79. LUST, Sommer 04
 
Die Zukunft der Arbeit und des Sozialstaates
Wie in jedem Jahr hat das Kollektiv, dass das Open-Ohr-Festival plant, ein gutes politisches Thema in den Mittelpunkt des Festival-Geschehens gestellt, ein Thema, das ohnehin schon im Mittelpunkt des politischen Geschehens der Bundesrepublik steht. “Arbeit abschaffen!” nannten die Initiatoren des Festivals dieses aktuelle Thema. Herausgekommen ist in einer ganzen Reihe von Referaten, Diskussionen, Workshops und Darbietungen, (neben den musikalischen Attraktionen, Film- und Theatervorführungen, Lesungen usw.) ein eifriges Debattieren und Nachdenken rund um die Fragen nach der Zukunft der Arbeit und dem Sozialstaat.
 
Wir (Renate und Joachim von der ROSA LÜSTE), am Freitag und Montag durch Thomas verstärkt (leider fanden sich nicht mehr HelferInnnen), hatten unseren Infostand zu beaufsichtigen bzw. mit den Interessierten zu debattieren sowie das Spiel etwas mitzulenken, das wir als Zugpferd für die Gespräche an unserem Infostand mitgebracht haben.

Natur und Homosexualität
Ein pfiffiger junger Mann konfrontierte uns zum Beispiel mit seiner eigenartigen Meinung, Sexualität diene von der Natur aus dem Zeugen von Nachwuchs und in “der Natur” sei daher keine Homosexualität zu finden. Eine Gelegenheit zur Antwort hatten wir aber nicht, denn seine Freundin stellte ihm das Ultimatum, entweder sofort mitzukommen, oder sich eben ohne sie eine Zeitlang unseren Argumenten auszusetzen. Klar ist, dass ihm die zweite Möglichkeit dann doch zu gefährlich erschien. Er ging mit, nicht ohne zu versprechen, wiederzukommen. Eben so klar ist, dass er nicht wieder kam, wir kennen solche Vorgänge.
Was hätten wir ihm erwidern können? Zuerst einmal die Behauptung, die Sexualität diene von der Natur her dem Zeugen des Nachwuchses. Solche pseudoreligiösen Behauptungen gehen davon aus, als ob in der Natur jemand entscheidet: So, jetzt erfinde ich zum Zweck des Nachwuchses die Sexualität, und deshalb haben die Wesen auch in der Sexualität nur das zu machen, was Nachwuchs bringt. Darum aber kümmert sich die Natur ja gar nicht, sondern hat gleichzeitig eine große Menge von Möglichkeiten geschaffen, hier Lustgefühle alleine, miteinander zu zweit, dritt oder wie auch immer zu genießen.
Kann ein Mensch einen anderen Menschen einfach so als biologisches Wesen sehen? Der Mensch dient in der Natur sicherlich als Nahrung für allerlei Raubtiere. “Der Mensch ist ein nützliches Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Bergmannstod die Profite der Grubenherren zu erhöhen und durch den Soldatentod den Kurs der Petroleumaktien (Als Öl-Aktien)”, schrieb Kurt Tucholsky ca. 1920. Hier wird der Mensch nicht biologisch, sondern (satirisch) wirtschaftlich gesehen. Auch in der Sexualität sehen wir den Menschen nicht biologisch, sondern eher gesellschaftlich, denn es ist ja schon recht lange her, dass brünstige Menschen den entsprechenden Geruch verströmen, der andere menschliche Wesen dann ebenfalls brünstig macht, und schon rammeln sie miteinander rum und fertig. Und auch dabei sind damals wohl Lustgefühle im Spiel gewesen.
Was soll also eine solche Frage? Soll ich vielleicht diesem höheren Affen sagen, dass ich vollkommen unnatürlich sei, weil er für meine Augen recht attraktiv aussieht? Würde er sich ärgern, wenn ich ihm sagen würde, dass er für mich vollkommen unattraktiv sei? Ich könnte ihm zum Beispiel fragen, wie oft er schon Sexualität alleine oder mit anderen erlebt hat und wie viele Nachkommen er dabei produziert hat, was doch der biologische Zweck der Sexualität sei. Doch er wollte so etwas wohl nicht hören, denn er kam ja erwartungsgemäß nicht wieder. Ich hätte ihm von den verschiedenen Tiergattungen erzählen können, die tatsächlich homosexuell verkehren, besonders die mit uns am nahesten verwandten, die Vierhänder, doch was könnte ich bei solch einem Zeitgenossen damit erreichen? Wahrscheinlich glaubt er das einfach nicht und dann stehe ich schon wieder blöde da. Ich könnte ihm von einer Wanzenart erzählen, bei der die erfolgreicheren (im genetischen Sinne) Männchen mit ihrem Penis-Dorn die Haut von Männchen durchbohren, ihr “Sperma” in die Blutbahn von diesen Männchen ergießen, worauf diese Männchen auf Weibchen ganz scharf werden und beim Anbohren der Weibchen das Sperma des anderen Männchens an das Weibchen weitergeben. Aber, so würde er da zurecht antworten, der Mensch ist ja nun mal nicht mit diesen Wanzen verwandt. Und selbst wenn, er ist offensichtlich anders. Muss ich denn auch mein Verhalten von irgendwelchen Gepflogenheiten anderer Affenarten rechtfertigen lassen?
In “der Natur” gibt es so ziemlich alles, was sich denken lässt. Na und? Müssen wir das dann auch machen? Dann hieße es wieder: wie die Tiere! Fest steht, dass zu den natürlichen lustvollen menschlichen sexuellen Fähigkeiten eben die Homosexualität gehört, dass es sie durch die ganze bekannte Geschichte der Völker und Kulturen in viele unterschiedliche Sozialformen eingebettet gab und gibt. Fest steht auch, dass die Verhaltensweisen der Menschen in sexuellen Fragen eben auch von der vorherrschenden Kultur und der Gesellschaft beeinflusst werden und dass Sex eine zwischenmenschliche positive Kommunikationsform ist, eine gegenseitige Belohnung für zwischenmenschliche Wärme, ein Anreiz, gesellschaftliche Ziele anzustreben, ein Ausdruck von zwischenmenschlichem Lebensglück und Lebensfreude und vieles mehr. Und fest steht, dass es heutzutage viele Idioten gibt, die sich irgendwelche Überlegenheitsgefühle über andere Menschen verschaffen müssen, und dazu uns nehmen wollen, was wir ihnen nicht erlauben sollten, wenn wir können. Und auch deshalb stehen wir mit unserem Infostand beim Open-Ohr-Festival dort in Mainz.

