- 79. LUST, Sommer 04
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- Die Zukunft der Arbeit und des Sozialstaates
Wie in jedem Jahr hat das Kollektiv, dass
das Open-Ohr-Festival plant, ein gutes politisches Thema in den
Mittelpunkt des Festival-Geschehens gestellt, ein Thema, das
ohnehin schon im Mittelpunkt des politischen Geschehens der Bundesrepublik
steht. Arbeit abschaffen! nannten die Initiatoren
des Festivals dieses aktuelle Thema. Herausgekommen ist in einer
ganzen Reihe von
Referaten, Diskussionen,
Workshops und Darbietungen, (neben den musikalischen Attraktionen,
Film- und Theatervorführungen, Lesungen usw.) ein eifriges
Debattieren und Nachdenken rund um die Fragen nach der Zukunft
der Arbeit und dem Sozialstaat.
-
- Wir (Renate und Joachim von der ROSA LÜSTE),
am Freitag und Montag durch Thomas verstärkt (leider fanden
sich nicht mehr HelferInnnen), hatten unseren Infostand zu beaufsichtigen
bzw. mit den Interessierten zu debattieren sowie das Spiel etwas
mitzulenken, das wir als Zugpferd für die Gespräche
an unserem Infostand mitgebracht haben.
Natur und Homosexualität
Ein pfiffiger junger Mann konfrontierte
uns zum Beispiel mit seiner eigenartigen Meinung, Sexualität
diene von der Natur aus dem Zeugen von Nachwuchs und in der
Natur sei daher keine Homosexualität zu finden. Eine
Gelegenheit zur Antwort hatten wir aber nicht, denn seine Freundin
stellte ihm das Ultimatum, entweder sofort mitzukommen, oder
sich eben ohne sie eine Zeitlang unseren Argumenten auszusetzen.
Klar ist, dass ihm die zweite Möglichkeit dann doch zu gefährlich
erschien. Er ging mit, nicht ohne zu versprechen, wiederzukommen.
Eben so klar ist, dass er nicht wieder kam, wir kennen solche
Vorgänge.
Was hätten wir ihm erwidern können? Zuerst einmal die
Behauptung, die Sexualität diene von der Natur her dem Zeugen
des Nachwuchses. Solche pseudoreligiösen Behauptungen gehen
davon aus, als ob in der Natur jemand entscheidet: So, jetzt
erfinde ich zum Zweck des Nachwuchses die Sexualität, und
deshalb haben die Wesen auch in der Sexualität nur das zu
machen, was Nachwuchs bringt. Darum aber kümmert sich die
Natur ja gar nicht, sondern hat gleichzeitig eine große
Menge von Möglichkeiten geschaffen, hier Lustgefühle
alleine, miteinander zu zweit, dritt oder wie auch immer zu genießen.
Kann ein Mensch einen anderen Menschen einfach so als biologisches
Wesen sehen? Der Mensch dient in der Natur sicherlich als Nahrung
für allerlei Raubtiere. Der Mensch ist ein nützliches
Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Bergmannstod die Profite
der Grubenherren zu erhöhen und durch den Soldatentod den
Kurs der Petroleumaktien (Als Öl-Aktien), schrieb
Kurt Tucholsky ca. 1920. Hier wird der Mensch nicht biologisch,
sondern (satirisch) wirtschaftlich gesehen. Auch in der Sexualität
sehen wir den Menschen nicht biologisch,
sondern eher gesellschaftlich, denn es ist ja schon recht lange
her, dass brünstige Menschen den entsprechenden Geruch verströmen,
der andere menschliche Wesen dann ebenfalls brünstig macht,
und schon rammeln sie miteinander rum und fertig. Und auch dabei
sind damals wohl Lustgefühle im Spiel gewesen.
Was soll also eine solche Frage? Soll ich vielleicht diesem höheren
Affen sagen, dass ich vollkommen unnatürlich sei, weil er
für meine Augen recht attraktiv aussieht? Würde er
sich ärgern, wenn ich ihm sagen würde, dass er für
mich vollkommen unattraktiv sei? Ich könnte ihm zum Beispiel
fragen, wie oft er schon Sexualität alleine oder mit anderen
erlebt hat und wie viele Nachkommen er dabei produziert hat,
was doch der biologische Zweck der Sexualität sei. Doch
er wollte so etwas wohl nicht hören, denn er kam ja erwartungsgemäß
nicht wieder. Ich hätte ihm von den verschiedenen Tiergattungen
erzählen können, die tatsächlich homosexuell verkehren,
besonders die mit uns am nahesten verwandten, die Vierhänder,
doch was könnte ich bei solch einem Zeitgenossen
damit
erreichen? Wahrscheinlich glaubt er das einfach nicht und dann
stehe ich schon wieder blöde da. Ich könnte ihm von
einer Wanzenart erzählen, bei der die erfolgreicheren (im
genetischen Sinne) Männchen mit ihrem Penis-Dorn die Haut
von Männchen durchbohren, ihr Sperma in die
Blutbahn von diesen Männchen ergießen, worauf diese
Männchen auf Weibchen ganz scharf werden und beim Anbohren
der Weibchen das Sperma des anderen Männchens an das Weibchen
weitergeben. Aber, so würde er da zurecht antworten, der
Mensch ist ja nun mal nicht mit diesen Wanzen verwandt. Und selbst
wenn, er ist offensichtlich anders. Muss ich denn auch mein Verhalten
von irgendwelchen Gepflogenheiten anderer Affenarten rechtfertigen
lassen?
In der Natur gibt es so ziemlich alles, was sich
denken lässt. Na und? Müssen wir das dann auch machen?
