78. LUST, Frühling 04
 
Aggressionen gegen Minderheiten
von Manfred Keitel
 
Ende 2003 erschien ein Bericht von Walter Grode, (Quelle: www.kobinet-nachrichten.org, „die Verachtung gegenüber Minderheiten wächst“) der die Ergebnisse der Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung für das Jahr 2003 thematisiert. Der Text beschäftig sich damit, wie sich Grenzen der Normalität langsam verschieben. Eine „neue Normalität“ entsteht.
„Dies geschieht, so die Studie, vor allem dann, wenn drei Bedingungen zusammen wirken: Erstens eine gesenkte Hemmschwelle der Eliten, vorhandene Stimmungen gegen Schwächere populistisch zu nutzen oder zu verstärken. Zweitens eine Zustimmungsmentalität in der Bevölkerung, die populistisch aktivierbar ist.
 
Drittens die Existenz eines klar erkennbaren Aggressionsobjekts in Gestalt schwacher, deutlich kenntlicher Gruppen (sozialer Minderheiten) innerhalb der Gesellschaft. Diese drei Bedingungen sind inzwischen auch in Deutschland gegeben.(...) Auch selektive Unaufmerksamkeit, also Wegsehen bei gleichzeitiger Kenntnis der Normverletzungen - sei es mangels Courage, sei es aufgrund latenter Zustimmung - verändert Grenzlinien, fördert die Gewöhnung an verschobene Normen und erzeugt so allmählich eine veränderte Normalität.“ Zitat Ende.
 
Diese Normalität halte ich für vergleichbar mit einem Stammtisch, an dem fremden- und homofeindliche Sprüche und Ansichten kursieren, Täter sich - scheinbar - geborgen und sicher fühlen können. Was im Job oder anderen Zusammenhängen durch die aggressiveren Lebensbedingungen nicht mehr der Fall ist. Das ist Anlass für mich, die Ausführungen um meine Gedanken zu erweitern - vom Abstrakten zum Konkreteren.
 
Homophopie kann unter anderem auftreten, wenn Männer latent schwul sind oder Angst vor gleichberechtigten Frauen haben; da zwei Männer/Frauen als Paar die traditionelle Rollenverteilung in Frage stellen. Doch es gibt mindestens noch einen Grund, weshalb Homosexuelle diskriminiert werden, der weder von Sexproblemen noch vom Patriarchat herrührt, gehäuft in unsicheren Zeiten auftritt, wie Grode der Studie aus Bielefeld entnahm.
 
Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist „derart eng miteinander verknüpft, dass sie ein «Syndrom» bilden. Das bedeutet, dass die feindselige Mobilisierung gegen eine Gruppe ansetzt und später - je nach politischer Stimmung - auf andere Gruppen überspringen kann. Die Feindseligkeit bleibt - was wechselt, sind die Ziele: Jude, Homosexuelle, Muslime, Obdachlose - Frauen.“
 
Aufgrund meiner Betroffenheit beziehe ich mich hier auf Behinderung und Homosexualität; der Umstand, dass die Situation Behinderter wie ein Kontrastspiegel wirkt, der die Veränderung der Lebensverhältnisse für die restlichen Bevölkerung oft vorweg nimmt, kann dem Verständnis meines Artikels förderlich sein. So gibt es seit jeher untertarifliche Minimalbeträge als „Lohn“ in den „Werkstätten für Behinderte“ wo sie arbeiten „dürfen“; im Prinzip soll das nun auf Erwerbslose zukommen.
 
International gibt es Kulturen, in denen sich - mindestens - widerspiegelt, dass Behinderte in der Regel als erste stigmatisiert, fremdbestimmt, gesucht, getötet wurden und werden.
 
Die genauer untersuchten Beschönigungen von Benachteiligungen greifen oft weniger gut, da die radikale Ausgrenzung von Leuten mit Handicap Alltag ist, was aber auf die Behinderungen geschoben wird. Argumente gegen Leute mit Beeinträchtigungen sind häufig nicht so subtil wie die gegenüber Arbeitslosen, Homosexuellen, Transidenten, Sozialhilfeempfängern, ethnischen Minderheiten, Frauen, Obdachlosen, Punks, und andere, die als „Außenseiter“ zu Opfern werden können. Unter anderem weil behinderte Opfer wohl am schutzlosesten gegenüber Willkürmaßnahmen sind und wenig interessant für die Medien.
 