Veranstaltungen
Nun können wir ja zu zweit nicht alle interessanten Veranstaltungen besuchen, denn wenn ich zum Beispiel weggehe, an einer teilzunehmen, weiß ich, dass Renate ganz alleine am Stand ist, sich mit solchen aber auch netten und intelligenten Leuten beschäftigen kann oder muss, dabei aufpassen, muss, ob kein Windstoß alles davon flattern lässt, was man nicht gesichert hat usw. Und dann wenn sie sich mal was zu Essen holen will oder aufs Klo muss, kann sie nicht weg, und vor den zu wenigen Frauenklos sind viel zu lange Schlangen usw. Das alles im Kopf, begebe ich mich also vorübergehend zu wenigen Veranstaltungen, die gut ausgesucht werden müssen. Sie selbst meint, solche Zusammenfassungen könne ich besser schreiben als sie, also gehe ich und schreibe ich und lasse sie schlechten Gewissens alleine am Stand. Was habe ich mir ausgesucht?

Samstag, 12 Uhr, auf dem Drususstein: Reformhaus
Florida-Rolf sonnt sich auf unsere Kosten, Leistung muss sich wieder lohnen, ein Leben in der sozialen Hängematte soll unmöglich gemacht werden, wir brauchen Reformen.
Wer nahm an der Debatte auf dem Podium teil? Von links nach rechts:
1. Michael Hartman, ein SPD-MdB
2. Professor Stefan Hradil, Soziologe an der Mainzer Uni
3. Moderator Kalle Schiker
4. Professor Freerk Huisken, Politische Ökonomie an der Uni Bremen
5. Harald Rein, Arbeitslosenzentrum Frankfurt
Nach der Einleitung des Moderators kamen die einzelnen PodiumsteilnehmerInnen zu ihren Statements. Als erster wurde Huisken nach dem Florida-Rolf befragt.
Der Name Huisken ist mir aus meinem Studium bekannt, wie war das denn noch mal: Elmar Altvater und Freerk Huisken: “Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors”, also dass der Schulbereich auch einmal nach seiner Nützlichkeit für die kapitalistische Gewinnerwartung untersucht wird und nicht nur als kultureller Elfenbeinturm angesehen wird, aber dass dies an der Uni diskutiert wird, ist 1. lange her und 2. unterdessen derart geklärt, dass allgemeine Bildung zugunsten der beruflichen (und Gewinn bringenden) Ausbildung in den Hintergrund gedrängt wurde.
Freerk Huisken: Solche sozialneidischen Betrachtungen wie die über den Florida-Rolf erklären, wofür die Stütze nicht gedacht ist: für ein erträgliches Leben. Aber nicht das “Ausnutzen” des Sozialstaates ist ein Skandal, der Sozialstaat ist es selber. Er ist der Flickschuster des Kapitalismus. Und gegenwärtig wird der Sozialstaat abgebaut, um die Profite zu erhöhen. Es ist absolut wichtig, dass sich Menschen zur Verteidigung ihrer sozialen Interessen zusammenschließen und etwas gegen den Sozialabbau tun. Falsch ist es aber, den Sozialstaat zu verteidigen, denn unter den marktwirtschaftlichen Verhältnissen geraten die Arbeitnehmer regelmäßig in Not und sind nicht in der Lage, aus dem eigenen Lohn die Löcher zu füllen, denn der Lohn reicht kaum, den Arbeitsalltag erträglich zu finanzieren. Der Sozialstaat ist zwar dazu da, die kronische Not zu bekämpfen, die jedoch notwendig für den kapitalistischen Reichtum ist. Aber er bekämpft nicht die Ursache für diese kronische Not. Die Auswirkung ist, dass immer mehr Menschen, für die keine Arbeit vorhanden ist, auch aus dem Sozialstaat geworfen werden. Durch Hartz und die Agenda 2010 geraten immer mehr Menschen in Armut. Die Auswirkung der Armut ist, dass sie in die Kriminalität getrieben werden. Aber diese Armut ist produktiv für den Kapitalismus.
Michael Hartman, SPD-MdB: Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas an einer deutschen Universität noch gelehrt wird. Aber nun zurück zur Realität. Die Verunglimpfung der Reformen zur Rettung des Sozialstaates aus verschiedenen politischen Richtungen haben ungeahnte Ausmaße angenommen. Seit dem Bestehen des Sozialstaates hat die Arbeiterklasse einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt. Das hat uns allen genutzt, auch den Kapitalisten, andere Systeme sind zusammengebrochen. Schröders Agenda ist ein guter Ansatz. Wir müssen unsre Systeme für die Globalisierung wetterfest machen. Trotz staatlicher Arbeitsbeschaffung ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, sie haben also nichts gebracht, daher ist die Agenda 2010 nötig. Unsere Zukunft liegt in der Bildung und der Ausbildung, dort müssen wir investieren. Und um allen Leuten eine Chance zu geben, voranzukommen, müssen wir schon in der frühkindlichen Erziehung ansetzen. Da ist das vorhandene Geld zukunftsträchtig zu investieren, während es in Beschäftigungsprogrammen verschwendet wird, weil sie dort nichts bringen. Wichtig ist auch, Deutschland als Friedenmacht zu stärken. Wenn wir nicht regieren, werden Sie von ganz anderen Leuten regiert, nämlich von Merz, Westerwelle und Co. Wir schaffen ein vernünftiges Fundament für die Zukunft.