Dann hieße es wieder: wie die Tiere! Fest steht, dass zu
den natürlichen lustvollen menschlichen sexuellen Fähigkeiten
eben die Homosexualität gehört, dass es sie durch die
ganze bekannte Geschichte der Völker und Kulturen in viele
unterschiedliche Sozialformen eingebettet gab und gibt. Fest
steht auch, dass die Verhaltensweisen der Menschen in sexuellen
Fragen eben auch von der vorherrschenden Kultur und der Gesellschaft
beeinflusst werden und dass Sex eine zwischenmenschliche positive
Kommunikationsform ist, eine gegenseitige Belohnung für
zwischenmenschliche Wärme, ein Anreiz, gesellschaftliche
Ziele anzustreben, ein Ausdruck von
zwischenmenschlichem
Lebensglück und Lebensfreude und vieles mehr. Und fest steht,
dass es heutzutage viele Idioten gibt, die sich irgendwelche
Überlegenheitsgefühle über andere Menschen verschaffen
müssen, und dazu uns nehmen wollen, was wir ihnen nicht
erlauben sollten, wenn wir können. Und auch deshalb stehen
wir mit unserem Infostand beim Open-Ohr-Festival dort in Mainz.
Veranstaltungen
Nun können wir ja zu zweit nicht
alle interessanten Veranstaltungen besuchen, denn wenn ich zum
Beispiel weggehe, an einer teilzunehmen, weiß ich, dass
Renate ganz alleine am Stand ist, sich mit solchen aber auch
netten und intelligenten Leuten beschäftigen kann oder muss,
dabei aufpassen, muss, ob kein Windstoß alles davon flattern
lässt, was man nicht gesichert hat usw. Und dann wenn sie
sich mal was zu Essen holen will oder aufs Klo muss, kann sie
nicht weg, und vor den zu wenigen Frauenklos sind viel zu lange
Schlangen usw. Das alles im Kopf, begebe ich mich also vorübergehend
zu wenigen Veranstaltungen, die gut ausgesucht werden müssen.
Sie selbst meint, solche Zusammenfassungen könne ich besser
schreiben als sie, also gehe ich und schreibe ich und lasse sie
schlechten Gewissens alleine am Stand. Was habe ich mir ausgesucht?

Samstag, 12 Uhr, auf dem Drususstein: Reformhaus
Florida-Rolf sonnt sich auf unsere Kosten, Leistung muss sich
wieder lohnen, ein Leben in der sozialen Hängematte soll
unmöglich gemacht werden, wir brauchen Reformen.
Wer nahm an der Debatte auf dem Podium teil? Von links nach rechts:
1. Michael Hartman, ein SPD-MdB
2. Professor Stefan Hradil, Soziologe an der Mainzer Uni
3. Moderator Kalle Schiker
4. Professor Freerk Huisken, Politische Ökonomie an der
Uni Bremen
5. Harald Rein, Arbeitslosenzentrum Frankfurt
Nach der Einleitung des Moderators kamen die einzelnen PodiumsteilnehmerInnen
zu ihren Statements. Als erster wurde Huisken nach dem Florida-Rolf
befragt.
Der Name Huisken ist mir aus meinem Studium bekannt, wie war
das denn noch mal: Elmar Altvater und Freerk Huisken: Materialien
zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, also
dass der Schulbereich auch einmal nach seiner Nützlichkeit
für die kapitalistische Gewinnerwartung untersucht wird
und nicht nur als kultureller
Elfenbeinturm
angesehen wird, aber dass dies an der Uni diskutiert wird, ist
1. lange her und 2. unterdessen derart geklärt, dass allgemeine
Bildung zugunsten der beruflichen (und Gewinn bringenden) Ausbildung
in den Hintergrund gedrängt wurde.
Freerk Huisken: Solche sozialneidischen Betrachtungen
wie die über den Florida-Rolf erklären, wofür
die Stütze nicht gedacht ist: für ein erträgliches
Leben. Aber nicht das Ausnutzen des Sozialstaates
ist ein Skandal, der Sozialstaat ist es selber. Er ist der Flickschuster
des Kapitalismus. Und gegenwärtig wird der Sozialstaat abgebaut,
um die Profite zu erhöhen. Es ist absolut wichtig, dass
sich Menschen zur Verteidigung ihrer sozialen Interessen zusammenschließen
und etwas gegen den Sozialabbau tun. Falsch ist es aber, den
Sozialstaat zu verteidigen, denn unter den marktwirtschaftlichen
Verhältnissen geraten die Arbeitnehmer regelmäßig
in Not und sind nicht in der Lage, aus dem eigenen Lohn die Löcher
zu füllen, denn der Lohn reicht kaum, den Arbeitsalltag
erträglich zu finanzieren. Der Sozialstaat ist zwar dazu
da, die kronische Not zu bekämpfen, die jedoch notwendig
für den kapitalistischen Reichtum ist. Aber er bekämpft
nicht die Ursache für
diese kronische Not.
Die Auswirkung ist, dass immer mehr Menschen, für die keine
Arbeit vorhanden ist, auch aus dem Sozialstaat geworfen werden.
Durch Hartz und die Agenda 2010 geraten immer mehr Menschen in
Armut. Die Auswirkung der Armut ist, dass sie in die Kriminalität
getrieben werden. Aber diese Armut ist produktiv für den
Kapitalismus.
Michael Hartman, SPD-MdB: Ich hätte nicht gedacht,
dass so etwas an einer deutschen Universität noch gelehrt
wird. Aber nun zurück zur Realität. Die Verunglimpfung
der Reformen zur Rettung des Sozialstaates aus verschiedenen
politischen Richtungen haben ungeahnte Ausmaße angenommen.
Seit dem Bestehen des Sozialstaates hat die Arbeiterklasse einen
wirtschaftlichen Aufstieg erlebt. Das hat uns allen genutzt,
auch den Kapitalisten, andere Systeme sind zusammengebrochen.
Schröders Agenda ist ein guter Ansatz. Wir müssen unsre
Systeme für die Globalisierung wetterfest machen. Trotz
staatlicher Arbeitsbeschaffung ist die Arbeitslosigkeit gestiegen,
sie haben also nichts gebracht, daher ist die Agenda 2010 nötig.
Unsere Zukunft liegt in der Bildung und der Ausbildung, dort
müssen wir investieren. Und um allen Leuten eine Chance
zu geben, voranzukommen, müssen wir schon in der frühkindlichen
Erziehung ansetzen. Da ist das vorhandene Geld zukunftsträchtig
zu investieren, während es in Beschäftigungsprogrammen
verschwendet wird, weil sie dort nichts bringen. Wichtig ist
auch, Deutschland als Friedenmacht zu stärken. Wenn wir
nicht regieren, werden Sie von ganz anderen Leuten regiert, nämlich
von Merz, Westerwelle und Co. Wir schaffen ein vernünftiges
Fundament für die Zukunft.
