77. LUST, Winter 03/04
 
Vom “Weißen Kreuz” zur homosexuellen Emanzipation
von Arno Huth
 
Für den Abend war ein “Vortrag über Homosexualität: Veränderung ist möglich” in meiner Kleinstadt Mosbach angekündigt. Veranstalter: die Evangelische Stadtmission. “Die Referentin, Jahrgang 1963, ist Dipl.-Sozialarbeiterin mit einer Zusatzausbildung in Systematischer Familientherapie.” Als Internet-Tipp war unter anderem www.weisses-kreuz.de angegeben. Ich ging also hin, um einzugreifen und zu widersprechen.
 
Der für mehr als 70 Leute bestuhlte Saal der Gemeinde war immerhin mindestens halb belegt, auch ein paar jüngere Leute waren da. Außer mir waren anscheinend keine Andersgesinnte zugegen. Die Referentin, die zudem noch Theologie studiert hatte, wirkte zunächst sympathisch, bemühte sich um einen wissenschaftlichen Stil, berichtete aus der eigenen Praxis und der ihrer Kollegen und gab vor, Lesben und Schwule (im Vortrag bezog sie sich hauptsächlich auf letztere) verstehen und ihnen helfen zu wollen.
 
Viele hatten sich schon an sie gewandt, weil sie unter ihrer Homosexualität litten und sie überwinden wollten. Erfahrungen aus ihrer Praxis zeigten: Veränderung sei möglich. Meine Zwischenfragen allerdings wurden an das Ende des Vortrags verwiesen. Nachdem ich so über eine Stunde geduldig zuhören musste, folgten nun vom Veranstalter noch Buchtipps zum Thema und zu “Sex vor der Ehe?”.
 
Vor dem “Vaterunser”-Geraune wurde ein gebetsähnlicher Text vorgelesen: Sex sei weder Dämon noch Anbetung und dergleichen, wobei ich den Eindruck hatte, es ging hier mehr um eine demonstrative Selbstverständigung der anwesenden Christen als Unverklemmte und reinen, guten Sex Praktizierende. Damit sollte die Veranstaltung beendet sein, und ich war immer noch nicht zu Wort gekommen. Also stand ich auf, um die schlechte Harmonie laut zu stören und hinzuweisen auf Widersprüche, Homophobie und den schlechten Stil, Nachfragen und einer Diskussion auszuweichen.

Die Referentin mit dem eben noch wissenschaftlichen Anspruch erklärte sich nicht zu einer Kontroverse bereit, man wollte mir kein Forum gönnen, bestenfalls ein direktes Gespräch mit der Referentin oder in kleiner Runde, was für mich jedoch nicht in Frage kam – es sollte wohl ein Gespräch zwischen einer Therapeutin und einem pathologischen Homosexuellen werden. So stritt ich noch eine Weile ergebnislos, ohne dass wirklich auf meine Argumente
eingegangen wurde.
 
Was die Bibel über Homosexualität sagt
Im Widerspruch zu ihrem wissenschaftlichen Anspruch verzichtete die Referentin nicht auf ein moralinsaures Fundament, christliche Homophobie und Ehe-Ideologie: In der Bibel gäbe es keine Stelle, die sich positiv auf Homosexualität bezieht.
Sie gilt als Zeichen der Sündhaftigkeit des Menschen und sei “Götzendienst”. Die Bibel drückt offen ihren Ekel vor den Homosexuellen aus: Homosexualität sei widernatürlich, ein “Gräuel” und eine Blutschuld, die mit dem Tod bestraft werden musste (3. Mose 18.22 und 20.13).

Als weiteres Argument gegen Homosexualität führte die Referentin die heterosexuelle Ehe an, die sie als “Ikone, also Abbild Gottes”, bezeichnete. Gott sei “transsexuell”, gemeint war geschlechterübergreifend. Während sie so die Ehe verherrlichte, implizierte dies, dass der einzelne Mensch defizitär sei bzw. die homosexuelle Beziehung dieses Defizit nicht füllen und von daher Homosexualität nicht befriedigend gelebt werden könne.

Auf eine andere Gedankenspielerei – ob sich im Homosexuellen, Bisexuellen oder im Androgynen/Transgender möglicherweise mehr von der Transsexualität eines hypothetischen Gottes spiegelt als im Heterosexuellen – kam die Referentin nicht.
 