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum Frankfurt: Vernünftiges Fundament? Ich sehe nur, dass durch das Arbeitslosengeld II die Arbeitslosenhilfe gestrichen wird und die Sozialhilfe gesenkt wird. 345 Euro im Monat und noch “angemessene Mithilfe”. Das hat auch Auswirkungen auf die Löhne und Gehälter, denn die Sozialhilfe funktioniert als Mindestlohn, und die wird ja gesenkt. Und wenn man dann nichts findet, gibt es Arbeitsgelegenheiten zu 1,50 Euro die Stunde. Das ist eine andere Form des Arbeitsdienstes. Dagegen müssen breite Bündnisse geschaffen werden um einen großen Druck von der Straße her zu erzeugen, der so groß ist, dass die Agenda 2010 gekippt wird. (Applaus)
Professor Stefan Hradil, Soziologe an der Mainzer Uni: Man kann natürlich sagen, der Skandal ist, dass der Reparaturbetrieb Sozialstaat nötig ist. Aber die Leute wollen den Sozialstaat und den Kapitalismus, er hat zum sozialen Frieden beitragen und der Wirtschaft genutzt. Jeder Euro, der sozial ausgegeben werden soll, muss jedoch verdient werden, und da gibt es Änderungen im Weltmaßstab, wir haben zudem weniger Leute, die das verdienen und mehr, die der Leistungen bedürfen. Um den Sozialstaat zu retten benötigen wir 3 Änderungen:
1. Die Basis der Beitragszahler muss erhöht werden.
2. Die Leute müssen mehr für sich selbst sorgen
3. Soziale Leistungen müssen gekürzt werden, auch wenn das unpopulär ist.
Von den Reichen zu nehmen, das würde quantitativ nicht ausreichen. Und die Gewinne des Produktivitätsfortschrittes in die sozialen Sicherheitssysteme zu stecken, statt zu investieren, heißt, den eigenen Ast abzusägen. Sie müssen in neue Investitionen fließen.
Professor Freerk Huisken, Politische Ökonomie an der Uni Bremen: Also ich muss doch noch auf den SPD-Abgeordneten Hartmann eingehen. Wie kann man heute bei mindesten 5 Millionen Arbeitslosen von einem Aufstieg der Arbeiterklasse reden. Ja, es gab ein riesiges Wirtschaftswachstum und gibt ihn gegenwärtig, aber auf Kosten der Arbeiterklasse. Ich halte es für eine Unverfrorenheit, die Agenda 2010 als Fortschritt anzupreisen. Sie hat in Wahrheit eine Erpressungsfunktion, das mit ihr der Abbau des Arbeitslosengeldes radikalisiert wird. Vergessen wir nicht die Zumutbarkeitsregeln, die von einem Arbeitnehmer verlangen, jede Arbeit auch über weite Entfernungen hin zu übernehmen. Ja, ich stimme Herrn Rein von der Arbeitsloseninitiative zu, die Verelendung ist vorprogrammiert, Die Agenda ist ein Mittel zum Lohndrücken. Die immer größere Arbeitslosigkeit, Krankheit, Rentensenkung, das alles dient der Verelendung des Berufstätigen. Die Agenda 2010 ist kein Sparprogramm, sondern ein Programm zur Beförderung der Volksarmut als Mittel der Standortkonkurrenz, und dazu braucht man dann eben auch gegenüber anderen Staaten die hübschen “Friedensmittel”. (Viel Applaus)
Moderator: Herr Hartmann, das war direkt an Sie gerichtet
Michael Hartman, SPD-MdB: Wir helfen niemanden durch solche Schlagworte. Dann ruft doch gleich für die Weltrevolution auf ... (tosender Applaus aus dem Publikum!) ... aber das wird von den Massen nicht aufgenommen. (Gelächter aus dem Publikum) Der Skandal ist die zu hohe Arbeitslosigkeit. Wir haben eben eine enorme Produktivitätssteigerung. Wollen sie denn zurück zur Natur? Hinzu kommt das Problem, dass die Menschen glücklicherweise immer älter werden und daher mehr Zuwendung brauchen, und da kostet eben Geld.
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum: Weltrevolution? Warum denn nicht? Die Produktivitätssteigerung ist ja positiv, wenn dadurch die Menschen nicht verdrängt werden.
Moderator: An welche Alternative denken Sie? Ein staatlich garantiertes Grundeinkommen?
Harald Rein, Arbeitslosenzentrum: Ein allgemeines Grundeinkommen würde viele Kontrollkosten überflüssig machen. Arbeitslose sind nicht ohne Arbeit, sondern ohne bezahlte Arbeit. Sie arbeiten zu Hause, helfen in Vereinen und Initiativen mit ...
Moderator: Was sehen Sie als Alternative zur Regierungspolitik an Herr Professor Hradil?
Professor Stefan Hradil, Soziologe an der Mainzer Uni: In Alternative zur gegenwärtigen Regierungspolitik muss die Regierung ein Konzept haben und auch vertreten. Die Leute sind bereit dazu, Kürzungen hinzunehmen, wenn sie wissen, wofür. Sie könne nicht fordern dass die sozialen Leistungen erhalten bleiben, weil die Jugend das bezahlen muss, und hier sehe ich viele Jugendliche. Sie werden das alles bezahlen müssen. Wenn Rentner wegen weniger Kürzungen demonstrieren, sind dies die falschen Signale. In Wirklichkeit müssten die Jugendlichen gegen die Rentner demonstrieren. (Einige klatschen auch dabei.)