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum Frankfurt: Vernünftiges
Fundament? Ich sehe nur, dass durch das Arbeitslosengeld II die
Arbeitslosenhilfe gestrichen wird und die Sozialhilfe gesenkt
wird. 345 Euro im Monat und noch angemessene Mithilfe.
Das hat auch Auswirkungen auf die Löhne und Gehälter,
denn die Sozialhilfe funktioniert als Mindestlohn, und die wird
ja gesenkt. Und wenn man dann nichts findet, gibt es Arbeitsgelegenheiten
zu 1,50 Euro die Stunde. Das ist eine andere Form des Arbeitsdienstes.
Dagegen müssen breite Bündnisse geschaffen werden um
einen großen Druck von der Straße her zu erzeugen,
der so groß ist, dass die Agenda 2010 gekippt wird. (Applaus)
Professor Stefan Hradil,
Soziologe an der Mainzer Uni: Man kann natürlich sagen,
der Skandal ist, dass der Reparaturbetrieb Sozialstaat nötig
ist. Aber die Leute wollen den Sozialstaat und den Kapitalismus,
er hat zum sozialen Frieden beitragen und der Wirtschaft genutzt.
Jeder Euro, der sozial ausgegeben werden soll, muss jedoch verdient
werden, und da gibt es Änderungen im Weltmaßstab,
wir haben zudem weniger Leute, die das verdienen und mehr, die
der Leistungen bedürfen. Um den Sozialstaat zu retten benötigen
wir 3 Änderungen:
1. Die Basis der Beitragszahler muss erhöht werden.
2. Die Leute müssen mehr für sich selbst sorgen
3. Soziale Leistungen müssen gekürzt werden, auch wenn
das unpopulär ist.
Von den Reichen zu nehmen, das würde quantitativ nicht ausreichen.
Und die Gewinne des Produktivitätsfortschrittes in die sozialen
Sicherheitssysteme zu stecken, statt zu investieren, heißt,
den eigenen Ast abzusägen. Sie müssen in neue Investitionen
fließen.
Professor Freerk Huisken, Politische Ökonomie an
der Uni Bremen: Also ich muss doch noch auf den SPD-Abgeordneten
Hartmann eingehen. Wie kann man heute bei mindesten 5 Millionen
Arbeitslosen von einem Aufstieg der Arbeiterklasse reden. Ja,
es gab ein riesiges Wirtschaftswachstum und gibt ihn gegenwärtig,
aber auf Kosten der Arbeiterklasse. Ich halte es für eine
Unverfrorenheit, die Agenda 2010 als Fortschritt anzupreisen.
Sie hat in Wahrheit eine Erpressungsfunktion, das mit ihr der
Abbau des Arbeitslosengeldes radikalisiert wird. Vergessen wir
nicht die Zumutbarkeitsregeln, die von einem Arbeitnehmer verlangen,
jede Arbeit auch über weite Entfernungen hin zu übernehmen.
Ja, ich stimme Herrn Rein von der Arbeitsloseninitiative zu,
die Verelendung ist vorprogrammiert, Die Agenda ist ein Mittel
zum Lohndrücken. Die immer größere Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Rentensenkung, das alles dient der Verelendung des
Berufstätigen. Die Agenda 2010 ist kein Sparprogramm, sondern
ein Programm zur Beförderung der Volksarmut als Mittel der
Standortkonkurrenz, und dazu braucht man dann eben auch gegenüber
anderen Staaten die hübschen Friedensmittel.
(Viel Applaus)
Moderator: Herr Hartmann, das war direkt an Sie gerichtet
Michael Hartman, SPD-MdB: Wir helfen niemanden durch solche
Schlagworte. Dann ruft doch gleich für die Weltrevolution
auf ... (tosender Applaus aus dem Publikum!) ... aber das wird
von den Massen nicht aufgenommen. (Gelächter aus dem Publikum)
Der Skandal ist die zu hohe Arbeitslosigkeit. Wir haben eben
eine enorme Produktivitätssteigerung. Wollen sie denn zurück
zur Natur? Hinzu kommt das Problem, dass die Menschen glücklicherweise
immer älter werden und daher mehr Zuwendung brauchen, und
da kostet eben Geld.
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum: Weltrevolution? Warum
denn nicht? Die Produktivitätssteigerung ist ja positiv,
wenn dadurch die Menschen nicht verdrängt werden.
Moderator: An welche Alternative denken Sie? Ein staatlich
garantiertes Grundeinkommen?
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum: Ein allgemeines Grundeinkommen
würde viele Kontrollkosten überflüssig machen.
Arbeitslose sind nicht ohne Arbeit, sondern ohne bezahlte Arbeit.
Sie arbeiten zu Hause, helfen in Vereinen und Initiativen mit
...
Moderator: Was sehen Sie als Alternative zur Regierungspolitik
an Herr Professor Hradil?
Professor Stefan Hradil, Soziologe an der Mainzer Uni:
In Alternative zur gegenwärtigen Regierungspolitik muss
die Regierung ein Konzept haben und auch vertreten. Die Leute
sind bereit dazu, Kürzungen hinzunehmen, wenn sie wissen,
wofür. Sie könne nicht fordern dass die sozialen Leistungen
erhalten bleiben, weil die Jugend das bezahlen muss, und hier
sehe ich viele Jugendliche. Sie werden das alles bezahlen müssen.
Wenn Rentner wegen weniger Kürzungen demonstrieren, sind
dies die falschen Signale. In Wirklichkeit müssten die Jugendlichen
gegen die Rentner demonstrieren. (Einige klatschen auch dabei.)
- Ich bin bei diesem Stand der Diskussion zurück
zu unsrem Infostand gegangen, wo Renate tapfer die Stellung gehalten
hatte, nun die Möglichkeit bekam, sich etwas zu Essen zu
kaufen, ein bisschen Spazieren zu gehen und dann von mir berichtet
zu bekommen, um was es überhaupt bei der Veranstaltung gegangen
ist. Um was ging es? Dieser Professor Stefan Hradil hat hier
die Position der CDU/CSU/FDP-Opposition vertreten, es entsprach
den Aussagen von Merkel, März, Stoiber und Westerwelle.