Wenn sich Christen als defizitäre heterosexuelle Männer und Frauen begreifen, die zu ihrer Vollständigkeit das andere Geschlecht brauchen, so ist das ihr Problem. Dass sie meinen, ihre beschränkten homophoben Lebensvorstellungen, ihre heterosexistische Ehe-Ideologie jedoch verallgemeinern zu müssen, kann sich schwerwiegend auf Emanzipation und Coming-out von Schwulen und Lesben auswirken, insbesondere wenn diese in einem christlichen Umfeld erzogen und sozialisiert wurden, wofür die Praxis der Referentin steht.

Im Gegensatz zu beschränkter heterosexistischer Ehe-Ideologie findet sich eine interessante und offene Betrachtung zu Komplementarität der Geschlechter in dem Buch “Ich bin Du. Auf dem Weg in die androgyne Gesellschaft” von Elisabeth Badinter.
 
Nebenbei: manche schwule Christen beziehen sich auf die homoerotische Freundschaft zwischen dem Hirtenjungen David und dem Prinzen Jonathan: “Leid ist mir um dich, mein Bruder Jonathan, du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war mir deine Liebe als die Liebe von Frauen”. (2. Samuel 1.26). Hier wird Männerliebe aufgrund einer Gegenseitigkeit als gut empfunden und nicht anhand einer abstrakten Moral bewertet. Hingegen drücken die späteren Ehen von David eher das zweckdienliche Einheiraten in reiche Familien und dadurch Zugewinn an Einfluss und Besitz aus.
 
Dass es bei einvernehmlicher (Homo-)Sexualität keine Geschädigten (außer einem imaginären Gott) gibt, hinderte die Referentin nicht daran, gemäß der Bibel praktizierte Homosexualität als Sünde zu diffamieren. Verantwortung bestimmt sich ihr zufolge nicht durch die Art und Weise (z.B. einvernehmlich oder gewalttätig) bzw. die Folgen menschlichen Tuns, sondern wird durch einen willkürlichen, rachsüchtigen und griesgrämigen Gott moralistisch definiert. Der Mensch habe die “Freiheit”, zwischen Sünde und Gottes Willen zu entscheiden. (Eine hervorragende Kritik von Christentum und Religion hat Karlheinz Deschner in seinem Buch “Der Gefälschte Glaube” geliefert.
 
Was christliche Fundamentalisten über Schwule und Homosexualität wissen
Homosexualität ist unnatürlich. So plump sagte es die Referentin jedoch nicht, im Gegenteil verwies sie auf die Wissenschaft – es gibt keine ernsthaften Beweise für Homosexualität verursachende Gene, Hormone etc. – und auf den LSVD, der dazu riet, das Argument des Schwulen-Gens nicht mehr zu gebrauchen.
 
Ob Homosexualität natürlich ist oder nicht, sollte eigentlich keine Rolle spielen: menschliches Leben beruht größtenteils auf sozialen und materiellen Techniken, auf Überwindung von Naturhaftigkeit und ist “unnatürlich”. Sexualität und Lust sind wichtige Bestandteile unseres Lebens und unserer Natur. Ob ihre hetero-, homo- oder sonstige sexuelle Ausrichtung von der Natur oder sozial/kulturell bestimmt sind, sind für ihr freies, einvernehmliches Ausleben unerheblich. Störend wirken hier vielmehr gesellschaftliche Umstände und Ideologien von genormtem Leben, Religion usw. Die Referentin hatte aber andere Hintergedanken: Wenn Homosexualität unnatürlich ist – die Zuhörer dachten sicherlich “unnormal, abartig” –, ist sie auch therapierbar.

Schwule sind eklige und perverse Schweine. Obwohl die Referentin dies niemals so ausgedrückt hätte, verstanden die Zuhörer es so: das Kopfschütteln einiger drückte Verständnislosigkeit und Angewidertsein aus. Die Referentin zitierte nämlich wissenschaftliche Untersuchungen, wonach Schwule andere Beziehungsmodelle mit vielen Seitensprüngen lebten und wie viel Prozent Sex im Park, in Saunen, wie viele Sexualpartner usw. gehabt haben.
 
