- 76. LUT, Herbst 03
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- Über die Sozialhilfebetrüger
In den Medien überschlagen sich Berichte
über Menschen, die widerrechtlich Sozialhilfe beziehen,
die in Florida in der Sonne baden, eine Segeljacht und ein teures
Auto besitzen, siech mittels Viagra ein geiles Leben bezahlen
lassen, die sich über die arbeitenden Menschen totlachen
und auf ihre Kosten leben. Dahinter steckt natürlich auch,
dass man sich sexuellen Genuss durch Arbeit verdienen muss. Es
werden Berichte gezeigt, wie Sozialhilfeempfänger überprüft
werden, ob sie die Hilfe auch zurecht erhalten.
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- Der Tenor dieser Berichterstattung lässt
das Mobilisieren von Neid erkennen, denn viel Geld haben und
dafür nicht arbeiten müssen, das wünschen sich
viele Menschen. Es gibt ja auch Menschen, die viel Geld haben
und nicht arbeiten, aber die wird man wohl kaum massenhaft bei
den Sozialhilfeempfängern vorfinden. Ich kann mich an keine
solche Kampagne erinnern, bei der neidvoll in die Villen der
Millionäre geschaut wird, wo Reporter privater Fernsehanstalten
dem Steuerbetrug nachgefahndet haben.. Sicherlich wären
die Fahndungsergebnisse hier viel ergiebiger, aber offensichtlich
ist man bei unseren Behörden und Medien bereit, hier nicht
nur alle Augen zu verschließen, sondern grinsend in aller
Öffentlichkeit mehr als ein Auge zuzudrücken.
Es gibt eben unter den Millionären sehr viele clevere Leute.
Nun kann ich mir schon vorstellen, dass es auch unter den Sozialhilfeempfängern
einzelne clevere Menschen gibt, die schlau unser Sozialhilfe-System
ausnutzen. Solche Menschen gibt es in allen Bereichen. Aber da
uns kleinen Leuten derzeit viele Abstriche in allen Bereichen
zugemutet werden, ärgert man sich über solche cleveren
Leute, und manchmal natürlich auch darüber, dass man
nicht selbst auf diese Idee gekommen ist. Es gibt aber auch auf
allen Ebenen Gesetzesbrecher, wenn auch solche, die eher in unserer
Nähe tätig werden, uns mehr aufregen.
Doch es fällt schon auf, dass in letzter Zeit auffallend
viel in den Medien über unverschämte Sozialhilfeempfänger
berichtet wird. Gleichzeitig wird in Talk-Shows von Unternehmern
gefordert, die Sozialhilfe zu senken, damit ArbeitnehmerInnen
bereit sind, auch für Billiglöhne zu schuften. Es wird
da sicherlich etwas vorbereitet, denn derzeit schaut man ja nur
noch nach den Taschen von Arbeitnehmern und anderen kleinen Leuten,
wenn es darum geht, die großen Probleme dieser Gesellschaft
zu lösen. Also schaue ich mir mal Zahlen an, um über
die Sozialhilfe und ihre Empfänger mitreden zu können.
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- Die Sozialhilfeempfänger
Sozialhilfe wird im Gegensatz zu den Sozialversicherungen ganz
und gar aus den Steuermitteln der Gemeinden für solche Menschen
bezahlt, die durch die Sozialversicherungen nicht genügend
oder überhaupt nicht geschützt sind.. Bei den Sozialversicherungen
handelt es sich um Versicherungsleistungen, durch die ca. 90%
unserer Bevölkerung versichert sind.
Circa 3 % unserer Bevölkerung erhalten Sozialhilfe. Diese
Zahl ist allerdings eher im Steigen begriffen. Es könnte
ja sein, dass die zunehmende Verarmung der Bevölkerung der
Hintergrund für die Kampagne in den Medien ist. Von diesen
Sozialhilfeempfängern sind ca. 40% nicht im erwerbsfähigen
Alter, es sind also entweder Rentner über 65 Jahre, die
keine oder nur eine unzureichende Rente erhalten oder Kinder
unter 15 Jahren, die in einem elterlichen Haushalt leben, der
Sozialhilfe empfängt, oder die in Heimplätzen untergebracht
sind.. Diese ca. 40% der Sozialhilfeempfänger kommen also
für den Arbeitsmarkt nicht in Betracht.