Der SPD-Abgeordnete Hartmann warb natürlich für die
rotgrüne Regierungspolitik und verteidigte sie. An der Argumentation
von Hradil lässt sich auch erkennen, dass die zukünftige
CDU/CSU/FDP-Bundesregierung keine anderen Vorstellungen über
die Richtung der Regierungspolitik hat als die gegenwärtige,
nur noch krasser vorgehen will, denn sie will dies alles noch
ideologisch rechtfertigen. Und eine solche Ideologie kann nur
rechts sein. Er sagte ja wörtlich: In Alternative
zur gegenwärtigen Regierungspolitik muss die Regierung ein
Konzept haben und auch vertreten. Die Leute sind Bereit dazu,
Kürzungen hinzunehmen, wenn sie wissen, wofür.
Wer also nicht für weitere Verarmung der arbeitenden Bevölkerungsanteile
ist und weiterer Verelendungen der aus dem Arbeitsprozess rausgedrängten
immer größer werdenden Bevölkerungsanteile, auf
den wird dann die Volkswut gehetzt, darauf kann man sich gefasst
machen, wie das ja schon aus den entsprechenden Bild-Kampagnen
zu erkennen ist und aus der bekannten Frauenfreundschaft zwischen
Merkel und Springer hervorgeht.
Professor Huisken und der Sprecher der Arbeitsloseninitiative
Rein stellten eine linke Opposition dar, die aber nicht in unseren
Parlamenten, wohl aber im Publikum reichlich vertreten war/ist.
Insgesamt war die Debatte anregend und interessant, wurde aber
zum Ende hin etwas niveauloser.
Aus dem Publikum kam zum Beispiel dauernd und wiederholend der
Vorschlag, das Geld abzuschaffen, und alle Probleme seien weg.
Nur mit Geld könne die Marktwirtschaft funktionieren. Wer
so argumentiert weiß nicht viel über die Geschichte
des Geldes, als vor der Erfindung der Münzen die Leute einfach
mit Sachwerten tauschten und Ziegen oder Metalle als Geld nahmen.
Die ersten Münzen hatten das Gewicht des Metalls aufgeprägt
und das Siegel einer Obrigkeit, was die Richtigkeit der Angaben
bestätigte. Und die Metalle hatten den Wert der zur ihrer
Herstellung benötigten Arbeitszeit. Wir nennen das heute
den Herstellungswert, der ursprünglich in zeit gemessen
wurde. Dann gibt es noch einen Gebrauchswert, der vielfach subjektiv
ist, schließlich noch einen Tauschwert, der (eingeschränkt)
nach Angebot und Nachfrage funktioniert. Einfach durch das Abschaffen
des Geldes wieder zu wahren Warenwerten zu kommen, nämlich
den Herstellungswerten, das halte ich für unrealistisch.
Geld ist nicht nur der Garant eines brutalen Wirtschaftsverhältnisses
und ein Symbol von Ausbeutung und Betrug, es ist auch schlicht
eine Recheneinheit.
-
- Samstag, 16 Uhr, auf der Mauer: Sachzwang
und Gemüt (Lesung von Thomas Ebermann und Rainer Trampert)
Hier habe ich nur kurze Zeit gesessen, dem Anfang der Lesung
zugehört. Nicht dass mir das nicht gefallen hätte,
im Gegenteil. Aber man kann den Wortwitz der beide hier nicht
so weitergeben, das ihr LUST-LeserInnen auch davon profitieren
könnt. Und wenn ich schreibe: Es war klasse!
könnt Ihr das natürlich nicht ebenso Klasse empfinden.
Das müsst Ihr Ecu schon selber anhören, wenn es geht.
Ich hatte schon einmal darüber berichtet, dass die beiden
eine solche Lesung unter dem Titel: Verpasst Deutschland
den Anschluss? vorgetragen haben. Zu ihrem jetzigen Thema
Sachzwang und Gemüt meinte Ebermann, dass heutzutage
für den modernen Menschen hier ja gar kein Widerspruch
existieren sollte: Was gemacht werden
soll, ist auch das Schönste. Denn die Moral heiße
ja Ich arbeite, also bin ich. Ich arbeite nicht, also bin
ich schuldig.
Also bin ich lieber wieder zum Infostand gegangen, um mich über
die sportlich engagierten jungen Leute vom Nachbarstand zu ärgern,
die ständig vor uns umherhüpften, kleine Bälle
mit den Füßen umhertraten, irgendwelche Federbüsche
umherschwangen und andere seltsame Bewegungen dabei vollführten,
so dass niemand Interessiertes überhaupt zu uns kommen könnte,
ohne eine Hand, einen Fuß, einen umher flatternden Haarwust
oder Federbüschel oder einen Ball an den Kopf zu bekommen.
Und dabei sahen sie noch nicht einmal so gut aus, wie sie das
wohl zu glauben schienen.
Sonntag, 12 Uhr, auf dem Drususstein: Arbeit
macht das Leben süß ... süß wie Maschinenöl
Visionen und Alternativen zur Arbeitsgesellschaft.
Welche Alternative zur bestehenden Arbeitswelt gibt es? Wie nachhaltig
sind verschiedene Reformen von Arbeit und welche Arbeit braucht
die Gesellschaft überhaupt?
Von links nach rechts:
1. Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung,
Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung
2. Professor Dr. Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler
an der Universität Jena
3. Volker Panzer, Journalist (ZDF) als Moderator
4. Sahra Wagenknecht, PDS-Bundesvorstand, Sprecherin der Kommunistischen
Plattform
5. Darwin Dante, Autor des Buches 5 Stunden sind genug
Auf der Bühne sind neben dem (aus unserer Sicht) rechts
sitzenden Redner (Darwin Dante) große Tafeln aufgebaut.
Der Moderator Volker Panzer vom ZDF ist deutlich kein Gesprächsleiter,
sondern ein Moderator, wie wir ihn aus diesen Medien kennen:
Er kommentiert, wertet, strukturiert, so als sei er der Mittelpunkt
des Gespräches und alle reden nur zu ihm.