Homosexualität sei eine “Störung der Geschlechtsidentität”, also eine behandlungsbedürftige Krankheit, deren Ursache die Referentin in der kindlichen Entwicklung sieht. Das Kind unterscheidet die ersten zwei Jahre nicht zwischen männlich und weiblich, erst später lernt es die Geschlechter zu differenzieren und eine Geschlechtsidentität aufzubauen. Aufgabe der Eltern sei es, das Kind bei der Herausbildung seiner jeweiligen Geschlechtsidentität zu unterstützen, ansonsten könne es zu einer Störung dieser kommen und die Ursache für Homosexualität sein.
 
Dies kann insbesondere sein, wenn die Mutter den Jungen zu sehr an sich bindet, oder der Vater keine Identifikation bietet. Deshalb hätten Schwule oft ein negatives oder vielmehr sogar ein gleichgültiges Verhältnis zu ihren Vätern. Verstärkend wirke sich aus, wenn der Junge mangels Anregung (zum Beispiel durch Nicht-Gelingen von Beziehungen in der Gruppe der Gleichgeschlechtlichen) etc. in der weiteren Entwicklung keine Maskulinität entwickeln würde. Überhaupt fiel das Wort maskulin oder männlich mehrmals bei der Referentin.

Nach Markus Hoffmann vom Weißen Kreuz (Quelle: Internet s.o.) versucht der Homosexuelle mittels seiner Sexualität seine Identität als Mann zu reparieren. Deshalb begehre er genau das, was er als Defizit bei sich empfinde. Hoffmann nennt dies auch “Wunsch nach Vertrauen in die eigene genitale Vollwertigkeit: Den hegen Menschen, die Zweifel daran haben, ob sie geschlechtlich funktionieren, ihr Geschlechtsteil die richtige Größe hat und vieles andere mehr.
 
Das homosexuelle Interesse richtet sich bei ihnen hauptsächlich auf Personen, die nach ihrer Meinung diese geschlechtliche Vollwertigkeit besitzen.” Da Schwule dies untereinander bei sich aber nicht finden würden, seien auch keine zufriedenstellenden Beziehungen (“illusionäre Sexualität”) möglich. Ein homosexuell empfindender Mensch sehne sich nach einer Stimme, “die ihm zuverlässig darüber Auskunft gibt, wer er ist. ... Wenn es daher gelänge, diese selbstbewusste Stimme als beständige Kraft und als inneres Wissen in ihm aufzubauen, dann könnte er das homosexuelle Verhalten lassen.” Damit sei bereits das Ziel des Veränderungsprozesses umrissen ...
 
Mythos Mann
Die Referentin und das Weiße Kreuz vertreten damit klassische zwangsheterosexuelle Ideologie. (Als Gegenbild verweise ich auf feministische Studien und das Buch “Mythos Mann” von David D. Gilmore.) Die Referentin propagierte die Förderung einer männlichen Identität, die Erziehung von Jungen zu Männern – statt zu Menschen oder wenigstens zu Sanftmut und Friedfertigkeit gemäß eines christlichen Leitbildes.
 
Angesichts von Jahrhunderte langer Männergewalt, -herrschaft und -dominanz solch problematische Begriffe wie “maskulin” etc. nicht einmal zu definieren und hinterfragen, sondern ausschließlich positiv Bezug darauf zu nehmen und damit Homosexuelle als “gestört” in ihrer Geschlechtsidentität herabzusetzen, ist beleidigend und kurzsichtig. Vielmehr haben Homosexuelle gerade aufgrund von “Maskulinität” Heterosexueller, die sich als Homophobie, Männlichkeitsgebaren und -gewalt äußern kann, viele Probleme.
 
Sich raufende Jungen beschimpfen sich gerne gegenseitig als “Schwule Sau”, feminine Jungen werden gehänselt, andersartige verachtet, ausgegrenzt und verspottet. So verhalten sich sich “normal” entwickelnde Jungen, wie sie sich die Referentin und das Weiße Kreuz anscheinend wünschen. Angesichts sexistischer Verhältnisse und wenn Homosexuelle dann noch in einem christlich-fundamentalistischen Umfeld mitsozialisiert wurden, ist es nicht verwunderlich, wenn sie Schwierigkeiten haben sollten, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihr Coming-Out als Schwule zu wagen. Nicht der Homosexuelle ist dann aber gestört, sondern das sexistische Umfeld, in dem er aufwuchs.
 