Von den ca. 60% Sozialhilfeempfängern im erwerbsfähigen
Alter (im Alter von 15 65 Jahren), jetzt wieder als 100%
gerechnet, sind ca. 57 - 58% als arbeitssuchend gemeldet, finden
aber derzeit nichts. Die Chancen der über-50-Jährigen
dort sind dabei auf dem Arbeitsmarkt am geringsten (ca. 18% der
Sozialhilfeempfänger im erwerbsfähigen Alter).
Folgende Personengruppen fallen aber aus anderen Gründen
aus der Statistik der Arbeitssuchenden heraus: Es sind zwischen
5 und 7% von ihnen berufstätig, aber ihr Gehalt liegt unter
dem Sozialhilfesatz, so dass sie zusätzlich Sozialhilfe
empfangen. Diese Zahl ist eher steigend. Weitere ca. 6 bis 7%
sind auf einer Fort- oder Weiterbildung und stehen aus diesem
Grund dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Diese Zahl geht
eher zurück, weil die Sozialversicherungen einschließlich
der Bundesanstalt für Arbeit sich diese Kosten vom Hals
schaffen will. 17 - 18% können wegen häuslicher Bindungen
nicht arbeiten, z.B. weil sie Kinder oder pflegebedürftige
Personen zu versorgen haben, oft sind sie alleinstehend (ohne
Partner).
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- Ca. 3 bis 5% der Sozialhilfeempfänger
im erwerbsfähigen Alter können wegen Krankheit oder
Behinderung nicht arbeiten, 2 bis 3% sind wegen vollkommener
Erwerbsminderung erwerbsunfähig. Das sind also ca. 33 -40%
der Sozialhilfeempfänger im erwerbsfähigen Alter. Ca.
4 6 %der Sozialhilfeempfänger im Erwerbsfähigen
Alter werden weder von der Bundesanstalt für Arbeit als
arbeitssuchend geführt noch kann man sie einer der o.a.
Personengruppe zuordnen. Sie sind überwiegend Teil der Nichtsesshaften,
deren Anzahl aber größer ist, weil manche von ihnen
auch keine Sozialhilfe erhalten.
Rechnet man nun die Sozialhilfeempfänger im erwerbsfähigen
Alter, die aber aus den angegebenen Gründen nicht arbeiten
können, zu den 40% der Sozialhilfeempfänger hinzu,
die aus Altersgründen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung
stehen, dann sind dies zusammen zwischen ca. 65 bis 70% der gesamten
Sozialhilfeempfänger, die aus unterschiedlichen Gründen
dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht zur Verfügung stehen
können. Unter den übrigen ca. 30 - 35 % (zur Gesamtzahl
gerechnet) der Sozialhilfeempfänger im arbeitsfähigen
Alter befinden sich ca. knapp 10% Langzeitarbeitslose im Alter
von 50 - 65 Jahre (wieder zur Gesamtzahl gerechnet). Also sind
es zwischen 25 und 30% der Sozialhilfeempfänger, die real
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und sich plötzlich
in dieser Gruppe wiederzufinden, das kann heutzutage ganz schnell
all denen passieren, die noch eine Arbeit haben.
Die Sozialhilfeempfänger sind zu ca. 55% weiblich. Eine
große Gruppe sind alleinstehende Frauen mit Kindern oder
überhaupt einkommensschwache kinderreiche Familien. Der
Anteil von Ausländern unter den einkommensschwache Familien
ist größer als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.
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- Was soll dann das ganze Geschrei?
Das Geschrei in manchen Medien über die Sozialhilfebetrüger,
die sich auf Kosten der Gemeinschaft ein schönes Leben machen
und nicht arbeiten, soll wahrscheinlich dazu führen, dass
demnächst die Sozialhilfe allgemein gesenkt wird und dass
niemand in der arbeitenden Bevölkerung etwas dagegen hat.
(js)
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