Ich bin bei diesem Stand der Diskussion zurück zu unsrem Infostand gegangen, wo Renate tapfer die Stellung gehalten hatte, nun die Möglichkeit bekam, sich etwas zu Essen zu kaufen, ein bisschen Spazieren zu gehen und dann von mir berichtet zu bekommen, um was es überhaupt bei der Veranstaltung gegangen ist. Um was ging es? Dieser Professor Stefan Hradil hat hier die Position der CDU/CSU/FDP-Opposition vertreten, es entsprach den Aussagen von Merkel, März, Stoiber und Westerwelle. Der SPD-Abgeordnete Hartmann warb natürlich für die rotgrüne Regierungspolitik und verteidigte sie. An der Argumentation von Hradil lässt sich auch erkennen, dass die zukünftige CDU/CSU/FDP-Bundesregierung keine anderen Vorstellungen über die Richtung der Regierungspolitik hat als die gegenwärtige, nur noch krasser vorgehen will, denn sie will dies alles noch ideologisch rechtfertigen. Und eine solche Ideologie kann nur rechts sein. Er sagte ja wörtlich: “In Alternative zur gegenwärtigen Regierungspolitik muss die Regierung ein Konzept haben und auch vertreten. Die Leute sind Bereit dazu, Kürzungen hinzunehmen, wenn sie wissen, wofür.” Wer also nicht für weitere Verarmung der arbeitenden Bevölkerungsanteile ist und weiterer Verelendungen der aus dem Arbeitsprozess rausgedrängten immer größer werdenden Bevölkerungsanteile, auf den wird dann die Volkswut gehetzt, darauf kann man sich gefasst machen, wie das ja schon aus den entsprechenden Bild-Kampagnen zu erkennen ist und aus der bekannten Frauenfreundschaft zwischen Merkel und Springer hervorgeht.
Professor Huisken und der Sprecher der Arbeitsloseninitiative Rein stellten eine linke Opposition dar, die aber nicht in unseren Parlamenten, wohl aber im Publikum reichlich vertreten war/ist. Insgesamt war die Debatte anregend und interessant, wurde aber zum Ende hin etwas niveauloser.
Aus dem Publikum kam zum Beispiel dauernd und wiederholend der Vorschlag, das Geld abzuschaffen, und alle Probleme seien weg. Nur mit Geld könne die Marktwirtschaft funktionieren. Wer so argumentiert weiß nicht viel über die Geschichte des Geldes, als vor der Erfindung der Münzen die Leute einfach mit Sachwerten tauschten und Ziegen oder Metalle als Geld nahmen. Die ersten Münzen hatten das Gewicht des Metalls aufgeprägt und das Siegel einer Obrigkeit, was die Richtigkeit der Angaben bestätigte. Und die Metalle hatten den Wert der zur ihrer Herstellung benötigten Arbeitszeit. Wir nennen das heute den Herstellungswert, der ursprünglich in zeit gemessen wurde. Dann gibt es noch einen Gebrauchswert, der vielfach subjektiv ist, schließlich noch einen Tauschwert, der (eingeschränkt) nach Angebot und Nachfrage funktioniert. Einfach durch das Abschaffen des Geldes wieder zu wahren Warenwerten zu kommen, nämlich den Herstellungswerten, das halte ich für unrealistisch. Geld ist nicht nur der Garant eines brutalen Wirtschaftsverhältnisses und ein Symbol von Ausbeutung und Betrug, es ist auch schlicht eine Recheneinheit.
 
Samstag, 16 Uhr, auf der Mauer: Sachzwang und Gemüt (Lesung von Thomas Ebermann und Rainer Trampert)
Hier habe ich nur kurze Zeit gesessen, dem Anfang der Lesung zugehört. Nicht dass mir das nicht gefallen hätte, im Gegenteil. Aber man kann den Wortwitz der beide hier nicht so weitergeben, das ihr LUST-LeserInnen auch davon profitieren könnt. Und wenn ich schreibe: “Es war klasse!” könnt Ihr das natürlich nicht ebenso Klasse empfinden. Das müsst Ihr Ecu schon selber anhören, wenn es geht. Ich hatte schon einmal darüber berichtet, dass die beiden eine solche Lesung unter dem Titel: “Verpasst Deutschland den Anschluss”? vorgetragen haben. Zu ihrem jetzigen Thema “Sachzwang und Gemüt” meinte Ebermann, dass heutzutage für den modernen Menschen hier ja gar kein Widerspruch existieren sollte: “Was gemacht werden soll, ist auch das Schönste”. Denn die Moral heiße ja “Ich arbeite, also bin ich. Ich arbeite nicht, also bin ich schuldig.”
Also bin ich lieber wieder zum Infostand gegangen, um mich über die sportlich engagierten jungen Leute vom Nachbarstand zu ärgern, die ständig vor uns umherhüpften, kleine Bälle mit den Füßen umhertraten, irgendwelche Federbüsche umherschwangen und andere seltsame Bewegungen dabei vollführten, so dass niemand Interessiertes überhaupt zu uns kommen könnte, ohne eine Hand, einen Fuß, einen umher flatternden Haarwust oder Federbüschel oder einen Ball an den Kopf zu bekommen. Und dabei sahen sie noch nicht einmal so gut aus, wie sie das wohl zu glauben schienen.

Sonntag, 12 Uhr, auf dem Drususstein: Arbeit macht das Leben süß ... süß wie Maschinenöl
Visionen und Alternativen zur Arbeitsgesellschaft. Welche Alternative zur bestehenden Arbeitswelt gibt es? Wie nachhaltig sind verschiedene Reformen von Arbeit und welche Arbeit braucht die Gesellschaft überhaupt?
Von links nach rechts:
1. Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung
2. Professor Dr. Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena
3. Volker Panzer, Journalist (ZDF) als Moderator
4. Sahra Wagenknecht, PDS-Bundesvorstand, Sprecherin der Kommunistischen Plattform
5. Darwin Dante, Autor des Buches “5 Stunden sind genug”
Auf der Bühne sind neben dem (aus unserer Sicht) rechts sitzenden Redner (Darwin Dante) große Tafeln aufgebaut. Der Moderator Volker Panzer vom ZDF ist deutlich kein Gesprächsleiter, sondern ein Moderator, wie wir ihn aus diesen Medien kennen: Er kommentiert, wertet, strukturiert, so als sei er der Mittelpunkt des Gespräches und alle reden nur zu ihm.