Wer sich unkritisch auf genormte und festgelegte Geschlechterrollen, auf Männlichkeit bezieht, nimmt damit Homophobie, Gewaltbereitschaft, Männergewalt, Dominanzverhalten, Frauenunterdrückung und Männerherrschaft bei gleichzeitiger Unterdrückung eigener Bedürfnisse von Jungen und Männern (Zähne zusammenbeißen, ein Indianer kennt keinen Schmerz) in Kauf.
 
Männlichkeit muss von Jungen in meist auch schmerzhaften Prozessen und Prüfungen errungen werden – Mittel dazu sind drohende und reale (im Falle des Versagens) Sanktionen des Ausgegrenztwerdens, des Absprechens des Mannseins, des Ausgelacht- und Verachtetwerdens usw. Solche sozialen Mechanismen werden jedoch nur wenn sie ausufern als pathologisch angesehen. Feministinnen benennen das manchmal deutlicher: Männlichkeit und Weiblichkeit sind Geschlechtskrankheiten.
Die Praxis der Referentin, das Weiße Kreuz und die böse Wissenschaft.

Die Referentin berichtete, dass sich Schwule und Lesben bei ihr und ihren Kollegen melden, weil sie unter ihren homosexuellen Gefühlen leiden würden und diese überwinden wollten. Das Leben in der Szene sei oberflächlich, bindungslos und unbefriedigend.

Viele ihrer Patienten stammten aus dem kirchlichen bzw. christlichen Bereich. Nicht hinterfragt wurde von ihr, dass dort deren sexuelle Empfindungen oft besonders harten Konflikten mit der christlichen Moral ausgeliefert sind und sie keine Bestätigung ihrer sexuellen Identität und ihrer Persönlichkeit erhalten, sondern gerade hier wohl Schuld- und Schamgefühle entwickeln.
 
Um diesen Konflikt aufzulösen, wenden sie sich nicht etwa der Kirche oder ihrer christlichen Gemeinschaft ab und streiten für ihre Persönlichkeit, sondern geben diese sogar noch preis, wenn sie nach Überwindung ihres homosexuellen Begehrens in Enthaltsamkeit oder Heterosexualität streben.

Dabei ist die Referentin überzeugt: Homosexuelle können ihre angeblich negativen Erfahrungen im Kindesalter reflektieren und überarbeiten ... “Und auf einmal würden sich auch sexuelle Empfindungen ändern!” Welche Selbstqual dies jedoch bedeuten kann, beschrieb sogar Gerhard Naujokat vom Weißen Kreuz 1976 als ein Heilungsprozess, “der ununterbrochen u.U. ein Leben anhält”!

Jederzeit könne die alte Begierde wieder durchbrechen. Naujokat empfiehlt “eine restlose zeitliche, körperliche und geistige Auslastung.” und fordert letztendlich lebenslangen Sadomasochismus und Selbstunterdrückung als Heilung: “Diese Darbringung des persönlichen und privaten Seins ohne Wehleidigkeit und Schonung bis hin zu tatsächlicher körperlicher und geistiger Erschöpfung um einer großen Aufgabe willen wird Wegbereiter der Überwindung sein.” (zitiert nach HuK: “evangelikal und homosexuell”).

Markus Hoffmann hat dazu einen “Therapie”-Prozess in acht Schritten beschrieben: Therapie soll “dysfunktionale Denkmuster abbauen und ein Beziehungsverhalten anbahnen, das geeignet ist, den Zuspruch Gottes auch in der Beziehung zu Menschen zu erleben.” Unterstützt werde die Therapie durch Seelsorge, wo “er sich von Gott sagen lässt, wer er ist.”
 
Es gehe darum, Homosexualität vom bisher “ungestillten Bedürfnis” (das sich in ihr ausdrückt) zu trennen und dieses zu erkennen, eine männliche Identität und ein (entsexualisiertes) Körpergefühl zu entwickeln, sich mit dem Vater zu versöhnen und asexuelle Freundschaften – am besten in christlichen Männergruppen – aufzubauen.
 
