76. LUST, Herbst 03
Das Kopftuch
Das Bundesverfassungsgericht hat also entschieden, dass das Kopftuch der Muslimen, getragen bei der Ausübung des Dienstes einer Staatsbeamtin, einer Lehrerin, per se nicht gegen die Verfassung verstoße. Es könne aber Landesgesetze gegen das Kopftuch geben. Dann könnten die Bundesländer, die ja die Dienstherren der LehrerInnen sind, das Kopftuch verbieten.
 
In der Diskussion in unsere Gruppe kam zutage, dass da zwei Seelen in unserer Brust miteinander ringen. Einerseits wollen wir uns nicht vom Staat vorschreiben lassen, was wir bzw. die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst anziehen, andererseits ist uns beim islamischen Fundamentalismus nicht geheuer. Wir unterstellen ihm, dass er nach der Staatsmacht zu greifen versucht, dass er versucht, mit Gewalt und Androhung von Gewalt Menschen unter seine Kontrolle zu bringen, dass er nicht nur für uns, sondern auch für „normale“ Muslime eine Gefahr darstellt und dass man ihn mit allen geeigneten Mitteln in seine Schranken weisen muss. Und es gibt auch gar keine Argumente, die uns einfallen könnten, dass dies nicht so sei.

Viele aus unserer Szene sagen sinngemäß: da haben wir nun endlich einen Spielraum zum Leben ertrotzen können, und das gelang uns nur, dass die Kirche(n) nicht mehr über viel weltliche Macht verfügen, und nun empfinden fundamentalistische Muslimen dies als ihre Chance. Sie sehen den laizistischen (weltlichen) Staat als ein religiöses Vakuum an, das sie religiös füllen möchten, und zwar nach der Salamitaktik Schritt um Schritt. Na so etwas muss dann doch auch ihre religiösen Konkurrenten mobilisieren, was für uns alles andere als angenehm ist.

Nun liest man von den Befürwortern eines Verbotes, dass 1. Der Koran weder das Kopftuch und schon gar nicht die Ganzvermummung der Frau vorschreibe, dass 2. durch den islamischen Fundamentalismus das Kopftuch zwangsweise den Frauen in den betreffenden Ländern aufgezwungen werde und deshalb das Symbol für den politischen Fundamentalismus des Islam geworden sei, dass 3. die aus Afghanistan stammende Lehrerin in Hamburg gewohnt habe, wo ihr das Kopftuch im Schuldienst überhaupt nicht verwehrt worden sei, doch sie habe sich bewusst in Baden-Württemberg beworben, um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu erzwingen.
Wir glauben, dass diese Argumente der Verbotsbefürworter stimmen. Und der „Zentralrat der Muslimen”, der diese Lehrerin bei ihren Prozessen unterstützt, scheint ein Dach eher muslemisch-fundamentalistischer Kräfte zu sein. Aber wir zweifeln daran, dass ein solches Verbot wirklich die Gefahr des islamischen Fundamentalismus für die islamischen Menschen in Deutschland reduzieren kann, und die Gefahr des islamischen-fundamentalistischen Terrorismus auch nicht. Wir befürchten auch durch die Auseinandersetzungen für uns schädliche Veränderungen in der Gesellschaft.

Nehmen wir die hessische Kultusministerin, die eine Bemerkung machte, der man beipflichten kann, nämlich dass der Koran das Kopftuch nicht zwingend vorschreibe und es sich hier um eine bewusste Demonstration handele. Sie sagte aber leider auch noch,
dass die Muslime (und wohl auch die Angehörige anderer Religionen) zu akzeptieren hätten, dass Deutschland christlich geprägt sei. Sicher, unsere Geschichte ist voll vom kirchlichen Einfluss auf Gesellschaft und Staat. Und das waren immer schreckliche Zeiten für homosexuell empfindende Menschen. Die Kirche versucht auch heute immer noch, unser Leben zu beeinträchtigen und versucht, christliche PolitikerInnen, besonders die CDU, zu beeinflussen, uns in unserer Selbstentfaltung zu beschneiden.

Aber heutzutage ist das noch nicht wieder so. Unser Spielraum ist so groß geworden, dass die Verletzungen, die wir erleiden müssen, eher aus unseren eigenen Reihen kommen statt von unseren Feinden in Kirche und CDU/CSU. Es gibt sogar eine derart große Freizügigkeit für uns, dass es Menschcen in der CDU/CSU gibt (die für diese Partei in unseren Reihen Reklame machen), die innerhalb ihrer Partei als Kritiker gegen Lesben- und Schwulenfeindliches geduldet werden. Die religiös motivierte Diskriminierung ist als zurückgegangen.
 