Volker Panzer, Moderator: Was heißt eigentlich Arbeit? Das Arbeit kaufen und verkaufen, das gibt es doch ursprünglich erst, seit es fossile Energien gibt.
Michael Opielka, Universität Jena: Tja, was ist Arbeit. Ich habe mich gefragt, ob das Arbeit ist, was ich hier nun mache. Arbeit hat mehrere Merkmale. Sie ist 1. Die wirtschaftliche Basis des Lebens, 2. Gegenseitige Verpflichtungen eingehen, 3. Selbstverwirklichung (Teil der Lebensgeschichte, soziale Beziehungen eingehen.). Ich nenne das Familienarbeit, die ist soziale Verpflichtung, sie ist auch soziale Beziehungen, und auch das Geld kann hier eine Rolle spielen. Aber im Wirtschaftsleben stellen sich ja noch weitergehende Fragen, nämlich, wer hat das Geld, Arbeit zu kaufen? Wer entscheidet über den Zugang zur Arbeit?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es die Erwerbsarbeit und dort eben entweder den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer. Aber Abgrenzungen zwischen den Bereichen, die über die Erwerbsarbeit hinausgehen werden immer brüchiger. Und die klassische Einteilung zwischen der fremdbestimmten Erwerbsarbeit und der selbstbestimmten Familienarbeit ist zunehmend nicht mehr aufrecht zu erhalten. Aufgrund der Produktivität ist immer weniger Erwerbsarbeit vorhanden.
Volker Panzer, Moderator: Frau Wagenknecht, in der DDR gab es doch Vollbeschäftigung und keine Arbeitslose. Wie wurde dort die Arbeit definiert?
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Ja, es gab Vollbeschäftigung und keine nennenswerte Arbeitslosigkeit, aber die Arbeit blieb auch in der DDR entfremdet. Es war von anderen Lebensbereichen abgetrennte Arbeit zum Erwerb. Aber Arbeit ist mehr, als nur der Bereich, der von den Kapitalisten in Form von Erwerbsarbeit abgefragt wird. Arbeit hat den Menschen überhaupt erst zum Menschen gemacht. Also, Arbeit ist viel mehr als die Erwerbsarbeit und auch die Familienarbeit. Die Technik macht es möglich, dass zunehmend stupide Arbeit nicht mehr nötig ist.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Gibt es denn auch eine nichtentfremdete Arbeit? Wir haben uns die Frage zu stellen, wie viel Arbeit überhaupt noch vorhanden ist. Wir befinden uns in der letzten industriellen Revolution und der Mensch wird aus der Industriearbeit verdrängt. Bald kommen wir mit einer Fünfstundenwoche aus. Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Während Politiker immer noch versprechen, die Arbeitslosigkeit senken zu können oder gar die Vollbeschäftigung ansteuern, wissen Experten, dass die Gesellschaft vor einem epochalen Wandel steht. Mitte dieses Jahrhunderts werden nur noch 20 % der arbeitenden Bevölkerung erwerbstätig sein, die anderen werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Umdenken ist notwendig: Wir benötigen eine güterwirtschaftliche Gesellschaft, die basisstrukturiert ist. Die Hälfte aller gearbeiteten Stunden hat es was mit dem Geld, seiner Verwaltung, dien Organisationen zum Schutz der Geldwirtschaft zu tun. Viele Stunden haben nur etwas mit dem Erhalt dieser Ordnung zu tun und viele Stunden Arbeit werden benötigt, damit mit der Produktion von Gütern Geld gemacht werden kann, die eine längere Lebenszeit hätten ...http://www.5-stunden-woche.de

Volker Panzer, Moderator: (unterbrechend) Arbeit ist vor allem Lohnarbeit. Aber wie viel gearbeitet wird, wer arbeitet usw., wer entscheidet das alles?
Michael Opielka, Universität Jena: Die Industriearbeit sinkt tatsächlich, aber nicht nur wegen der zunehmenden Produktivität, sondern auch durch Outsorcing in den Dienstleistungsbereich wo dann neue Arbeit entsteht.
Volker Panzer, Moderator: Aber irgendwo muss doch die Wertschöpfung geschehen?
Michael Opielka, Universität Jena: Die maximale Wertschöpfung geschieht durch Arbeit. Und dass die automatisierten Maschinen alle Arbeit verrichten (an Dante gerichtet), ist für den Bereich der Güterproduktion richtig. Aber bei den Dienstleistungen gibt es Bereiche, das sind Menschen notwendig. Da geht das nicht so gut. Aber was die güterwirtschaftliche Gesellschaft betrifft, wenn es kein Geld gibt, nehmen die Leute vielleicht Ziegen als Zahlungsmittel. Wollen wir denn die Industrieproduktion lassen und im Gras leben?
Volker Panzer, Moderator: Es gibt viele alternative Vorstellung zur kapitalistischen Wirtschaft, Warum hat dieser Kapitalismus denn diese Beharrungskraft? Wer entscheidet über die Wirtschaftsordnung?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Was die Menschen für Bedürfnisse haben, entscheidet darüber, was und wie gearbeitet wird. Es sind die Leitbilder der Gesellschaft und die Menschen befolgen sie. Bedürfnisse werden in der Marktwirtschaft befriedigt und die Menschen wollen es so.
Volker Panzer, Moderator: Frau Wagenknecht, wer entscheidet, was und wie produziert wird?
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Der Kapitalismus berücksichtigt nur Bedürfnisse, die ihm Geld bringen. Aber heute gibt es viele Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden, im Bereich der Bildung, wir bräuchten viel mehr Lehrer, im Bereich der Medizin usw.
Volker Panzer, Moderator: Herr Dante, sie gehen mit ihren Anhängern als Wanderprediger durch das Land und werben für die Fünfstundenwoche. Wollen Sie denn wirklich im Gras leben?
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Luxus und Lebensstandart bleiben erhalten. Ich bin für die Produktivitätssteigerungen in der Wirtschaft, sie ermöglichen ja die Vollautomatisierung bei fast vollständigen Arbeitsverzicht.