Volker Panzer, Moderator: Was heißt eigentlich Arbeit?
Das Arbeit kaufen und verkaufen, das gibt es doch ursprünglich
erst, seit es fossile Energien gibt.
Michael Opielka, Universität Jena: Tja, was ist Arbeit.
Ich habe mich gefragt, ob das Arbeit ist, was ich hier nun mache.
Arbeit hat mehrere Merkmale. Sie ist 1. Die wirtschaftliche Basis
des Lebens, 2. Gegenseitige Verpflichtungen eingehen, 3. Selbstverwirklichung
(Teil der Lebensgeschichte, soziale Beziehungen eingehen.). Ich
nenne das Familienarbeit, die ist soziale Verpflichtung, sie
ist auch soziale Beziehungen, und auch das Geld kann hier eine
Rolle spielen. Aber im Wirtschaftsleben stellen sich ja noch
weitergehende Fragen, nämlich, wer hat das Geld, Arbeit
zu kaufen? Wer entscheidet über den Zugang zur Arbeit?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum
Berlin: In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es die Erwerbsarbeit
und dort eben entweder den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer.
Aber Abgrenzungen zwischen den Bereichen, die über die Erwerbsarbeit
hinausgehen werden immer brüchiger. Und die klassische Einteilung
zwischen der fremdbestimmten Erwerbsarbeit und der selbstbestimmten
Familienarbeit ist zunehmend nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Aufgrund der Produktivität ist immer weniger Erwerbsarbeit
vorhanden.
Volker Panzer, Moderator: Frau Wagenknecht, in der DDR
gab es doch Vollbeschäftigung und keine Arbeitslose. Wie
wurde dort die Arbeit definiert?
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Ja, es gab
Vollbeschäftigung und keine nennenswerte Arbeitslosigkeit,
aber die Arbeit blieb auch in der DDR entfremdet. Es war von
anderen Lebensbereichen abgetrennte Arbeit zum Erwerb. Aber Arbeit
ist mehr, als nur der Bereich, der von den Kapitalisten in Form
von Erwerbsarbeit abgefragt wird. Arbeit hat den Menschen überhaupt
erst zum Menschen gemacht. Also, Arbeit ist viel mehr als die
Erwerbsarbeit und auch die Familienarbeit. Die Technik macht
es möglich, dass zunehmend stupide Arbeit nicht mehr nötig
ist.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Gibt es denn auch eine
nichtentfremdete Arbeit? Wir haben uns die Frage zu stellen,
wie viel Arbeit überhaupt noch vorhanden ist. Wir befinden
uns in der letzten industriellen Revolution und der Mensch wird
aus der Industriearbeit verdrängt. Bald kommen wir mit einer
Fünfstundenwoche aus. Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit
aus. Während Politiker immer noch versprechen, die Arbeitslosigkeit
senken zu können oder gar die Vollbeschäftigung ansteuern,
wissen Experten, dass die Gesellschaft vor einem epochalen Wandel
steht. Mitte dieses Jahrhunderts werden nur noch 20 % der arbeitenden
Bevölkerung erwerbstätig sein, die anderen werden aus
der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Umdenken ist notwendig:
Wir benötigen eine güterwirtschaftliche Gesellschaft,
die basisstrukturiert ist. Die Hälfte aller gearbeiteten
Stunden hat es was mit dem Geld, seiner Verwaltung, dien
Organisationen zum Schutz der Geldwirtschaft
zu tun. Viele Stunden haben nur etwas mit dem Erhalt dieser Ordnung
zu tun und viele Stunden Arbeit werden benötigt, damit mit
der Produktion von Gütern Geld gemacht werden kann, die
eine längere Lebenszeit hätten ...http://www.5-stunden-woche.de
Volker Panzer,
Moderator: (unterbrechend) Arbeit ist vor allem Lohnarbeit. Aber
wie viel gearbeitet wird, wer arbeitet usw., wer entscheidet
das alles?
Michael Opielka, Universität Jena: Die Industriearbeit
sinkt tatsächlich, aber nicht nur wegen der zunehmenden
Produktivität, sondern auch durch Outsorcing in den Dienstleistungsbereich
wo dann neue Arbeit entsteht.
Volker Panzer, Moderator: Aber irgendwo muss doch die
Wertschöpfung geschehen?
Michael Opielka, Universität Jena: Die maximale Wertschöpfung
geschieht durch Arbeit. Und dass die automatisierten Maschinen
alle Arbeit verrichten (an Dante gerichtet), ist für den
Bereich der Güterproduktion richtig. Aber bei den Dienstleistungen
gibt es Bereiche, das sind Menschen notwendig. Da geht das nicht
so gut. Aber was die güterwirtschaftliche Gesellschaft betrifft,
wenn es kein Geld gibt, nehmen die Leute vielleicht Ziegen als
Zahlungsmittel. Wollen wir denn die Industrieproduktion lassen
und im Gras leben?
Volker Panzer, Moderator: Es gibt viele alternative Vorstellung
zur kapitalistischen Wirtschaft, Warum hat dieser Kapitalismus
denn diese Beharrungskraft? Wer entscheidet über die Wirtschaftsordnung?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Was die
Menschen für Bedürfnisse haben, entscheidet darüber,
was und wie gearbeitet wird. Es sind die Leitbilder der Gesellschaft
und die Menschen befolgen sie. Bedürfnisse werden in der
Marktwirtschaft befriedigt und die Menschen wollen es so.
Volker Panzer, Moderator: Frau Wagenknecht, wer entscheidet,
was und wie produziert wird?
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Der Kapitalismus
berücksichtigt nur Bedürfnisse, die ihm Geld bringen.
Aber heute gibt es viele Bedürfnisse, die nicht befriedigt
werden, im Bereich der Bildung, wir bräuchten viel mehr
Lehrer, im Bereich der Medizin usw.
Volker Panzer, Moderator: Herr Dante, sie gehen mit ihren
Anhängern als Wanderprediger durch das Land und werben für
die Fünfstundenwoche. Wollen Sie denn wirklich im Gras leben?
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Luxus und Lebensstandart
bleiben erhalten. Ich bin für die Produktivitätssteigerungen
in der Wirtschaft, sie ermöglichen ja die Vollautomatisierung
bei fast vollständigen Arbeitsverzicht.
Aus dem Publikum: Wie sollen denn die Dinge organisiert
werden, wenn die Geldverhältnisse wegfallen, die unsere
Länder zu den reichsten Ländern machen, in denen diese
Vollautomation bei Arbeitsverzicht möglich ist?
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Also, das ist eine gute
Frage. In Marokko sind z.B. 65% der Menschen arbeitslos. Andererseits
gibt es ein Überangebot an Gütern, die vernichtet werden,
bei einem Überangebot an Arbeitskräften ...
Volker Panzer, Moderator: Wir haben 4 bis 5 Millionen
Arbeitslose. Die Unternehmen gehen in Billiglohnländer.
(Zuruf aus dem Publikum: das ist die Geldwirtschaft!) Es gibt
vielerlei Vorstellungen, dies zu ändern. Was ist von dem
neuen Prinzip zu halten, dass jeder Bürger eine Grundsicherung
erhält?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Eine Realutopie,
wenn sie geteilt wird, kann sie realisiert werden. Dass jeder
einen Anteil an der Erwerbsarbeit erhält, das funktioniert
immer weniger. Eine Grundabsicherung, abgeleitet aus dem Bürgerstatus,
ist gut. Aber, wer legt die Höhe fest?
Michael Opielka, Universität Jena: Die Idee der Grundabsicherung
ist nicht jung und sie ist richtig. Dazu gibt es verschiedene
technische Möglichkeiten, zum Beispiel das Kindergeld, eine
Grundrente, das Arbeitslosengeld, das Erziehungsgeld, das Krankengeld,
die Sozialhilfe von der Lohnarbeit abzukoppeln und in eine Grundsicherung
zu überführen. Aber die gesamte Existenzsicherung von
der Lohnarbeit abzukoppeln, das wollen die Eliten nicht. Dennoch,
mit dem existierenden alten Modell dränge ich viele Menschen
aus der Gesellschaft. Die Umorganisierung ist eine Frage der
Demokratie und keine wirtschaftliche Frage alleine. Was die Frage
der Basisdemokratie betrifft, es geht um die Verteidigung des
Wohlfahrtstaates gegen die Globalisierung, die den Staat handlungsunfähig
macht. Der Wohlfahrstaat kann nur so lange funktionieren, wie
der Staat Hoheitsrechte hat. Die Beteiligung der Bevölkerung
durch Volksabstimmungen usw. kann ein gutes Mittel sein, die
demokratischen und sozialen Wandlungsprozesse zu beschleunigen.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Die Frage ist, wie können
wir basisdemokratisch den Lebensraum gestalten? Wenn die Mitbestimmungsrechte
ausgedehnt werden, wird sich sehr schnell zeigen, dass die Bonzen
überflüssig sind.
Volker Panzer, Moderator: Basisdemokratie und Volksabstimmungen?
Die Gewaltenteilung ist ein wichtiger gesellschaftliche Fortschritt
und ein Garant der individuellen Freiheit.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Fakt ist,
dass wir tatsächlich weniger arbeiten könnten, wenn
wir Dinge, die nur der Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse
dienen, nicht mehr herstellen müssten. Aber dann werden
neue Arbeiten auf uns zukommen, die sich daraus ergeben, dass
dann all die in der Marktwirtschaft unterdrückten Bedürfnisse
an des Tageslicht kommen werden.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Freiwillige Arbeit ist
die schönste Arbeit, auch die Kapitalisten werden dann Spaß
am Leben bekommen. Es geht um Zeit statt um Geld.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Zeit ist
die Marxsche Maßeinheit für Arbeit. Die Menschheit
hat genügend technische Möglichkeiten, alle soziale
Not zu beenden. Aber immer werden wir dazu Geld benötigen.
Und das haben unter den gegebenen Umständen einige Wenige
in ihren Händen.
Michael Opielka, Universität Jena: Geld ist Freiheit.
Aber wessen Freiheit? Und der Kapitalismus nutzt das menschliche
Freiheitsbedürfnis aus. Mindestens genau so wichtig ist
aber auch Politik und Kultur. Die Politik muss die Zugänge
dazu realisieren. Geld und Demokratie sind Freiheitsmotive. Wenn
kein Geld da wäre, würde ich 5 Kamele dazu nehmen.
Wir setzen alle auf die Maschinen? Wir müssen auch die Schwächen
der Maschinen beachten. Und dann, wem gehören die Maschinen?
Volker Panzer, Moderator: Können wir Menschen denn
eine bessere Welt erreichen? Was ist der Mensch, welches Menschenbild
haben Sie?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Hinter der
Agenda 2010 steht die Frage des Menschenbildes: Menschen brauchen
einen Anreiz zur Arbeit. Mittel zur Grundsicherung werden nicht
bedingungslos verstreut.
Michael Opielka, Universität Jena: Verschiedene Menschenbilder
haben ihre Berechtigung. En Teil der Menschen benötigt ja
auch den Anreiz. Das ist nicht negativ. Wir sind ja auch an Gleichheit
interessiert, wir wollen auch Leistungen erbringen, daraus sind
Konsequenzen für den Arbeitsmarkt zu ziehen.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Der Mensch
unterscheidet sich vom Tier, dass er seine Umwelt nicht so belässt,
sondern sie verändert. Das kann gut sein oder schlecht.
Wie er die Gesellschaft ändert, das hat etwas mit der Gesellschaftsordnung
zu tun, zum Beispiel: wonach wird geforscht? Der Mensch ist zu
allem fähig. Also auch zum Positiven. Was jeweils dominiert,
ist eine gesellschaftliche Frage. Wenn die Gesellschaft verändert
wird, wird der Mensch nicht plötzlich gut, denn das ist
ein Entwicklungs-prozess.
Michael Opielka, Universität Jena: Keiner hat die
Wahrheit, die Verhältnisse helfen uns,
gut zu sein oder auch nicht. Patentrezepte machen mich misstrauisch.
In nächster Zeit geht es darum, das Grundrecht der gesellschaftlichen
Teilhabe für alle zu erkämpfen.