Denn genau das wollen wir ja nicht mehr akzeptieren, wir Menschen, die gerade deshalb die Möglichkeit des halbwegs zufriedenstellenden Lebens als Lesben und Schwule haben, weil die christlichen Kirchen die Macht nicht (mehr) haben, uns dafür
weltlich zu bestrafen. Ein Verbot des Kopftuches in staatlichen Einrichtungen wäre vielleicht das Zurückdrängen eines religiös motivierten Angriffes auf die Neutralität des Staates, wenn der wirklich neutral wäre. Das Verbot des Kopftuches könnte allerdings auch die Türen dafür öffnen, auch uns betreffende weitere Einschnitte in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen zu rechtfertigen. Denn der Arbeitsplatz, auch im öffentlichen Dienst, ist ja nicht ein Ort, wo wir uns immer ducken und verkleiden müssen, er ist oder sollte auch ein Ort sein, wo wir authentisch sein wollen. Wir sind also in einem Dilemma.

Es muss in unserem Interesse sein, jegliche Religion bezw. deren organisierte Form zu bekämpfen, die den Griff nach der staatlichen Macht wagt. Der Staat muss sich hier neutral verhalten und für weltlich eingestellte Menschen wie auch für die, die nach den
Regeln eines angeblichen Überwesens leben (wollen), ein akzeptables Leben ermöglichen. Dieser politische Kampf ist nicht durch ein Kopftuchverbot zu gewinnen. Vielleicht wäre ein Kopftuchverbot hilfreich, um Grenzen abzustecken, wie auch das Verbot, in staatlichen Einrichtungen das Kruzifix aufzuhängen hilfreich ist, weil ja auch eher wissenschaftlich denkende Menschen oder Menschen auch anderer Religionen diesen Staat als ihren Staat haben, ob sie es wollen oder nicht.

Die Kruzifixe hängen in Bayern übrigens immer noch an den Wänden der Klassenzimmer. Unsere Politiker schwören „so wahr mir Gott helfe”, der Staat sammelt die Kirchensteuer ein und Kirchen betreiben Privatschulen, Krankenhäuser und Kindergärten, können dabei ihre Einrichtungen nach ihrer Politik ausrichten und der Staat bezahlt aus den Steuergeldern aller Bürger die finanziellen Aufwendungen dieser Einrichtungen. Unser Bestreben muss die strikte Trennung von Staat und Kirche sein, und die Frage des individuellen Glaubens muss eine persönliche Sache, etwas Privates werden.

Deshalb ist auch die Erklärung der deutschen katholischen Bischöfe zu verurteilen, die einen Hinweis auf Gott in dem europäischen Verfassungsentwurf vermissen. Das ist eine Zumutung und Missachtung aller Menschen, die an ein irgendwie geartetes Überwesen nicht glauben und die sich nicht von den menschlichen Stellvertretern dieses angeblich existierenden Überwesen zwingen lassen wollen, ständig solch eine seltsame Floskel benutzen zu müssen.

Der Zentralrat der Muslimen in Deutschland behauptete, Ein Kopftuchverbot stelle ein Berufsverbot für alle muslimischen Frauen dar. Diese Behauptung ist deshalb unverschämt, weil hier behauptet bzw. intendiert wird, dass alle muslimischen Frauen das Kopftuch tragen müssen. Damit wird also auch Druck auf die muslimischen Frauen gemacht, das Kopftuch zu tragen. Es darf aber niemanden erlaubt werden, den betreffenden Frauen Vorschriften zu machen. Immerhin haben wir hier die Freiheit der individuellen Entscheidung.
Das Problem des islamischen religiösen Fundamentalismus wird dadurch erst überhaupt zu einem, weil ganze Stadtviertel mit einer moslemischen Infrastruktur entstehen, in denen durch massenhafte Gesetzesübertretungen andere Gesetze gelten und sanktioniert werden, als sie in unseren Gesetzbüchern stehen.