Das ganze „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003” (EJMB 2003) ist überregional fast unbemerkt verstrichen. Obwohl behinderte Menschen vielfältige, zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen durchführten, dabei natürlich versuchten die Presse zu mobilisieren, herrschte Funkstille.
 
Die aktuelle Situation
Es sind einige positive Veränderungen im Bezug auf die Möglichkeiten für behinderte Menschen eingetreten. Dazu gehören natürlich, dass öffentlich geförderte Räume unserer (Homo)Szene nun rollstuhlgerecht sein müssen, wenn sie Förderung erhalten wollen. Immer mehr behinderte Menschen können und wollen ihre Assistenz („Helfer“) selbst einstellen, können mehr über ihren Alltag bestimmen. Nichtbehinderte Menschen gehen - regional unterschiedlich - selbstverständlicher mit gehandicapten Bürgern um, der öffentliche Nahverkehr für Rollstuhlfahrer entwickelt sich.
 
Allerdings: etliche werden aus Kostengründen in Anstalten („Heime“) ohne bedarfsdeckende Versorgung gedrängt. Das Gefühl, wenn Kontakte zerbrechen, Hausrat und Erinnerungen aus der Wohnung in den Müll kommen, Lebenspläne zerschlagen sind, kann sich nur vorstellen wer einmal dorthin abgeschoben wurde. Für viele heißt das lebenslang. Mit Rollstuhl in einem engen Zimmer, wo schon das Wenden des Rollis schwierig sein kann, und isoliert in einer Gruppe zusammengewürfelter Bewohner.
 
Als Versuchsballon sah ich 2003 die Bestrebungen der Krankenkassen, ab 2004 das Kontingent an Behandlungen radikal herunterzusetzen. In der Praxis kann das bewirken,
- dass der Therapieerfolg bei Schlaganfallbehandlungen gleich Null ist, weil die Verschreibungen pro Quartal keinen Monat abdeckt
- dass andere, mit Lungenmuskelproblemen, früher und qualvoller ersticken
- - dass fortschreitende Behinderungen sich unumkehrbar verschlechtern, was tatsächliche den Auswirkungen von schwerer Körperverletzung entsprechen kann.
- dass Betroffene von fehlender Behandlung krank oder zusätzlich zu Schmerzpatienten werden.
- dass Menschen - die bloß verletzt waren - mit vermeidbaren Beeinträchtigungen leben müssen.

Die „Eliten“ haben den Aufmerksamen demonstriert, wie viel die Würde und Unversehrtheit behinderter Menschen wert ist!
Dennoch: Bewohner von Anstalten mussten aufgrund der neuen Zuzahlungsregelungen den ersten Monat dieses Jahres mit 11 Euro (!) organisieren. Von dem Betrag sollten sie sich Hygieneartikel, Zeitungen, Getränke außerhalb der Essenszeiten, Tabak, Kinobesuche und mehr leisten.
 
Außerhalb der Einrichtungen leben behinderte Menschen mit großem Bedarf an Assistenz bei gutem Verdienst - sofern sie Arbeit haben - schon lange auf dem Niveau von Sozialhilfeempfängern. Ihr Einkommen wird ihnen abgenommen. Größere Anschaffungen sind nur mit Verschuldungen über Ratenzahlungen möglich. Für Nichtbehinderte vergleichbar wäre eine Situation, in dem sie öffentliche Leistungen in ihrer Wohngegend privat zahlen müssten.
 
Auch die physische Gewalt von Nichtbehinderten gegen Menschen mit Handicap scheint zuzunehmen, wie mir die Fälle in Artikeln aus einschlägigen Nachrichten im World Wide Web signalisierten.
 
