78. LUST, Herbst 03
Vereinsamung mitten unter uns
Menschliche Vereinsamung in unserer Szene. Sind wir in der Lage, dieses Problem anzugehen?
 
Einleitung
In der Clique hält sich eine Frau auf, die allgemein geachtet ist. Man mag sie, spricht freundlich mit ihr, fragt z.B. nach der Freundin. Wenn sie da ist, wird sie beachtet. Wenn sie nicht da ist, fragt man nach ihr. Sie ist aber auch unterhaltend, weiß die Neuigkeiten interessant zu kommentieren, strahlt gute Laune aus und hilft mit, vom tristen Arbeitsleben Urlaub zu machen. Überhaupt bekommt sie durch ihr gewinnendes Wesen überall positive Rückmeldung. Man kann also nicht sagen, dass sie einsam ist.
 
Doch was weiß man wirklich von ihr? Welchen Aufwand macht es ihr, immer derart ankommen zu müssen? Was ist, wenn sie schlecht drauf ist, wenn sie diese Rolle nicht spielen kann? Wird man auch dann nach ihr fragen oder ist es schnell so, dass man froh ist, wenn sie nicht da ist? Könnte sie eine Beziehung pflegen oder spielt sie gerade deshalb diese positive Rolle, weil sie im Grunde einsam ist?

Der Mann, als Single lebend, besucht das Lokal, wo man ihn kennt. Man behandelt ihn dort freundlich. Der Wirt weiß schon, was er trinken will und stellt das Getränk ungefragt hin. Er fragt nach dem Wohlbefinden und der Gast antwortet freundlich: “Gut, danke”. Auch einige Gäste sprechen freundlich mit ihm. Die Kollegen behandeln ihn kollegial und beim Einkaufen wird er höflich bedient. Man kann also nicht sagen, dass er vereinsamt ist. Dennoch, was ist, wenn er nach Hause geht? Begrüßen ihn dort schnurrend zwei Katzen als MitbewohnerInnen oder doch Menschen, die ihm zugetan sind? Was ist, wenn der Verdienst ausbleibt und er in dem Lokal nicht mehr nachbestellen kann?

Fühlen sich die beiden Menschen denn auch bei den Mitmenschen aufgehoben und geborgen? Was ist, wenn sie vielleicht krank sind und lange Zeit nicht gesehen werden? Was ist, wenn sie aufgrund persönlicher Schicksalsschläge die gewohnte Rolle nicht spielen können oder wollen? Tut es jemanden weh, wenn sie traurig sind oder leiden? Interessiert es überhaupt, wenn sie nicht mehr da sind, oder treten an ihre Stelle einfach andere?
 
Vom Mitmenschen
Ist Religion überzeugend? Zum Beispiel die christliche? “Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.” Oder benötigen wir wegen des aufgeklärten Jahrhunderts, des 21. Jahrhunderts, wissenschaftlichere Erklärungen?

Was macht den Menschen (eine Affengattung mit langer und nicht immer glücklichen Entwicklungsgeschichte) eigentlich menschlich? Zum Beispiel dass er über eine differenzierte Sprache verfügt, die nur in zwischenmenschlicher Kommunikation erworben werden kann? Zum Beispiel, dass er planerisch und vorsorgend tätig sein kann? Zum Beispiel, dass er über Menschlichkeit verfügt, dem Gefühl der Anteilnahme am Schicksal der Mitmenschen?

Nun gut, rechtsgerichtete “Wissenschaftler” gehen oft von der Biologie aus, versuchen durch gradlinige Ableitung von tierischen Verhaltensweisen auf den Menschen zu belegen, dass wir gar nicht “menschlich” wären, sondern zwischenmenschliche Raubtiere seien.
 
Und so ist aus ihrer Sicht das ganze Leben des Menschen vom gegenseitigen Kampf um Beute und Vorteile, von Rangordnungskämpfen im Rudel gekennzeichnet. Und dass Menschen Andersartige nicht mögen, bisweilen auch Umbringen, dass sie schwache Menschen verdrängen und bekämpfen, das ist daher nur naturgemäß und damit nicht verwunderlich. Auch Rassismus ist so erklärbar. Es sei sogar gegen die menschliche Natur, wenn man eine andere Lebensweise anstrebe, und die Folgen dadurch habe man sich nur selbst zuzuschreiben.
 