-
- An dieser Stelle habe ich die Diskussion
verlassen und bin zu unserem Infostand gegangen, denn ich wollte
Renate nicht so lange dort alleine sitzen lassen. Mir ging durch
den Kopf, dass ich von jeden von ihnen eigentlich gerne mehr
gehört hätte, denn Alternativen zu dem, was im Moment
läuft, sind ja richtig und wichtig. Und da die Menschheit
schon ihre Erfahrungen gemacht hat, mit solchen Gestalten, die
das eine Allheilmittel für alles haben, sind recht verschiedene
Alternativen nur sehr gefragt.
Besonders gut fand ich den Einwand gegen die direkte Volksdemokratie
und dem Lob der Gewaltenteilung, denn Lesben und Schwule kennen
das Gefühl, wenn plötzlich alle gegen uns sind, und
scheinbar gute Gründe dafür zu haben glauben, zum Beispiel,
weil wir gegen die Natur seien, weil wir Kinder verführen
würden, weil wir Sitte und Anstand gefährden würden
und andere Dinge dieser Art. Und da ist eine möglichst neutral
auftretende Instanz, die kühles Blut bewahrt und Tatsachen
untersucht, schon wichtig. Ich
erinnere
an die absurden Verdächtigungen in Mainz. Eine engagierte
Kindergärtnerin meinte, überall Kindesmissbrauch zu
sehen, und diese Geschichte ging dann breit durch die Medien.
Erzieher, Väter und Mütter, auch Großmütter
gehörten scheinbar zu einem Kindermissbraucherring. Durch
den Entzug der Kinder und den eifrigen Darstellungen in dem Medien
wurden Familien zerstört und wirtschaftliche Existenzen
ruiniert. Am Ende kam nach richterlicher Untersuchung raus, dass
gar nichts dran war, an den Vorwürfen. Damit will ich nicht
sagen, dass es dieses Verbrechen nicht gibt. Nur, die betroffenen
Menschen sind da in etwas reingeraten, mit dem sie nicht umgehen
konnten und wogegen sie sich nicht wehren konnten. Und ich habe
erfahren, dass in linken autonomen Kreisen, als es darum ging,
einen engagierten Anwalt zu finden, dieser engagierte Anwalt,
der linken Leuten kostenlos hilft, abgelehnt wurde, er sei ein
Schwein, weil er (in dem oben beschriebenen Vorgang) Kinderschänder
verteidigen würde. Also, so kann es gehen, wenn da niemand
ist, der untersucht, ob wirklich etwas dran ist, sondern alle
sofort verurteilen. Bei einer direkten Demokratie ist die Gefahr
sehr groß, dass ganz schnell irgend etwas durchgepeitscht
wird, was sich dann später als grober Fehler erweist, der
dann aber nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
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- Sonntag, 16,30 Uhr, Kleines Zelt: Rechenstunde
zur Grundsicherung
In einer Veranstaltung stellte Professor Opielka eine Versicherung
vor, angelehnt an die Schweizer Rentenversicherung.
1. Professor Dr. Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler
an der Universität Jena
2. Dr. Herbert Buscher, Institut für Wirtschaftsforschung,
Halle
3. Volker Panzer, Journalist (ZDF) als Moderator
Hier stellte also der Jenaer Professor Michael Opielka seine
Grundsicherungsversicherung vor, mit der er einerseits erste
Schritte in Richtung auf ein staatliche Grundgehalt für
alle
gehen will, das andererseits die
Probleme der Sozialversicherungen lösen soll, einschließlich
des demographischen Faktors, wie auch das Problem der staatlichen
Zuzahlung, und dann sollen auch noch großzügige Übergangslösungen
angeboten werden, weil dann ja noch alte Sozialversicherungsansprüche
bestehen würden. Schließlich sollen auch noch die
Lohnnebenkosten gesenkt werden oder gar wegfallen. Dies alles
soll nun erreicht werden mit einer vom Opielka errechneten Grundsicherungesversicherung,
in der Kindergeld, BaFög, Krankengeld, Arbeitslosengeld
und Sozialhilfe, schließlich noch die Rente untergebracht
werden soll. Übrig bleibt die Krankenkasse und die Pflegeversicherung,
weil diese eben für andere Kosten Aufkommen müssen
statt für Lohnersatzleistungen. Einzahlen sollen alle, die
Einkommenssteuer bezahlen müssen, also auch Unternehmer
und auch die Beamten.
Mit 17,5% von jedwedem Einkommen ohne irgendeine Beitragsbemessungsgrenze
soll also jeder Bürger einzahlen, und dies habe dann den
Charakter einer Sozialsteuer. Geboten bekäme jeder Bürger
in den Fällen, wo eine Lohnersatzleistung nötig ist,
unabhängig seiner Einzahlungen eine Grundsicherung von 640
im Monat. Wer längere Zeit und sehr hoch einzahlt
könnte nicht mehr als den doppelten Betrag , also 1.280
erhalten. Ein solches Arbeitslosengeld würde ohne
zeitliche Begrenzung gezahlt, ebenso das Krankengeld usw. Über
diese umlagefinanzierte Grundsicherung hinaus könnte sich
natürlich jede(r) privat kapitalgedeckt weiter versichern.
Diese Grundsicherung hätte den Vorteil, dass sie von den
Arbeitskosten getrennt sei. (http://www.boell-bremen.de/dateien/67ab35ba51629909b01c.pdf)
Volker Panzer, Moderator: Herr Professor Opielka, Sie
sind Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena,
Geschäftsführer des Institutes für Sozialökologie
in Königswinter und Lehrbeauftragter am Seminar für
Soziologie der Universität Bonn. Sie sind außerdem
Autor des Buches Grundrente in Deutschland, Sozialpolitische
Analysen. (Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden,
16,90). Und dort stellen Sie ihr Modell des Grundsicherungseinkommen
vor.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: ja, ich plädiere
für eine Grundeinkommensversicherung. Der Sozialstaat ist
in einer Umbruchsphase, die Reformmodelle sind neoliberal und
lassen den einzelnen mit vielen sozialen Problemen alleine.