Aus dem Publikum: Wie sollen denn die Dinge organisiert werden, wenn die Geldverhältnisse wegfallen, die unsere Länder zu den reichsten Ländern machen, in denen diese Vollautomation bei Arbeitsverzicht möglich ist?
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Also, das ist eine gute Frage. In Marokko sind z.B. 65% der Menschen arbeitslos. Andererseits gibt es ein Überangebot an Gütern, die vernichtet werden, bei einem Überangebot an Arbeitskräften ...
Volker Panzer, Moderator: Wir haben 4 bis 5 Millionen Arbeitslose. Die Unternehmen gehen in Billiglohnländer. (Zuruf aus dem Publikum: das ist die Geldwirtschaft!) Es gibt vielerlei Vorstellungen, dies zu ändern. Was ist von dem neuen Prinzip zu halten, dass jeder Bürger eine Grundsicherung erhält?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Eine Realutopie, wenn sie geteilt wird, kann sie realisiert werden. Dass jeder einen Anteil an der Erwerbsarbeit erhält, das funktioniert immer weniger. Eine Grundabsicherung, abgeleitet aus dem Bürgerstatus, ist gut. Aber, wer legt die Höhe fest?
Michael Opielka, Universität Jena: Die Idee der Grundabsicherung ist nicht jung und sie ist richtig. Dazu gibt es verschiedene technische Möglichkeiten, zum Beispiel das Kindergeld, eine Grundrente, das Arbeitslosengeld, das Erziehungsgeld, das Krankengeld, die Sozialhilfe von der Lohnarbeit abzukoppeln und in eine Grundsicherung zu überführen. Aber die gesamte Existenzsicherung von der Lohnarbeit abzukoppeln, das wollen die Eliten nicht. Dennoch, mit dem existierenden alten Modell dränge ich viele Menschen aus der Gesellschaft. Die Umorganisierung ist eine Frage der Demokratie und keine wirtschaftliche Frage alleine. Was die Frage der Basisdemokratie betrifft, es geht um die Verteidigung des Wohlfahrtstaates gegen die Globalisierung, die den Staat handlungsunfähig macht. Der Wohlfahrstaat kann nur so lange funktionieren, wie der Staat Hoheitsrechte hat. Die Beteiligung der Bevölkerung durch Volksabstimmungen usw. kann ein gutes Mittel sein, die demokratischen und sozialen Wandlungsprozesse zu beschleunigen.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Die Frage ist, wie können wir basisdemokratisch den Lebensraum gestalten? Wenn die Mitbestimmungsrechte ausgedehnt werden, wird sich sehr schnell zeigen, dass die Bonzen überflüssig sind.
Volker Panzer, Moderator: Basisdemokratie und Volksabstimmungen? Die Gewaltenteilung ist ein wichtiger gesellschaftliche Fortschritt und ein Garant der individuellen Freiheit.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Fakt ist, dass wir tatsächlich weniger arbeiten könnten, wenn wir Dinge, die nur der Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse dienen, nicht mehr herstellen müssten. Aber dann werden neue Arbeiten auf uns zukommen, die sich daraus ergeben, dass dann all die in der Marktwirtschaft unterdrückten Bedürfnisse an des Tageslicht kommen werden.
Darwin Dante, (Pseudonym) Autor: Freiwillige Arbeit ist die schönste Arbeit, auch die Kapitalisten werden dann Spaß am Leben bekommen. Es geht um Zeit statt um Geld.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Zeit ist die Marxsche Maßeinheit für Arbeit. Die Menschheit hat genügend technische Möglichkeiten, alle soziale Not zu beenden. Aber immer werden wir dazu Geld benötigen. Und das haben unter den gegebenen Umständen einige Wenige in ihren Händen.
Michael Opielka, Universität Jena: Geld ist Freiheit. Aber wessen Freiheit? Und der Kapitalismus nutzt das menschliche Freiheitsbedürfnis aus. Mindestens genau so wichtig ist aber auch Politik und Kultur. Die Politik muss die Zugänge dazu realisieren. Geld und Demokratie sind Freiheitsmotive. Wenn kein Geld da wäre, würde ich 5 Kamele dazu nehmen. Wir setzen alle auf die Maschinen? Wir müssen auch die Schwächen der Maschinen beachten. Und dann, wem gehören die Maschinen?
Volker Panzer, Moderator: Können wir Menschen denn eine bessere Welt erreichen? Was ist der Mensch, welches Menschenbild haben Sie?
Sebastian Brand, Wissenschaftszentrum Berlin: Hinter der Agenda 2010 steht die Frage des Menschenbildes: Menschen brauchen einen Anreiz zur Arbeit. Mittel zur Grundsicherung werden nicht bedingungslos verstreut.
Michael Opielka, Universität Jena: Verschiedene Menschenbilder haben ihre Berechtigung. En Teil der Menschen benötigt ja auch den Anreiz. Das ist nicht negativ. Wir sind ja auch an Gleichheit interessiert, wir wollen auch Leistungen erbringen, daraus sind Konsequenzen für den Arbeitsmarkt zu ziehen.
Sahra Wagenknecht, Kommunistische Plattform: Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, dass er seine Umwelt nicht so belässt, sondern sie verändert. Das kann gut sein oder schlecht. Wie er die Gesellschaft ändert, das hat etwas mit der Gesellschaftsordnung zu tun, zum Beispiel: wonach wird geforscht? Der Mensch ist zu allem fähig. Also auch zum Positiven. Was jeweils dominiert, ist eine gesellschaftliche Frage. Wenn die Gesellschaft verändert wird, wird der Mensch nicht plötzlich gut, denn das ist ein Entwicklungs-prozess.
Michael Opielka, Universität Jena: Keiner hat die Wahrheit, die Verhältnisse helfen uns, gut zu sein oder auch nicht. Patentrezepte machen mich misstrauisch. In nächster Zeit geht es darum, das Grundrecht der gesellschaftlichen Teilhabe für alle zu erkämpfen.