Dadurch würde auch eine neue Lebensqualität (“die homosexuellen Gefühle nehmen ab”) entstehen. Letztlich läuft es jedoch auf eine Verdrängung und Unterdrückung der Homosexualität hinaus, die mann mit zusammengebissenen Zähnen und zusammengekniffenen Arschbacken abwehren muss, was selbst Hoffmann eingesteht: “Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass ein homosexuell empfindender Mensch auf einmal genauso empfindet wie ein heterosexueller. ... Ich erkläre ihm auch, dass Homosexualität etwas ist, das sich wieder verstärken kann, wenn er aufhört, achtsam mit seinem Bedürfnis umzugehen und seine lebensverändernde Praxis vernachlässigt.”

Sicherlich können sich Verletzungen, die Homosexuelle in ihrer “Sexualisation” bzw. Sozialisation erlebten, möglicherweise in Identitätsunsicherheiten niederschlagen. Das Tückische, Hinterlistige an den Therapievorschlägen des Weißen Kreuzes besteht jedoch darin, Minderwertigkeitsgefühle bzw. Identitätsprobleme dadurch zu lösen, nicht indem ein Gefühl des Menschseins vermittelt wird oder indem gesellschaftlich patriarchale, homophobe Zustände, die in die Sozialisation störend hineinwirken, bekämpft werden, sondern indem die Vermittlung von Körpergefühl gekoppelt wird mit Enthomosexualisierung und starker Männlichkeit.
 
Die Ursache für mangelndes Selbstbewusstsein, gesellschaftlicher Zwangsheterosexismus, wird zur Therapie erklärt. (Andere Ansätze zwecks Vermittlung von Selbstbewusstsein und Körpergefühl bei Bejahung der eigenen Homosexualität wird in Büchern zum Coming-Out beschrieben, aber auch von Martin Siems in seinem älteren Buch “Coming-Out”.)
 
Die Referentin griff Schwule und Lesben nicht direkt an – wohl auch angesichts anderer gesellschaftlicher Mehrheiten, weil es nicht mehr zeitgemäß ist und auch der Wissenschaft nicht entspricht –, sondern argumentierte eher subtil. Die Unterdrückung homosexuellen Begehrens geschieht heute nicht mehr mittels kalter Duschen, stereotaktischer Operationsschnitte im Gehirn, Entmannungen, offener Gehirnwäsche und anderen Folterarten, sondern mit hinterlistigen Angeboten therapeutischer Nächstenliebe und einer angeblich objektiven, entwicklungspsychologisch fundierten Wissenschaft.
 
Die Referentin beklagte, dass Homosexualität aus der Liste der Krankheiten/Störungen gestrichen wurde und deshalb kein Fall mehr zur Therapie für den Psychiater bzw. Psychologen sei. So stießen überwindungswillige Homosexuelle bei Therapeuten auf Ignoranz, weil es heute “nicht mehr political correct” sei, und Therapeuten, die an der Überwindung von Homosexualität arbeiteten, Konsequenzen drohten. Kein Thema war für die Referentin eine Entschuldigung für die Verbrechensgeschichte des Christen- und Kirchentums unter anderem an Schwulen und Lesben und für die fatalen Auswirkungen christlicher Ideologie. Schließlich war ihr Thema ja auch nicht “Homophobie: Veränderung ist möglich”.
 
Homophobie in Geschichte und Gegenwart und die Folgen auf unsere Lebensweisen
Völlig ignorant war die Referentin bezüglich der Tatsache, dass Schwule und Lesben es trotz Öffnung der Gesellschaft immer noch schwer haben könnten, nicht weil sie gestört sind – sondern angesichts allgemeiner Kommerzialisierung von Lebensweisen, Vereinzelung und Unverbindlichkeit (dies ist kein Plädoyer für die Homo-Ehe), während Heterosexuelle auf eingefahrene Wege des Heiratens, Kinderkriegens und -aufziehens zurückgreifen können.
 