Eine behinderte Frau in Rostock, die das Arbeitgebermodell beim Sozialamt beantragte, wurde von Sozialamtsmitarbeitern die vor ihrem Haus standen, beobachtet, um Gründe zu finden ihr Leistungen zu verweigern. “Sie wird (...) behördlicherseits beobachtet, muss ständig Rechenschaft über ihr Leben abgeben, darstellen, warum sie sich wo aufhält und sich ständig begutachten lassen” (Zitat Elke Bartz, Forsea)
 
Zu allem Übel wurde sie noch von drei Jugendlichen angegriffen: vier Rollstuhlräder wurden zerstochen, sie wurde an ihrer Hand verletzt, die Jacke zerrissen und ihre Brille zerstört. Behinderte werden wieder öfter ausgeraubt, mehr gequält, häufiger verwundet als in den letzten Jahren. (Quelle: www.forsea.de)
 
Durch den “Segen” der eingetragenen Partnerschaft kann es in Zukunft sein, dass sich Lesben und Schwule – gleich ob verpartnert oder nicht - wieder gut tarnen müssen und sich bloß heimlich lieben dürfen, weil ein Partnerteil einen hohen Assistenzbedarf hat. Die Gesetzeslage treibt beide in das finanzielle und somit das soziale Aus und die gegenseitige Abhängigkeit wird verstärkt, weil Ämter Zahlungen für die Assistenz verweigern, sich dabei auf Regelungen berufen können. „Gay Pride“ wird so zur hohlen Phrase, ohne Entsprechungen im Alltag.
 
Da Behinderungen in der Regel durch Unfälle oder Krankheiten entstehen, hätte das bei frisch Schwerbehinderten und ihren schwulen oder lesbischen Partnern die gleichen Tragödien wie bei verheirateten Heteros in der gleichen Lage zur Folge, das Leben wäre möglicherweise ruiniert.
 
Jüngst ist in Berlin von Dr. Gerhard Landsberg (geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes) im Gespräch, das “Lebensrisiko” Behinderung privat zu versichern, um Leistungen zur Eingliederung zu erhalten, die noch gewährt werden. “Wer die Verdoppelung der Betroffenenzahl als Schreckgespenst an die Wand malt, rückt uns – die Anspruchsberechtigten – in die Nähe von Tätern“ (Ilja Seifert, PDS). Auf weitere Individualisierungen der Zuständigkeit bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen dürfen wir uns freuen, vor allem, wenn wir Behinderte nicht mehr “wohlhabend” genug sind, um sie privat zu finanzieren.
 
„Die Botschaft der Studie in Richtung «Disability Community» ist eindeutig: Die glückliche Zeit da es möglich war, die Entwicklung der «Mitte» der Gesellschaft souverän zu ignorieren und statt dessen «Normalität» und Behinderung diskursiv zu «dekonstruieren» und kulturelle Sonderidentitäten zu pflegen oder auch nur auf der Schaffung und Umsetzung von Gleichheitsregeln zu bestehen, geht unwiderruflich ihrem Ende entgegen. omp“ (Ottmar Miles-Paul)
 
Nationalsozialismus
Einzelne in der Behindertenszene und meinem Dunstkreis vergleichen die Zustände in Deutschland mit dem Nationalsozialismus. Das ist ein gefährlicher Rückschluss! Durch die Relativierung und Bagatellisierung dieser Zeit wird braunes Gedankengut wieder salonfähig, der Rechtspopulismus kann sich schneller entfalten.
 
Zu Hitlers Zeiten wurden die Gaskammern ab 1939 an Behinderten und „Geisteskranken“ in Hadamar, Grafeneck etc. perfektioniert. Es wurde mit Kohlenmonoxydgas gemordet, bevor die Mordmaschinierie in Auschwitz, Sachsenhausen etc. installiert war und gegen weitere Opfergruppen mit Zyklon B zum Einsatz kam.
 
In Hadamar wurden meines Wissens auch Schwule ermordet: nachdem sie wegen ihrer „Geisteskrankheit“ entmündigt (um zu verhindern, dass sie Anträge auf „freiwillige“ Verstümmelungen zurückziehen konnten) und von den Ärzten dort „behandelt“ waren.
Ich selbst war vor vielen Jahren in der Gedenkstätte zu Besuch - und mir wurde veranschaulicht, wie die Opfer jämmerlich erstickt sein müssen, bis sie auf den praktisch eingerichteten Seziertischen massenhaft zu medizinischen Exponaten verarbeitet wurden - und das werde ich nie vergessen!
 
Handlungshindernisse, Handlungsmöglichkeiten
Die türkische geht die schwule Minderheit klatschen, Behinderte mögen keine Schwulen oder Lesben, Homos vertragen es nicht, wenn einer unter ihnen eine Behinderung hat, „zu dick“, „zu alt“, nicht modisch genug ist.