Volker Panzer, Moderator: Herr Dr. Buscher, Sie haben
an der FU Berlin Volkswirtschaftslehre studiert und dort auch
promoviert. Bis März 2002 waren Sie stellvertretender Leiter
des Bereichs Arbeitsmärkte am ZEW Mannheim. Seit April 2002
leiten Sie die Abteilung Arbeitsmärkte am Institut für
Wirtschaftsforschung Halle. Wie stehen Sie zum Sozialstaat und
den Reformen?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: Es gibt einen grundlegenden
Gegensatz im Verständnis über die wirtschaftlichen
Aufgaben des Staates. Die einen meinen, der Staat ist für
uns verantwortlich, die anderen, Jeder ist für sich selbst
verantwortlich und den Staat soll nur in Notfällen eingreifen.
Der heutige ausufernde Sozialstaat ist eine Fehlentwicklung und
muss zurückgebaut werden. Wir haben auch nicht mehr wegen
der Globalisierung die Freiheit der Wahl in dieser Frage.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: Ihr angeblichen
neoliberalen Realisten lauft einer falschen Utopie nach. Der
Neoliberalismus ist eine Unternehmerillusion. Die These der individuellen
Leistung und ist durch die moderne gegenseitige Vernetzung längst
als ein Phrase entlarvt worden. Sie sind doch auch nicht alleine
durch Ihre Leistung und Ihr eigenes Tun zu Ihrem Posten gekommen.
Volker Panzer, Moderator: Herr Doktor Buscher, ist unser
Sozialsystem reformierbar und wenn ja, wie?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: das System hat sich
gewehrt, besonders die Gewerkschaften. Aber Änderungen sind
dringend nötig. Immer weniger Menschen zahlen für immer
mehr Menschen und höheren Koste. Deshalb muss es reformiert
werden. Aber der Vorschlag von Herrn Opielka geht in die falsche
Richtung. Er schlägt wieder kein kapitalgedecktes System
vor. Die Krankenkasse und die Pflegeversicherung sind ausgespart
und Arbeitslosengeld soll man erst bekommen, nachdem man 3 Jahre
lang eingezahlt hat. Wer viel einzahlt, bekommt auch nur wenige
mehr als die Grundsicherung, und die Grundsicherung ist niedriger
als die Ansprüche heutiger Sozialgeldempfänger.
Volker Panzer, Moderator: Also eine allseitige Einsparung?
Unterscheidet sich das Modell von den Vorstellungen eines Herrn
März? Und rechnet es sich?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: Als Ökonom
muss ich sagen, es ist richtig gerechnet. Ja, es rechnet sich.
Als Sozialpolitiker sehe ich das aber anders. In diesem Modell
wird eine Zwangsversicherung vorgeschlagen, und das nach dem
überholten Umlagesystem, was nicht mehr funktioniert. Besonders
die Besserverdienenden werden es nicht einsehen, dass sie 17,5%
für eine derart mickrige Grundrente bezahlen sollen.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: Das Umlagesystem
ist doch durchaus vernünftig, wenn die gesamte Bevölkerung
mit einbezogen wird. Bei einer Grundsicherung von 640 Euro käme
eine Grundrente von 768 zustande, das ist doch mehr als
heute die Hälfte aller Rentner erhalten. Und wenn jemand
bis zu seiner Arbeitslosigkeit keine 3 Jahre beschäftigt
war, bekommt er trotzdem das Grundeinkommen, allerdings die Hälfte
davon als Kredit. Dieses System entspricht dem Rentensystem in
der Schweiz, das dort eine sehr hohe Akzeptanz hat, trotz der
angeblichen Nachteile für Besserverdienende. Jeder Bürger
zahlt dort 10,1% seines Einkommens in die Grundrente ein, der
Mindestbeitrag ist 350 , und bekommt dafür eine Grundrente
von 427. In meinem Modell sollen 17,5% bezahlt werden,
das ist weniger als die Besserverdienenden und alle Arbeitnehmer
derzeit zahlen, und es ist die Rente, das Erziehungsgeld, das
Arbeitslosengeld, die Sozialhilfe, das Krankengeld darin enthalten.
Und wenn jemand Lust hat, sich selbst zu verwirklichen statt
zu arbeiten, bekommt er das auch, allerdings zur Hälfte
als Kredit.
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- War es das?
Ich habe dann die gegenseitigen Rechnungen der beiden Herren
nicht mehr mitgeschrieben, jedoch gespannt zugehört, denn
man muss es selber einmal sehen, um beurteilen zu können,
ob dies ein vernünftiges System ist. Und als dann die ganzen
Diskussionsbeiträge aus dem Publikum kamen, bin ich schnell
zu Renate gegangen, um sie nicht alleine sitzen zu lassen. Das
Modell aber scheint mir schon diskussionswürdig zu sein.
Am Montag wollte ich noch zu Der Arbeit gehört die
Zukunft um 11 Uhr im Kuppelzelt gehen, eine Diskussion
mit einer Berufsberaterin der Bundesagentur für Arbeit,
aber vorher kam Gernot von der Friedensinitiative vorbei und
wir diskutierten an unserem Infostand über verschiedene
Formen des Nationalismus bzw. Patriotismus, so dass wir alle
die Zeit vergaßen.
Und auch das ist einer der Vorzüge dieses Festivals. Man
hat Gelegenheit, sozusagen über Gott und die Welt mit den
unterschiedlichsten Menschen zu diskutieren, weil das Klima einfach
zu vielen Gesprächen einlädt. Kaum findet ein thematisches
Gespräch statt, gesellen sich andere FestivalteilnehmerInnen
dazu und die Gespräche werden dadurch angeregt und befruchtet.
Ob es vielleicht möglich wäre, die Anzahl der Frauentoiletten
zu erhöhen? Renate erzählte von unschönen Szenen,
zum Beispiel vor der Behindertentoilette, wo sich Frauen in ihrer
Notlage vor die Behinderten gedrängt hatten, die sich dagegen
nicht wehren konnten. Auch das Verhalten von Frauen, die auf
die Kabinen der Herrentoiletten wollten, war schon für die
dort stehenden Männer recht irritierend, möchte ich
noch hinzufügen.
Unter dem Strich muss ich sagen, dass es mal wieder ein rundes
und schönes Pfingst-Festival auf der Mainzer Zitadelle war,
zumal das Wetter in diesem Jahr ja auch mitgespielt hat. (js)
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