Hinzu können für Schwule und Lesben Schwierigkeiten kommen, ihre Identität gegenüber Eltern/Familie, Klassenkameraden, bei der Arbeit, Freunden, in der Öffentlichkeit und Alltag, Kirche usw. zu behaupten. Indirekt wirkt hier die Jahrhunderte lange Geschichte der Verfolgung von Homosexuellen nach, so dass Schwule und Lesben

heute immer noch nach erfüllenden Lebensweisen gesucht werden muss. Diese Suche wird heute durch neue Normierung von Lebensweisen (z.B. Homo-Ehe) und allgemeine Phänomene des Konkurrenz-Kapitalismus erschwert: Kommerzialisierung, Jugend- und Schönheitsfetisch, Ausgrenzung schwuler Minderheiten, Vereinzelung, Unverbindlichkeit, Mobbing in der Szene usw. Anstatt nun aber auf die Schreie von Schwulenfeinden zu hören und sich diesen indirekt durch “anständige” homosexuelle Beziehungen wie z.B. die Homo-Ehe unterzuordnen und Homosexualität zu normieren, gilt es, sich weiterhin konsequent gegen Zwangsheterosexualität und genormte Lebensweisen zu wehren und selbstbestimmte Lebensweisen und Vielfalt jenseits von Kommerz, Ausgrenzung und Unverbindlichkeit zu erproben.
 
Und die evangelische Amtskirche?
Mancher wird einwenden, dass die Positionen von evangelikalen fundamentalistischen Sekten minoritär und nicht für die der Breite der evangelischen Kirche maßgebend seien. Hören wir dazu Wolfgang Huber, bislang Bischof von Berlin-Brandenburg und seit Anfang November 2003 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner Predigt zum Tag der deutschen Einheit:
 
Huber warb dafür, dass “die eigene Seele sich öffnet und etwas von der Liebe und Güte zurückströmen lässt, die wir empfangen”, z.B. durch “Einschnitte” beim Abbau des Sozialstaates. Er wandte sich gegen die “Haltung des wehleidigen Maulens und miesepetrigen Kleinmuts”, und wer sich gegen Einschnitte wehre, “versündige” sich an späteren Generationen.
 
Wohl auch im Zusammenhang mit der Rentendiskussion streute er eine Prise christlich-homophoben Fundamentalismus: Als normal gelte, “dass Menschen auf das Miteinander von Mann und Frau angelegt sind. Dieses Miteinander schließe ein, dass Kinder heranwachsen”. Was hingegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften angeht, ist Huber dagegen, “alles zu egalisieren”. Nebenbei ist er als christlicher Verantwortungspazifist im Zweifelsfall auch noch für den “Einsatz von Militärgewalt und von deutschen Soldaten” (zitiert nach Jungle World, 12.11.2003).

Christliche Homophobie mag altmodisch sein, trotzdem hat christlicher Fundamentalismus noch ausreichend Spielraum, so ist zum Beispiel das Weiße Kreuz dem Diakonischen Werk angeschlossen und gilt damit als gemeinnützig. Gerade in Zeiten, wo wieder sogenannte Werte und ein “Ruck durch Deutschland” gefordert werden, könnte christliche Ideologie zum Kitt für eine reaktionären Politik und Sozialabbau werden.
 
Und selbst wenn Christen unter sich bleiben, so erziehen sie doch auch Kinder bzw. nehmen Einfluss auf Kinder, die sich nicht unbedingt gegen die zwangsheterosexuellen Zumutungen ihrer Eltern wehren können. Können diese Leute ihre Kinder nach einem solchen Vortrag überhaupt noch unvoreingenommen und unverkrampft erziehen?
 
Dies ist von meiner Seite kein Plädoyer für ein Entzug des Sorgerechts, wie ein Diskutant mir beinahe unterstellen wollte, aber ein Plädoyer für den Schutz vor zwangsheterosexuellen Zumutungen und elterlicher Gewalt. Zu dessen Durchsetzung befürworte ich Aufklärung von Kindern und Jugendlichen über ihre Rechte, Weglaufhäuser und Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche sowie notfalls ihre selbstbestimmte Trennung von ihren Eltern.
 
Schlussbemerkung
In seiner spannenden Autobiografie als Revolutionär “Vom Weißen Kreuz zur Roten Fahne” (ohne homosexuelle Thematik) beschreibt Max Hoelz unter anderem, wie er vom Christ zum freiheitlichen, revolutionären Rätekommunisten wird. Insofern stimme ich dem “Ja” der Referentin auf die Frage “Ist Veränderung möglich?” zu: christlicher Fundamentalismus kann überwunden werden. (ah)
 
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