 
An dieser Stelle habe ich die Diskussion verlassen und bin zu unserem Infostand gegangen, denn ich wollte Renate nicht so lange dort alleine sitzen lassen. Mir ging durch den Kopf, dass ich von jeden von ihnen eigentlich gerne mehr gehört hätte, denn Alternativen zu dem, was im Moment läuft, sind ja richtig und wichtig. Und da die Menschheit schon ihre Erfahrungen gemacht hat, mit solchen Gestalten, die das eine Allheilmittel für alles haben, sind recht verschiedene Alternativen nur sehr gefragt.
Besonders gut fand ich den Einwand gegen die direkte Volksdemokratie und dem Lob der Gewaltenteilung, denn Lesben und Schwule kennen das Gefühl, wenn plötzlich alle gegen uns sind, und scheinbar gute Gründe dafür zu haben glauben, zum Beispiel, weil wir gegen die Natur seien, weil wir Kinder verführen würden, weil wir Sitte und Anstand gefährden würden und andere Dinge dieser Art. Und da ist eine möglichst neutral auftretende Instanz, die kühles Blut bewahrt und Tatsachen untersucht, schon wichtig. Ich erinnere an die absurden Verdächtigungen in Mainz. Eine engagierte Kindergärtnerin meinte, überall Kindesmissbrauch zu sehen, und diese Geschichte ging dann breit durch die Medien. Erzieher, Väter und Mütter, auch Großmütter gehörten scheinbar zu einem Kindermissbraucherring. Durch den Entzug der Kinder und den eifrigen Darstellungen in dem Medien wurden Familien zerstört und wirtschaftliche Existenzen ruiniert. Am Ende kam nach richterlicher Untersuchung raus, dass gar nichts dran war, an den Vorwürfen. Damit will ich nicht sagen, dass es dieses Verbrechen nicht gibt. Nur, die betroffenen Menschen sind da in etwas reingeraten, mit dem sie nicht umgehen konnten und wogegen sie sich nicht wehren konnten. Und ich habe erfahren, dass in linken autonomen Kreisen, als es darum ging, einen engagierten Anwalt zu finden, dieser engagierte Anwalt, der linken Leuten kostenlos hilft, abgelehnt wurde, er sei ein Schwein, weil er (in dem oben beschriebenen Vorgang) Kinderschänder verteidigen würde. Also, so kann es gehen, wenn da niemand ist, der untersucht, ob wirklich etwas dran ist, sondern alle sofort verurteilen. Bei einer direkten Demokratie ist die Gefahr sehr groß, dass ganz schnell irgend etwas durchgepeitscht wird, was sich dann später als grober Fehler erweist, der dann aber nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
 
Sonntag, 16,30 Uhr, Kleines Zelt: Rechenstunde zur Grundsicherung
In einer Veranstaltung stellte Professor Opielka eine Versicherung vor, angelehnt an die Schweizer Rentenversicherung.
1. Professor Dr. Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Jena
2. Dr. Herbert Buscher, Institut für Wirtschaftsforschung, Halle
3. Volker Panzer, Journalist (ZDF) als Moderator
Hier stellte also der Jenaer Professor Michael Opielka seine Grundsicherungsversicherung vor, mit der er einerseits erste Schritte in Richtung auf ein staatliche Grundgehalt für alle gehen will, das andererseits die Probleme der Sozialversicherungen lösen soll, einschließlich des demographischen Faktors, wie auch das Problem der staatlichen Zuzahlung, und dann sollen auch noch großzügige Übergangslösungen angeboten werden, weil dann ja noch alte Sozialversicherungsansprüche bestehen würden. Schließlich sollen auch noch die Lohnnebenkosten gesenkt werden oder gar wegfallen. Dies alles soll nun erreicht werden mit einer vom Opielka errechneten Grundsicherungesversicherung, in der Kindergeld, BaFög, Krankengeld, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, schließlich noch die Rente untergebracht werden soll. Übrig bleibt die Krankenkasse und die Pflegeversicherung, weil diese eben für andere Kosten Aufkommen müssen statt für Lohnersatzleistungen. Einzahlen sollen alle, die Einkommenssteuer bezahlen müssen, also auch Unternehmer und auch die Beamten.
Mit 17,5% von jedwedem Einkommen ohne irgendeine Beitragsbemessungsgrenze soll also jeder Bürger einzahlen, und dies habe dann den Charakter einer Sozialsteuer. Geboten bekäme jeder Bürger in den Fällen, wo eine Lohnersatzleistung nötig ist, unabhängig seiner Einzahlungen eine Grundsicherung von 640 € im Monat. Wer längere Zeit und sehr hoch einzahlt könnte nicht mehr als den doppelten Betrag , also 1.280 € erhalten. Ein solches Arbeitslosengeld würde ohne zeitliche Begrenzung gezahlt, ebenso das Krankengeld usw. Über diese umlagefinanzierte Grundsicherung hinaus könnte sich natürlich jede(r) privat kapitalgedeckt weiter versichern. Diese Grundsicherung hätte den Vorteil, dass sie von den Arbeitskosten getrennt sei. (http://www.boell-bremen.de/dateien/67ab35ba51629909b01c.pdf)
Volker Panzer, Moderator: Herr Professor Opielka, Sie sind Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Geschäftsführer des Institutes für Sozialökologie in Königswinter und Lehrbeauftragter am Seminar für Soziologie der Universität Bonn. Sie sind außerdem Autor des Buches “Grundrente in Deutschland, Sozialpolitische Analysen”. (Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 16,90€). Und dort stellen Sie ihr Modell des Grundsicherungseinkommen vor.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: ja, ich plädiere für eine Grundeinkommensversicherung. Der Sozialstaat ist in einer Umbruchsphase, die Reformmodelle sind neoliberal und lassen den einzelnen mit vielen sozialen Problemen alleine.