Hier werden Frauen gezwungen, Kopftücher zu tragen. Die Bildung solcher Viertel wird übrigens von den religiösen Scharfmachern gepredigt und gefördert, weil dies ihre Macht vergrößert. Solche Viertel konnten entstehen, weil es kaum wirkliche Integrationsbemühungen gab. Hier leben Frauen und junge Menschen, die unsere Sprache nicht lernen, die in der Infrastruktur ihres Viertels alles vorfinden, was sie zum Leben benötigen, und mitten drin treiben die fundamentalistischen Priester ihr Unwesen und agressive Jugendbanden spielen die selbsternannte Ordnungsmacht. Von hier aus werden Kinder in islamistische Internate geschickt, und sie leben zwar in Europa, haben aber keinen Zugang zur sogenannten Aufklärung also zu einem weltlichem Demken.

Das alles kann und darf nicht zugelassen werden. Um den Fundamentalisten das Wasser abzugraben, müsste es aber zu weitgehender Integration kommen, mit dem Ziel, die Menschen für eine offene und freie Gesellschaft zu gewinnen. dazu muss sie aber auch wirklich offen und frei sein.

Wenn wir nicht nur für den Rechtsstaat und seinen individuellen Bürgerrechten und die Prinzipien der französischen Revolution sind, Staat und Kirche zu trennen, wenn wir auch noch für die individuelle Emanzipation des Menschens sind, dann darf keinem Menschen vorgeschrieben werden, wie er sich anzieht.

Der bessere Weg wäre es, einen Druck auf solche Leute auszuüben, die Frauen zwingen wollen, sich mit dem Tuch zu entmündigen.
Und da beißt sich eben die Katze in den Schwanz. Wenn wir das Kopftuch verbieten wollen, setzen wir uns eben auch über individuelle Entscheidungen hinweg. Welche individuelle Entscheidung ist denn nicht aus irgendwelchen Zwängen und Drücken entstanden? Man gibt oftmals nur dem stärksten Druck nach. Und der stärkste Druck kann auch in der Hose spürbar sein, wodurch dann die Mode beeinflusst wird. Dennoch, es sollte kein Mensch einem anderen Menschen vorschreiben, wie er sich zu kleiden hat.

Im Grunde müssen wir anders vorgehen als durch das Kopftuchverbot, wenn wir die Emanzipation der Menschen voranbringen wollen.
Ein Kopftuchverbot ermöglicht es den Scharfmachern, jugendliche in Deutschland geborene Muslime wieder in ihre Arme zu treiben, weil sie eine Diskriminierung glaubhaft machen können.

Eraluben wir doch dieses individuelle Recht, sich so zu kleiden, wie jeder Mensch es für sich für richtig hält und auch so zu leben. Und bekämpfen wir die religiös motivierten Gewalttäter, die sich anmaßen, andere Menschen zu zwingen, sich ihrem Diktat zu beugen. Das ist ja auch für uns lebenswichtig, damit nicht irgendwelche Moralisten, die lesbischen oder schwulen Sex zugunsten ihrer Moralauffassung verbieten wollen, die staatliche Möglichkeit erhalten, uns wieder zu verfolgen, einzusperren usw.
 
1. Wir müssen von dem Selbstbestimmungsrecht des mündigen Individuums ausgehen und diese Haltung immer und überall dort vertreten, wo man Gründe vorgibt, diese staatlicherseits einzuschränken.

2. Wir müssen, wo immer es uns möglich ist, die befreiende Tugend des Zweifels gegen die Denkverbote und angsterzeugenden Doktrinen des religiösen Glaubens stellen.

3. Wir müssen versuchen, überall dort, wo Menschen von politischen oder religiösen Führern fremdbestimmt und gelenkt werden könnten, die Aufklärung dagegen setzen.

4. Wir müssen dazu beitragen, dass nirgendwo sogenannte Slums oder religiös bzw. ethnisch begründete Inseln entstehen, in denen Menschen von der Wahrnehmung ihrer individuellen Rechte abgehalten werden können, und wir müssen es den Menschen ermöglichen, außerhalb dieser Viertel Fuß zu fassen, wenn sie da raus wollen.

5. Unser politischer Kampf ist komplizierter geworden, denn wir kämpfen nicht nur gegen offensichtliche Unterdrücker und Unterdrückungen, sondern um die Köpfe von Menschen.
 
Wir wollen aufgeklärte Menschen als Bündnispartner für das Recht, unser Leben nach unseren Bedürfnissen gestalten zu dürfen und Gedanken denken zu dürfen, die andere sich nicht zu denken trauen, weil ihnen dies als Sünde verboten wurde. (RoLü)
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