gesellschaft zur Wohltat. Nur wird man den Leuten ersparen, durch
den nutzlosen Schmutz eines Scheidungsprozesses zu waten."
(MEW, Band 21, S. 83)
Dieses Zitat ist aber nur auf dem ersten Blick ein emanzipatives,
denn wieso soll beim Mann die Liebe schneller aufhören als
bei der Frau? In dem angegebenen Buch von Stühmke/Finkler
aber versteigen sie die Autoren bei ihrer berechtigten Marxkritik
in folgende Behauptung: "Die freie Liebe, wie sie
hier (bei Marx und Engels) als konkrete Utopie gesehen wurde,
war freilich bei den Homose-xuellen Praxis." (S.
51)
Hier ist aber nun alles falsch. Marx und Engels ging es nicht
um die "Freie Liebe", sondern um das
Recht, schnell einen neue monogame Beziehung eingehen zu können,
"namentlich für den Mann". Und bei
den Schwulen wird keine "Freie Liebe"
gelebt, sondern bestenfalls eine bindungslose Sexualität,
weil Bindungen auf Dauer zu verräterisch und zu unpraktisch
waren, wenn man heterosexuelle Scheinbindungen pflegte, und weil
Sex zwischen Männern keine Folgen hat, wie z. B. eine Schwangerschaft.
Aber neuerdings wird mit der Integration der Lesben und Schwulen
in die auf Dauer angelegte Zweierbeziehung eine Homo-Ehe auch
zur Norm. Und wo sie nicht Norm ist, kann beobachtet werden,
dass solche jungen Männer, die in der Marktwirtschaft als
sexuelle erotische Werbeträger fungieren, von allen ersehnt
werden und einen hohen Marktwert auf dem Liebesmarkt haben. Die
anderen, besonders die älteren von ihnen ver-spüren
aber überhaupt nichts von irgendeiner Form freien Liebe,
sondern sie vereinsamen, sexuell und oft auch menschlich.
Wir wissen heute natürlich, dass sich die Marktwirtschaft
noch viel tiefer in das Leben der Menschen hineingefressen hat.
Die 68er Jugendrevolte, die auch eine Sexrevolte war, die damit
auch die Arbeitsmoral erschütterte, hatte nicht die entfremdete
Arbeit abgeschafft, aber der Strafende und belohnende Unternehmer-patriarch
ist in einem versachlichten Unternehmen hinter den Manager getreten,
wurde unsichtbar. Sexualität ist nicht befreit aber zunehmend
selbst zur Ware, zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden. Und
dadurch ist ein Markt entstan-den, der sich allzu rigider Moralisierung
entzieht aber davon lebt, dass Men-schen sich real nicht ausreichend
befriedigen. Ziel stattlichen Eingriffs ist es nun deshalb, dafür
zu sorgen, dass auch hier nicht zu viel individuelle Freiheit
entsteht.
Wir würden wohl das ganze Netz an Strukturen, das der Ausbeutung
dient, nur loswerden können, wenn die Organisationsformen
der Arbeit völlig umgebaut würden und die Grundfesten
der Arbeitsmoral und der Beziehungsmoral erschüttert würden.
Die Welt der Erwerbsarbeit ist aber tatsächlich an ihre
Grenzen gekommen, sie ist auf dem Rückzug. Das Entwickeln
neuer Formen, hoffentlich erträglicherer Formen, wird für
die Gesellschaften eine der Hauptaufgaben der Zukunft sein, sofern
sich die Menschheit zukünftig halbwegs zivilisatorischer
Formen des Zusammenlebens bedient. (js)
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