Volker Panzer, Moderator: Herr Dr. Buscher, Sie haben an der FU Berlin Volkswirtschaftslehre studiert und dort auch promoviert. Bis März 2002 waren Sie stellvertretender Leiter des Bereichs Arbeitsmärkte am ZEW Mannheim. Seit April 2002 leiten Sie die Abteilung Arbeitsmärkte am Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Wie stehen Sie zum Sozialstaat und den Reformen?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: Es gibt einen grundlegenden Gegensatz im Verständnis über die wirtschaftlichen Aufgaben des Staates. Die einen meinen, der Staat ist für uns verantwortlich, die anderen, Jeder ist für sich selbst verantwortlich und den Staat soll nur in Notfällen eingreifen. Der heutige ausufernde Sozialstaat ist eine Fehlentwicklung und muss zurückgebaut werden. Wir haben auch nicht mehr wegen der Globalisierung die Freiheit der Wahl in dieser Frage.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: Ihr angeblichen neoliberalen Realisten lauft einer falschen Utopie nach. Der Neoliberalismus ist eine Unternehmerillusion. Die These der individuellen Leistung und ist durch die moderne gegenseitige Vernetzung längst als ein Phrase entlarvt worden. Sie sind doch auch nicht alleine durch Ihre Leistung und Ihr eigenes Tun zu Ihrem Posten gekommen.
Volker Panzer, Moderator: Herr Doktor Buscher, ist unser Sozialsystem reformierbar und wenn ja, wie?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: das System hat sich gewehrt, besonders die Gewerkschaften. Aber Änderungen sind dringend nötig. Immer weniger Menschen zahlen für immer mehr Menschen und höheren Koste. Deshalb muss es reformiert werden. Aber der Vorschlag von Herrn Opielka geht in die falsche Richtung. Er schlägt wieder kein kapitalgedecktes System vor. Die Krankenkasse und die Pflegeversicherung sind ausgespart und Arbeitslosengeld soll man erst bekommen, nachdem man 3 Jahre lang eingezahlt hat. Wer viel einzahlt, bekommt auch nur wenige mehr als die Grundsicherung, und die Grundsicherung ist niedriger als die Ansprüche heutiger Sozialgeldempfänger.
Volker Panzer, Moderator: Also eine allseitige Einsparung? Unterscheidet sich das Modell von den Vorstellungen eines Herrn März? Und rechnet es sich?
Herbert Buscher, Wirtschaftsforscher: Als Ökonom muss ich sagen, es ist richtig gerechnet. Ja, es rechnet sich. Als Sozialpolitiker sehe ich das aber anders. In diesem Modell wird eine Zwangsversicherung vorgeschlagen, und das nach dem überholten Umlagesystem, was nicht mehr funktioniert. Besonders die Besserverdienenden werden es nicht einsehen, dass sie 17,5% für eine derart mickrige Grundrente bezahlen sollen.
Michael Opielka, Wirtschaftswissenschaftler: Das Umlagesystem ist doch durchaus vernünftig, wenn die gesamte Bevölkerung mit einbezogen wird. Bei einer Grundsicherung von 640 Euro käme eine Grundrente von 768 € zustande, das ist doch mehr als heute die Hälfte aller Rentner erhalten. Und wenn jemand bis zu seiner Arbeitslosigkeit keine 3 Jahre beschäftigt war, bekommt er trotzdem das Grundeinkommen, allerdings die Hälfte davon als Kredit. Dieses System entspricht dem Rentensystem in der Schweiz, das dort eine sehr hohe Akzeptanz hat, trotz der angeblichen Nachteile für Besserverdienende. Jeder Bürger zahlt dort 10,1% seines Einkommens in die Grundrente ein, der Mindestbeitrag ist 350 €, und bekommt dafür eine Grundrente von 427€. In meinem Modell sollen 17,5% bezahlt werden, das ist weniger als die Besserverdienenden und alle Arbeitnehmer derzeit zahlen, und es ist die Rente, das Erziehungsgeld, das Arbeitslosengeld, die Sozialhilfe, das Krankengeld darin enthalten. Und wenn jemand Lust hat, sich selbst zu verwirklichen statt zu arbeiten, bekommt er das auch, allerdings zur Hälfte als Kredit.
 
War es das?
Ich habe dann die gegenseitigen Rechnungen der beiden Herren nicht mehr mitgeschrieben, jedoch gespannt zugehört, denn man muss es selber einmal sehen, um beurteilen zu können, ob dies ein vernünftiges System ist. Und als dann die ganzen Diskussionsbeiträge aus dem Publikum kamen, bin ich schnell zu Renate gegangen, um sie nicht alleine sitzen zu lassen. Das Modell aber scheint mir schon diskussionswürdig zu sein.
Am Montag wollte ich noch zu “Der Arbeit gehört die Zukunft” um 11 Uhr im Kuppelzelt gehen, eine Diskussion mit einer Berufsberaterin der Bundesagentur für Arbeit, aber vorher kam Gernot von der Friedensinitiative vorbei und wir diskutierten an unserem Infostand über verschiedene Formen des Nationalismus bzw. Patriotismus, so dass wir alle die Zeit vergaßen.
Und auch das ist einer der Vorzüge dieses Festivals. Man hat Gelegenheit, sozusagen über Gott und die Welt mit den unterschiedlichsten Menschen zu diskutieren, weil das Klima einfach zu vielen Gesprächen einlädt. Kaum findet ein thematisches Gespräch statt, gesellen sich andere FestivalteilnehmerInnen dazu und die Gespräche werden dadurch angeregt und befruchtet.
Ob es vielleicht möglich wäre, die Anzahl der Frauentoiletten zu erhöhen? Renate erzählte von unschönen Szenen, zum Beispiel vor der Behindertentoilette, wo sich Frauen in ihrer Notlage vor die Behinderten gedrängt hatten, die sich dagegen nicht wehren konnten. Auch das Verhalten von Frauen, die auf die Kabinen der Herrentoiletten wollten, war schon für die dort stehenden Männer recht irritierend, möchte ich noch hinzufügen.
Unter dem Strich muss ich sagen, dass es mal wieder ein rundes und schönes Pfingst-Festival auf der Mainzer Zitadelle war, zumal das Wetter in diesem Jahr ja auch mitgespielt hat. (js)
 
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