Wollen wir denn “nicht einsam” sein?
Dazu haben die wissenschaftlicher arbeitenden Soziologen und Psychologen ihre eigene Auffassung. Sie meinen, dass menschliches Handeln im wesentlichen durch die Lage, in der sich der Mensch befindet, gesteuert wird. Er kann aber nicht ohne Mitmenschen leben. Der Mensch muss sich in den Reaktionen des Mitmenschen spiegeln können, damit er ein Gefühl für sich selbst bekommen kann, damit er weiß, wer er denn eigentlich sei. Bei den ganz jungen Menschen hat diese Funktion die Familie, besonders die Mutter dort, später hat diese Funktion die altersgleiche Clique. Dann sind es die Freundinnen und Freunde, bis diese soziale Fürsorge aber auch Kontrolle in die Fürsorge und Kontrolle der monogamen Partnerschaft mündet, die dann andauert bis zum Alter.

Viele junge Menschen wollten vor Jahren so früh wie möglich von zu Hause raus, um sich der sozialen Kontrolle der unverständigen Eltern entziehen zu können, die ständig an allem rumnörgelten. Sie wollten raus, um endlich so leben zu können, wie sie es ersehnten. Große Wohnungen waren der Renner, in die man mit anderen Leuten zu sogenannten Wohngemeinschaften zusammenzog. Man zog von den Eltern aus, aber nicht, um alleine zu sein.

Dies wurde damals von Kirchen und der Union Kritisiert. Man wollte nämlich vermeiden, dass solche Dinge wie die Bafög-Förderung jungen Menschen ermöglichen würde, sich zu früh von der elterlichen Familie zu lösen, oft noch bevor sie in die soziale Kontrolle durch eine Partnerin beziehungsweise eines Partners kommen, was soziale Verwirrung und Desintegration zur Folge habe. Heute wünschen sich viele verständnisvolle Eltern, die kein Verlangen danach haben, ihren Kindern Vorschriften zu machen, dass diese doch endlich ihr eigenes Leben führen und damit auch den Eltern auch ein eigenes Leben ermöglichen.

Wenn es den Jugendlichen mal nicht so gut ging, waren immer noch die Eltern da, die sich um sie sorgten. Doch war das damals häufig mit dem triumphierenden: “Siehste, ich habe dir doch immer gesagt ...” verknüpft. Deshalb hielt man sich lieber fern. Heute ist es eher umgekehrt. Die Jugendlichen sind den Eltern gegenüber, bei denen sie leben, von einer egoistischen und fordernden zwischenmenschlichen Kälte, dass es den Eltern die Sprache verschlägt.

Andererseits gibt es auch wieder zwischenmenschliche Zuwendung zu beobachten, die vielleicht gerade egoistischer Motivation entspringt. Weil zunehmender sozialer Abbau zu Kompromissen zwingt, vermischen sich heutzutage die Interessen und es kann keine durchgängige Linie mehr erkannt werden. Es ist dies eine eher geschäftsmäßige Zuwendung.

Bert Brecht 1923
Aus: “Erstes Dreigroschen-Finale”
PEACHUM und seine Frau, die von der Erpressung von Bettlern leben, erklären dem Töchterchen Polly, dass es nicht bekommen kann, was es will, nämlich die Liebesehe mit dem Gangster Macheath (Mackie Messer)
 
PEACHUM mit der Bibel in den Händen:

Das Recht des Menschen ist´s auf dieser Erden
Da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein
Teilhaftig aller Lust der Welt zu werden
Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein.

Das ist des Menschen nacktes Recht auf Erden.
Doch leider hat man bisher nicht vernommen
Dass einer recht hat – und dann war´s auch so
Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen
Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.
 
FRAU PEACHUM:
Wie gern wär´ ich zu dir gut
Alles möchte ich dir geben
Dass du etwas hast vom Leben
Weil man das doch gerne tut.
 
PEACHUM:
Ein guter Mensch sein! Ja, wer wär´s nicht gern?
Sein Gut den Armen geben, warum nicht?
Wenn alle gut sind, ist SEIN Reich nicht fern
Wer säße nicht sehr gern in SEINEM Licht?

Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär´s nicht gern?
Doch leider sind auf diesem Sterne eben
Die Mittel kärglich und die Menschen roh.
Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben?
Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!
 
POLLY UND FRAU PEACHUM:
Da hat er eben leider recht.
Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.
 
PEACHUM:
Natürlich hab ich leider recht
Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.
Wer wollt auf Erden nicht das Paradies?
Doch die Verhältnisse, gestatten sie´s?
 
Nein, sie gestatten´s leider nicht.
Dein Bruder, der doch an dir hangt
Wenn halt für zwei das Brot nicht langt
Tritt er dir eben ins Gesicht.
 
Auch treu sein, ja wer wollt das nicht?
Doch deine Frau die an dir hangt
Wenn deine Liebe ihr nicht langt
Tritt sie dir eben ins Gesicht.
 
Ja dankbar sein wer will das nicht?
Und doch, dein Kind, das an dir hangt
Wenn dir das Altersbrot nicht langt
Tritt es dir eben ins Gesicht.
 
Ja menschlich sein, wer wollt es nicht!
 
POLLY UND FRAU PEACHUM
Ja, das ist eben schade
Das ist das riesig Fade.
Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht
Da hat er eben leider recht.
(...)
 
Wir wollen also nicht einsam sein. Aber wir können und dürfen nicht so, wie uns gerade ist, denn wir haben “Höheres” zu berücksichtigen. Und die Welt ist doch so schlecht. Und daher bekommen wir nie, was wir wirklich wollen.

Wir wollen also Mitmenschlichkeit. Aber diese Mitmenschlichkeit kann nur in einer Gegenseitigkeit entstehen, sich in einer gegenseitigen zwischenmenschlichen Verbindlichkeit entwickeln. Jeder der PartnerInnen fühlt sich dem anderen der PartnerInnen verpflichtet. Man bringt sich sozusagen auch selbst ein.

Viele sehen heutzutage jedoch diese Mitmenschlichkeit eher als Selbstbedienungsladen für eigene Bedürfnisse. Und auf die Bedürfnisse der Mitmenschen einzugehen, das wäre ihnen ein Opfer, dem sie sich gerne entziehen, weil es ihnen keinen Spaß macht. Da man sich in Wirklichkeit oft gar nicht gegenseitig gefühlsmäßig verbunden fühlt, sondern gegenseitig manipulieren und funktionalisieren will, kann man sich auch nicht wirklich in der Verbindung geborgen fühlen. Man ist sich der Verbindung nicht sicher. Und so verkünden viele das Märchen, dass Eifersucht der Beweis der Liebe wäre.

Meiner Meinung nach ist Eifersucht der Beweis des Egoismus. Es geht um Besitz statt um gegenseitige Fürsorge. Das Hautreiben am Körper eines anderen Menschen wird als das eigentliche Schlüsselerlebnis angesehen, das die Verbindung in Frage stellt. Das mag in Zeiten, in denen dies Nachwuchs nach sich zog, vielleicht von Bedeutung gewesen sein. Heutzutage mutet es schon bizarr an, wenn gute erfüllende Gespräche, die doch wirklich die Persönlichkeiten verändern können, wenn also der Kopf für unbedeutender gehalten wird als ein anderer recht kleiner Teil des Körpers. Man will also den anderen Partner absolut besitzen. In der Dreigroschenoper streiten sich Polly und Lucy um Mackie. Im Refrain des streitbaren Wechselgesanges singen sie beide gemeinsam aber in verschiedene Richtungen, obwohl ihnen beiden der Treuebruch von Mackie wie auch seine Besuche bei den Huren bekannt sind:
 
Mackie und ich,
Wir liebten wie die Tauben,
Er liebt nur mich,
Das lass ich mir nicht rauben.
Da muss ich schon so frei sein,
Das kann doch nicht vorbei sein,
Wenn da so’n Miststück auftaucht!
Lächerlich!
 
Und Lucy singt, nachdem sich Mackie mal wieder der Polly zugewandt hat ihre berühmte “Arie der Lucy”:
 
Eifersucht
Wut, Liebe und Furcht zugleich
Reißen mich in Stücke.
Vom Sturm hin- und hergerissen
Vom Kummer zerbrochen.

Das Rattengift steht bereit.
Seit gestern kommt sie alle paar Stunden her,
um mich zu sprechen.
Oh dieses falsche Aas!

Wahrscheinlich will sie sich
An meiner Verzweiflung weiden.
Oh Welt, oh Menschen, wie seid ihr schlecht!

Diese Dame kennt mich noch nicht.
Meinen Gin wird sie nicht trinken,
damit sie nachher
mit ihrem Mackie lustig sein kann!
 
Sie stirbt durch meinen Gin!
Ja hier will ich sie sich winden sehen!
Ich rette ihm das Leben,
und die Person soll den Rahm abschöpfen?

Wenn ich dieses Mensch vergifte,
dann kann die Welt aufatmen.
 
Eine solche Beziehung, bei der sich die PartnerInnen gegenseitig bezwingen wollen, statt sich gegenseitig zu unterstützen und in den Wünschen zu achten, wird sehr schnell als unangenehme Klammer empfunden. Die negativen Empfindungen häufen sich und füllen die Beziehung stärker als ihre glücklichen Momente. Man könnte sich nicht auf diese Beziehung verlassen, wenn man auch einmal zwischenmenschliche Zuwendung bräuchte. Man braucht aber mindestens einen Partner, dem man es mitteilen kann, wenn man sich freut oder grämt. Man braucht einen Partner, dem es etwas ausmacht, wie wir und fühlen.
 
Ego-Ismus als Motiv
Warum möchten auch viele Menschen zeitweilig überwiegend alleine sein? Das Motiv für die Sehnsucht, in Partnerschaft zu leben, ist wahrscheinlich das gleiche wie das Motiv für den bewussten Rückzug aus Beziehungen. Egoismus ist eine gleichzeitig positive wie negative Eigenschaft des Menschen.

Egoismus hilft, sich nicht ausnehmen zu lassen, hilft, die Selbstachtung nicht aufzugeben und die eigenen Interessen zu wahren. Egoismus hilft Menschen, sich nicht ohne Zwang von anderen Menschen missbrauchen zu lassen. Aber der Egoismus kann auch dazu beitragen, den Überblick diesbezüglich zu verlieren und die Welt um sich herum zu gliedern, nach der Fragestellung: nützt mir das? Und man kann möglicherweise recht skrupellos beim Verfolgen seiner Ziele sein. Auf jeden Fall kann Egoismus dazu führen, dass man zwar von menschlicher Anteilnahme profitieren will, aber selbst keine gewähren will.
 
Die kommerzielle Verbindlichkeit
Unsere Gesellschaft bietet eine kommerzielle Verbindlichkeit, die vergessen lassen kann, dass man im Grunde keine Mitmenschen kennt, denen man nicht egal ist. Und so ist auch zu erklären, dass sich manche Jugendliche (und nicht nur sie) gegenüber ihren PartnerInnen verhalten, als seien es bezahlte Dienstleister, die ihnen zu Willen sein müssen. Und wenn man nicht zu zahlen braucht, ist es eben ein gutes Geschäft, und die anderen sind selbst schuld, weil sie Weicheier oder Warmduscher sind. Man geht kommerziell miteinander um. Bei kommerziellen Geschäften möchte man möglichst wenig bezahlen um möglichst viel zu erhalten. Man möchte ein gutes Geschäft machen. Aber im kommerziellen Bereich gilt ja auch, dass der Gewinn des einen durch den Verlust des anderen entsteht.
 
Freundlichkeiten sind Vorleistungen, von denen man sich einen möglichen Gewinn verspricht. Da hört man sogar langweiligen Reden zu, die einem eigentlich gar nicht interessieren.

Sicher, der freundliche Wirt im Gay-Lokal, der uns mit Namen kennt, erwartet von uns, dass wir dann auch oft man kommen und etwas verzehren, vielleicht auch etwas mehr verzehren. Ein Schicksalsschlag, der uns derart verarmen ließe, dass wir uns unser Bierchen nicht mehr leisten könnten, würde vielleicht die Freundlichkeiten des Wirtes abkühlen. Er würde nämlich berechen (müssen), was ihm dieser Platz einbringen könnte, wenn ein zahlender Gast dort sitzen würde. Allerdings muss er längerfristig denken, und der verarmte Gast könnte ihm eine abwertende Behandlung nachtragen, wenn er wieder zu Geld käme. Und schließlich sind noch die anderen Gäste zu berücksichtigen, die ja dem Verarmten einen ausgeben könnten, wenn er in ihr Beuteschema passt.

Der Gast, der heute mal ausgeht, um jemanden kennen zu lernen, schaut sich natürlich nach dem Mann um, der ihm am meisten gefällt. Er hat keine Lust und wenig Anlass, seine knapp bemessene Zeit mit dem Kummer eines Menschen zu verbringen, der für ihn nicht infrage kommt und der übrigens sich ja erfahrungsgemäß auch nicht anders verhalten würde. Woher kommt dieses Verhalten?
 
Die politische Verbindlichkeit
Wir sind einfach nur eine Szene. Wir finden hier Menschen vor, die uns gefallen oder nicht, mit denen uns eigentlich gar nichts weiter verbindet. Wären wir eine politische Bewegung im Kampf gegen die Gegner au den christlichen Kirchen und anderen Religionen und aus den christlichen oder anders lesben- oder schwulenfeindlichen Parteien, käme zwischenmenschliches Interesse vielleicht aus dem Gefühl eines ähnlichen Schicksals zustande.
 
Aber so ist es ja gar nicht, denn es gibt ja Lesben und Schwule, die Mitglied dieser Organisationen sind, die uns nicht wohl gesonnen sind. Sie haben die unterschiedlichsten Begründungen dafür, und für sie selbst ist ihnen ihre Rolle in diesen Organisationen erst einmal tragbar. Und sie haben auch für sich Begründungen entwickelt, warum ihre Karriere in solchen Organisationen den anderen Lesben und Schwulen nicht schädlich ist.

Klar, ein solches Verhalten ist zu erwarten, wenn man nur für sich oder seine Gruppe (für die homosexuellen Menschen) alleine eine erträgliche Lage geschaffen hat, und die gesellschaftlichen Zusammenhänge, aus denen die Unterdrückung kommt, nicht weiter zur Kenntnis nimmt.

Jeder ist sich selbst der Nächste, jeder hat es am schwersten, jeder ist sich selbst unterlegen. Und der andere ist erst einmal fremd und feindlich. So ist das Leben in unserer Gesellschaft geworden.

Es ist schon ein absurder Gedanke, etwas von unserer unterdessen relativ integrierter Szene zu erwarten, was eine immer brutaler werdende Gesellschaft auch nicht kann, es auch gar nicht will. Man erwartet erst einmal etwas, bevor man sich auf irgendetwas einlässt.
 
Zweites Dreigroschenfinale
1.
Macheath:
Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben
Und Sünd und Missetat vermeiden kann
Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
 
Ihr, die euren Wanst und unsre Bravheit liebt
Das eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muss es möglich sein auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.
 
Jenny:
Denn wovon lebt der Mensch?
 
Macheath:
Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich
Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich
Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.
 
Chor:
Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein:
Der Mensch lebt nur von Missetat allein!
 
2
Jenny:
Ihr lehrt uns, wann ein Weib die Röcke heben
Und ihre Augen einwärts drehen kann
Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
 
Ihr, die auf unsrer Scham und eurer Lust besteht
Das eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muss es möglich sein auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.
 
Macheath:
Denn wovon lebt der Mensch?
 
Jenny:
Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich
Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich
Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.
 
Chor:
Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein:
Der Mensch lebt nur von Missetat allein!

Es bleibt die individuelle Lösung
Also gibt es für dich und mich gar keine andere Möglichkeit, als die unzulängliche individuelle Lösung zu suchen. Zwar ist das Verhalten zwischen den Menschen von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geprägt, und die werden immer schärfer und unsozialer. Doch gibt es keine andere Möglichkeit für Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, als dass man sich selber menschlich und mitmenschlich verhält, wo man es kann.
Man kann es nicht immer, denn man muss ja ständig stärker, besonders in der Gesellschaft, seine Interessen vertreten. Man kann versuchen, um sich herum eine Zone der Mitmenschlichkeit zu schaffen. Wenn du es machst, ich mache es auch, dann sind wir schon zwei. Damit ändern wir zwar nicht die Gesamtlage, aber das Leben ist für uns erst einmal erträglicher.

Gesellschaftlich ändert die kaum etwas. Aber es ist ja auch wichtig, wie zufriedenstellend wir leben können. Deshalb hier noch ein Schlusswort von B. Brecht. Ich begreife für den Zweck unseres Themas den “Schnee” als Metapher für die zwischenmenschliche Kälte und die “Nachtlager” stehen für mich hier für Mitmenschlichkeit. (js)
 
Die Nachtlager
Ich höre, dass in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln,
Durch Bitten an Vorübergehende ein
Nachtlager verschafft.
 
Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.
 
Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.

Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
 
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.
 
Bert Brecht
 
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