Wir - Schwule, Lesben, Bi’s, Transgender - sind auch nicht besser als die „Normalen“, wir sind normal, unser Bewusstsein ist dem Normierungsprozess unterworfen. Lediglich Kleinigkeiten - wie fehlende Traditionen zur überholten monogamen Ehezweisamkeit als Pflicht - und fehlende Rollenverteilungen verlang(t)en Kreativität.
 
Auch ich habe wegen nur meiner Kleidung oder meiner Behinderung Beleidigungen auf dem primitivsten Niveau erlebt, die den Tätern ihren „Gleichberechtigten“ gegenüber so peinlich wären, dass sie sich nicht mehr vor die Haustür trauen würden. Peinlich bleibt es auch auf CSD-Events und ähnlichen Veranstaltungen. Gerade hier kann das negative Potential auf schwule Täter zurückfallen, wenn sich die Stimmung wandelt. Lesben habe ich nicht erwähnt, da diese kaum beteiligt waren.
 
Noch finde ich Begegnungen auf dem CSD’s interessant und angenehm, man kann als Schwuler oder Lesbe frei leben. Ich hoffe, es bleibt so! Doch daran haben wir unseren Anteil beizusteuern. Ich für meinen Teil kümmere mich um allgemeine Behindertenpolitik, Schwulenpolitik meide ich eher. Da meine Existenz und Gesundheit durch die Stimmung, die gegen Leute wie mich gemacht wird, *real* bedroht wird, während ich als Schwuler vergleichsweise locker und ungezwungen leben kann.
 
Außerdem werden die Forderungen von behinderten Homos in der Szene weitgehendst ignoriert. Wenn mir durch die Verweigerungen des Staates Helferstunden fehlen, so dass ich ans Bett gefesselt werde, hilft es mir auch nichts mehr korrekte Politik betreiben zu wollen. Da sind „die Heterosexuellen“ fortgeschrittener, offener für menschliche Veränderungen. Auch deshalb habe ich die 5 Jahre alte Gruppe schwuler Behinderter in Mainz 2002 aufgelöst.
 
Nicht immer sind egoistische Motive im Spiel, wenn Menschen mit einer Tätersichtweise leben und andere mit Beeinträchtigungen darunter leiden. So sind Zeitungsartikel zum Thema Behinderung in der schwulen Sub ein positives Signal; aber die Wahrnehmung von Behinderten als Lebensunlustig, gestört oder grundsätzlich bedauernswert hat sich in vielen meinungsbildenden Köpfen festgesetzt. Somit wird Leuten mit Handicap häufiger zugeschrieben, sie seien alle unattraktiv und verzweifelt hinter jedem - der sich ihrer erbarmt (!) –her.
 
Selbst wenn mit den besten Absichten geschrieben wird, kann das Unbeabsichtigte passieren, weil der Autor selbst sich keinen Sex mit einem behinderten Menschen vorstellen kann und in dem Punkt noch nicht im Reinen ist. Was mich persönlich nicht kümmert, da er das mit sich selbst klären müsste. Auch Behinderte sind nicht automatisch vorurteilsfrei für andere mit einem Handicap: hier gibt es die gleichen Erwartungen wie bei den Normalos, ein alltägliches, Bedürfnisse erfüllendes Leben zu führen, zum Teil wie es uns medial eingetrichtert wird.
 
Das wird mir als explizit schwulen Mann mit Behinderung erschwert, wenn beispielsweise eine Gruppe von Jugendlichen meinem Kerl und mir hinterherrufen „iiih, die sind Schwul“ und dergleichen mehr. Ihr „Mut“ reicht dann noch die Treppe hoch zu rennen auf der ich mit meinem elektrischen Rollstuhl nicht hinauf kann, sobald wir uns ihnen nähern.
 
Der „Mut“ kann sich ändern wenn im Alltag der Szene und sonstwo weiter behindertenfeindliche Signale gesetzt werden, kann in noch mehr physische Gewalt umschlagen. Aber dann werden früher oder später alle Minderheiten draufzahlen. Auch die, die nicht aktiv diskriminiert haben, und die, die zu einem natürlichen Umgang und lustvollen Sex mit behinderten Männer oder Frauen in der Lage sind. (mk)
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite