76. LUST, Herbst 03
Das demonstrative Desinteresse
Jemand liegt hilflos auf der Straße, alle laufen vorbei. Jemand ist in unserer Szene sichtbar in einem schlimmen Zustand, alle ignorieren dies. Zwischen Menschen ist die Verbindlichkeit, die Mitmenschlichkeit verschwunden.
 
Im Mitmenschen etwas “Menschliches” zu sehen, scheint heutigen Zeitgenossen zunehmend schwer zu fallen. Der Mitmensch ist Konkurrent, Hindernis, im Wege, unangenehm, seine Sorgen sind eine Belastung, man möchte sich offensichtlich nicht auf ihn einlassen. Man möchte sich nicht mit ihm belasten, man möchte nichts mit ihm zu tun haben. Mitmenschen sind gar keine als solche, sondern es sind Feinde. Es gibt zu viele von ihnen. Überall, wo man hin will, sind andere schon da. Sich um sie zu kümmern? Interesse an ihnen haben? Wozu denn? Da müsste man ja unbegrenzt Zeit haben.

Na ja, wenn es um ein liebenswertes Geschöpf geht, dann ist das natürlich anders. Also: Das Zweckdenken des Ego-Taktikers, der sich um den Mitmenschen kümmert, weil er ihm einen Zweck erfüllen kann, man kann es zumindest auf diese Weise versuchen. Menschen werden also sortiert. Dass jemand ein Mensch ist und ihm deshalb Achtung gebührt, das ist ein unangenehmer Gedanke, dem man nicht folgen möchte. Utilitarismus heißt diese Haltung: krasses Nützlichkeitsdenken.

Kritik an Desinteresse finden wir überall. Frauen beschweren sich beispielsweise, dass der Typ kein wirkliches Interesse an ihnen habe, wenn sie kein Interesse an dessen sexuellen Wünschen hätten. Die sich da beschweren, handeln widersprüchlich, denn “der Typ” könnte ebenso sagen: sie will ständig meine ungeteilte Aufmerksamkeit, aber wenn es um meine Gefühle geht (den sexuellen), dann ist sie abweisend.

Sie sagt dann darauf hin: ich interessiere mich doch für dich, zum Beispiel für deine Arbeit, für deine Eltern und Geschwister, und dass alles interessiert dich nicht an mir. Und er sagt dann, ich interessiere mich für dich, zum Beispiel deine Bewegungen, die Art, wie du mit mir sprichst, für deine Beine, die Brüste usw. Aber du interessierst dich nicht für mich mit meinen Bedürfnissen, meinen Penis, sondern um meine Arbeit, meine Kollegen usw.

Im Grunde interessieren sie sich eigentlich für Unterschiedliches beim angeblichen Interesse füreinander. Und das jeweils andere, für das die Partnerin oder der Partner sich interessieren, ist ihnen offensichtlich nichts wert.

Das Beispiel oben aus der Hetenwelt soll nun nicht nahe legen, dass ich hier zwischen den Heten als schlechtes Beispiel und uns als gutes Beispiel sortiere, denn das wäre sehr billig und vor allem auch falsch. Ich differenziere zwischen der vorgegebenen Normhaltung, die zudem noch hetig ist, und dem realen gelebten Leben, dort vorrangig unserem realen Leben.
 
Desinteresse an Menschen und an Verbänden
Das Interesse anderer verlangen oder erwarten, diese Haltung haben viele drauf. Menschen erwarten das von anderen Menschen. Institutionen erwarten dies von Menschen. Kirchen und Parteien beklagen das Desinteresse der Menschen an ihnen. Menschen beklagen das Desinteresse der Parteien und Kirchen an ihnen. Was noch vor einigen Jahren zum Standart des Umgangs miteinander gehörte, das ist nicht nur aus der Mode gekommen, es führt sogar zu unverständlich, Interesse zu verlangen.

Desinteresse wird auch in den Medien als ablehnende Haltung gewertet, gegenüber dem Interesse, sich zu informieren und bilden, zum Beispiel gegenüber entscheidend wichtigen Hintergrundinformationen. Und als Erklärung wird angenommen: man will es nicht wissen, um die bisherige Haltung dazu beibehalten zu können. Das stimmt sicherlich auch oft, denn Menschen lieben ihre Vorurteile. Vielen geht es aber auch darum, die Welt um ihre Bedürfnisse herum zu ordnen und sie freuen sich, wenn sie Gründe zu haben glauben, moralische oder ethische Skrupel hier nicht berücksichtigen zu müssen. Hintergrundinformationen würde da nur stören. Andererseits gibt es auch angebliche Hintergrundinformationen, die in Wirklichkeit das Vereinannahmen zugunsten einer anderen oder einer fremden Ethik darstellen. Und da gibt es doch das Recht eines jeden Menschen, sich solchen Manipulationsversuchen zu entziehen.

Aber auch gegenüber Politiker und Wahlen wird das Desinteresse beklagt. Desinteresse wird beklagt, wenn jemand der Meinung ist, dass wir uns für etwas interessieren müssten, beispielsweise eine Religion oder der Moral irgendwelcher Spießer.

Im Vertragsrecht wird Desinteresse teilweise aber auch als Zustimmung gewertet, zum Beispiel wenn eine Eigentümerversammlung über die Renovierung des gemeinsam genutzten Treppenhauses entscheidet. Im Vereinsrecht, wenn Vereinsmitglieder bei der Vorstandswahl nicht erscheinen und somit billigen, was die anderen Mitglieder entscheiden, ist dies ein Frage der Satzung.

Das gleiche Verhalten bedeutet also Abneigung und Zustimmung? Ja, in gewisser Weise. Desinteresse bedeutet, dass die hier zur Entscheidung anstehende Frage für die eigenen Belange ohne Bedeutung erscheinen. Es ist nicht der Mühe wert, sich damit auseinander zu setzen. Es kann bedeuten, dass die Menschen durch überlagernde Reize bewusst davon abgehalten werden, sich um ihre eigenen wichtigen Belange zu kümmern. Bei Interesse und Desinteresse müssen wir offenbar sortieren zwischen solchen Belangen, die gar keine sind, sondern nur Funktionalisierungen darstellen, und solchen die zwischenmenschlich unabdingbar sind.
 
Weitere Sortierungen
Man kann im übrigen gar nicht anders, als sich zu entziehen, denn ständig bekommen wir irgendwoher suggeriert, dass wir uns hierfür und dafür unbedingt interessieren müssten. Sogar das Gefühl, Mitmenschen in ihrer Not helfen zu müssen, wird in der Werbung missbraucht. Drückerkolonnen arbeiten mit dem Trick, dass der Drücker in großer Not sei, wenn man die Zeitschrift nicht bei ihm bestellen würde, was tatsächlich oft auch stimmt. Traurige Kinderaugen sehen uns an, und ein Konto wird eingeblendet. Ich glaube, dass wir es in der Welt, wie sie geworden ist, gar nicht mehr aushalten können, ein großes offenes Herz zu haben. Unsere Gefühle sind da schon viel zu oft missbraucht worden.

Und Geld wird uns überall abgenommen, da haben wir nicht so viel, um es überall hin verteilen zu können. Wir haben also das Gefühl, uns gegenüber menschlichen Schicksalen verschließen zu müssen, sofern es sich nicht um Menschen handelt, deren Schicksal uns deshalb berührt, weil wir von ihnen berührt werden. Also müssen wir lernen, zu sortieren.

Eine Beobachtung: Ein offensichtlich gehbehinderter älterer Mann geht an einer Häuserwand entlang, hält sich immer mal fest. Ihm kommen zwei junge Frauen in ein demonstratives lautes Gespräch vertieft, entgegen, eine mit einem Hund an einer langen Leine. Beide sind modisch gekleidet. Der jungen Frau mit dem Hund macht es nichts aus, zumindest interessiert es sie nicht, dass ihr Hund dem alten Mann vor die Füße läuft und die lange Leine sein Weiterkommen behindert.
 
Er versucht mit einem Zischen den Hund zu verjagen, was die junge Frau sofort interessiert, denn sie schreit den Mann an: “So können sie doch nicht mit meinem Hund umgehen. Wenn ich so etwas mit ihnen machen würde.” Der alte Mann ruft empört: “Halts Maul!” Und als die junge Frau ihn deshalb zur Rede stellen möchte, unterdessen richtet sich auch der Zorn der Freundin der jungen Frau gegen den Mann, ruft er, ihre Worte übertönend, ständig: “Halts Maul”.

Die Passanten drehen verwundert die Köpfe nach dem alten Mann, der sich hier für sie durch seine Worte ins Unrecht setzt, denn so geht man doch nicht mit einer so gutaussehenden jungen Frau um. Alle scheinen Mitgefühl mit den beiden schimpfenden Frauen zu haben.

Die zwischenmenschliche Hartherzigkeit, die dazu führ, dass viele Menschen sich gar nicht mehr um eine Spur von Fairness oder Objektivität bemühen, sondern gemäß ihrer Interessen und Empfindungen des Augenblicks agieren, dieses demonstrative Desinteresse ist aber durch den Missbrach unseres Interesses nicht zu entschuldigen. Es wirkt sich natürlich auch besonders in unserer Szene aus, wo nur noch selten Tiefe und Ernsthaftigkeit sowie selbstverständliche zwischenmenschliche und solidarische Hinwendung bzw. Zuwendung existieren.
 
Unsere Szene?
Ich gehöre der gesellschaftlichen Minderheit homosexuelle Männer an, und dort der überwiegenden Mehrheit der Männer, der sich von der erotischen Faszination jugendlicher Männer sehr stark angezogen fühlt. Bei meinen sexuellen Begegnungen mit jungen Männern erstaunt mich immer wieder, wie gradlinig sie ihr sexuelles Interesse verfolgen, ohne den Umweg von Beziehungsgesprächen usw. während sie andererseits behaupten, dass es ihnen um die eine und wahre Betziehung gehe.
 
Sie beklagen außerdem, dass sich niemand für sie als Mensch interessiert, sondern nur an ihrem Körper, geben mir aber andererseits gar keine Möglichkeit, mich menschlich mit ihnen zu befassen, denn nach dem Abspritzen haben sie ja ihre Bedürfnisse erfüllt, und dann tschüss. Dass sie sich vielleicht auch für mich als Mensch interessieren könnten, kommt ihnen nun gar nicht in den Sinn. Nanu? Argumentiere ich hier so, wie das oben beschriebene Hetenbeispiel, und zwar die Position der Frau, die das mangelnde Interesse des Mannes am Mitmenschen beklagt?

Auf jeden Fall müsste ich damit rechnen, dass bei einem Streit oder einem gegenseitigen Nichtverstehen zwischen einem meiner junger Lover und mir sich eine Menge an ihm interessierter Männer finden würden, die diese Situation zu ihren Gunsten zu nutzen versuchen würden. Von ihnen hätte ich überhaupt kein Verständnis zu erwarten, eher absolute Feindschaft, obwohl sie ja selbst in der gleichen Lage sind, während der junge Lover immer als der jeweils Verstandene dasteht, was sein Selbstbewusstsein besonders stärkt. Und da seine Ratgeber eher eigennützig sind, wird das Desinteresse an den Bedürfnissen des älteren Partners, besonders der gefühlsmäßigen Bedürfnisse, eher verstärkt.

Also ist ihnen auch ein gefühlsmäßiges Eingehen auf die älteren Liebhaber eher unangenehm. Sie wittern dahinter Klammerversuche, die ja tatsächlich auch stattfinden. So bedingt sich hier alles gegenseitig. Auch im Heten-Bereich könnte ich (und all die anderen schwulen Männer, die sexuelle dem Jugendkult nicht widerstehen könne und wollen) kein Verständnis finden, denn die halten ja die älteren Partner als Täter und die Jugendlichen als Opfer, was ein völlige Missdeutung der Lage ist. Je größer der Alterunterschied, umso spontaner reagiert der junge Partner lediglich seine Gefühle ab und umso seltener wird der ältere Partner ein zufriedenstellendes Gefühl aus der Situation ziehen können.

Nun ist das Leben für einen jungen Partner in einer altersungleichen Beziehung auch nicht immer eitel Sonnenschein. Ich habe von ihnen gehört, dass sie sich über ihren älteren Partner aus folgenden Gründen beschweren: Er geht nicht mit ihnen in die Disco, er empfindet eine Reihe von Problemen Jugendlicher mit Gleichaltrigen als Kindereien und nimmt sie nicht ernst. Das hier Beschriebene trifft nicht auf alle dieser Beziehungen zu, denn bei einigem dieser Beziehungen findet auch die gegenseitige Befruchtung des Lebens statt, denn es kommt natürlich dann noch die Persönlichkeit der Beteiligten hinzu. Es ist hier die Fähigkeit zu reflektieren sehr hilfreich.

Das gegenseitige Desinteresse am Teilen des Lebens des anderen Menschen scheint dann nicht so ausgeprägt zu sein, wenn eine Kultur des Miteinanderumgehens entsteht. Unter solchen Bedingungen entsteht auch eine altersungleiche Kameradschaft, die dann entweder die Erotik erhalten kann oder eben zunehmend unerotisch wird. Das verbindet sie dann mit den altersgleichen Beziehungen.
Das oben Beschriebene und die Problematik altersungleicher Beziehungen soll aber nicht dazu führen, Altersgleiche Beziehungen für einen Ort vollendeter Harmonie zu halten.
 
Das Demonstrieren
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Lesben untereinander und die Schwulen untereinander oft größere Verletzungen zufügen als es durch Heten geschieht. In der Szene begegnen sich Menschen und zollen sich dort kaum Respekt, vielleicht einen Gruß. Sprechen sie Belangloses miteinander, sind die Augen ständig auf dem Weg, auf der Suche, denn der Augenkontakt ist der Hinweis für Interesse.
 
Trifft man freundliche Augen, die nicht ausweichen, kann man Interesse annehmen. Sind die Augen plötzlich weg, dann ist Desinteresse dominierend. Bleibt der Blick auf einem gerichtet, er bleibt hart, eher verachtend, dann ist sogar offene Feindseligkeit anzunehmen. Dann ist es allemal besser, diesen Menschen nicht mehr zu beachten, überhaupt nicht mehr dort hinzusehen, denn unliebsame Szenen sind nicht auf Heten-Lokale beschränkt. Das Nichtbeachten kann aber möglicherweise auf den aggressiven Menschen auch provozierend wirken.

Ehrlich gesagt habe ich diese aggressive Erfahrung aber nahezu ausschließlich im Heten-Umfeld gemacht. Zum letzten Mal sogar in diesem Jahr bei einem Betriebsausflug durch einen (besoffenen) Arbeitskollegen, der von meiner sexuellen Identität (wie eigentlich alle Kollegen) weiß und offen sagte, dass er damit nicht zurecht komme und es auch nicht wolle. Dies demonstrierte er dann auch, indem er sich neben mich quetschte, mich mit seinem Ellebogen drangsalierte und süffisant den Arm um mich legte. Einfach ekelhaft. Sein Verhalten wurde immer unangenehmer. Ich konnte nicht, ohne vor verwunderten KollegInnen, die das “Vorspiel” nicht beobachten konnten, darauf reagieren, ohne aus der Rolle zu fallen. So zog ich es vor, wo anders hinzugehen, den Platz zu wechseln, während der an sich schöne Tag damit gründlich versaut war. Noch ist es nicht so weit, dass wir überall wir selbst sein können. Dass dies aber im Kolleginnenkreis auftauchte, wo man sich normaler Weise gegenseitig unterstütz, damit hatte ich nun nicht gerechnet.
 
In der Szene
Wenn man in einem Szene-Lokal alleine rumsitzt, ohne jemanden zu kennen, wenn man dabei auch nicht sehr jung ist, kann man sich vorkommen wie nicht bestellt und schon gar nicht abgeholt. Um Haltung wahren zu können und für interessant gehalten zu werden, muss man die Möglichkeit haben, eine gewisse laszive Lässigkeit an den Tag zu legen, und dazu bedarf es einer Bühne.
 
Die Bühne ist zum Beispiel das Gespräch mit jemanden Unwichtiges um irgend ein unbedeutendes Thema, während man die Gegend mustert. Man spricht dann mit dem Gesprächspartner, um für andere sichtbar zu sein. Und wenn sich die Aufmerksamkeit zeigt, um vielleicht auch hörbar zu werden. Ist keine solche Bühne vorhanden, kann man mit fremden Menschen, die im Moment kein sexuelles Interesse an uns haben, auch nicht so gut ins Gespräch kommen. Sie zeigen deutlich ihr offenkundiges Desinteresse.

Desinteresse kann vor Publikum derart verletzend eingesetzt werden, dass es schwierig ist, das Gesicht zu wahren. Auf jeden Fall ist der Zweck, sich Möglichkeiten zu erarbeiten, von einem möglichen Interessenten wahrgenommen zu werden, dann noch weniger zu erreichen. Denn ein möglicher Interessent könnte es sich gar nicht leisten, mit einem “Looser” vor der Öffentlichkeit der anderen Lokalbesucher zu zeigen. Er käme dann auch in die Situation, von da an Schwierigkeiten zu haben.
 
Es gibt Menschen in unserer Szene, die bei wirklichem Desinteresse darauf achten, dass dies für den Gesprächsuchenden nicht so blöde aussieht. Das wäre menschlich fair. Aber es ist oft auch ein sadistisches Vergnügen daran zu beobachten, den Mitmenschen hier zu demütigen. Und dies geschieht eben deutlich genau durch das demonstrative Desinteresse.

Das demonstrative Desinteresse
Wenn der andere, der als Sexpartner für dich nicht infrage kommt, auf irgendeine Weise einen Gesprächskontakt herzustellen versucht, dann ist dies kein Angriff. Und weil es kein Angriff ist, könnte es auch ein Interesse sein.

Ist es dann aus deiner Sicht ein Angriff, weil du glaubst, du müsstest ihn abwimmeln? Also ich halte es so, dass ich ein solches Gespräch, falls es eine von mir nicht angestrebte Wendung nimmt, offen sage, dass dieser Gesprächspartner eine interessante Auffassung über das Problem der Abwässerbeseitigung im Libanon hat, aber dass er trotzdem nicht in mein Beuteschema passt, dass ich also leider auf diesem Gebiet nichts mit ihm anfangen möchte. Nur wenn er damit nicht locker lässt, muss ich deutlicher werden, und das kann vielleicht dann für ihn peinlich werden, wenn er mich einfach durch sein Verhalten zwingt, ganz und gar abweisend zu werden. Aber das ist höchst selten der Fall.

Ich habe allerdings auch schon erlebt, dass ein nachhaltiges Werben dazu führte, dass ich mich halt doch auf ihn eingelassen haben, und dann war es oft besser als erwartet, gerade weil es nicht erwartet war. Manchmal war es auch richtig gut, und ich bin im Nachhinein froh darüber gewesen, dass er sich vorher eine solche Mühe mit mir gegeben hat.

Es könnte aber auch sein, dass er auf die gleiche Sorte von Typen reflektiert wie ich. Dann könnte es sein, dass er mich nicht nur als Bühne, sondern als Fußabtreter benutzen möchte, um gut und interessant dazustehen. Nun, ich habe für diesen Fall durchaus meine entsprechende Wortwahl, denn zum Trottel gemacht werden, das möchte ich nicht. Meistens klappt das. Aber meistens geht es ja nur um die oben besprochenen Zusammenhänge und sonst nichts. Warum soll man sich da nicht gegenseitig behilflich sein?

Ich will es mal auf der Ebene des Nützlichkeitsdenkens ausdrücken, wenn Menschliches aus dem Auge verloren wurde: Wenn man immer wieder mögliche Gesprächspartner demonstrativ zurückweist und gedemütigt im Regen stehen lässt, dann werden bald für einem selbst keine Partner mehr für diese Art Bühnenspiel vorhanden sein. Denn wer hat Lust daran, sich auf diese Weise zweimal behandeln zu lassen? Solls zwar geben, beim devoten Liebesspiel, aber dann nicht dort und nicht in dieser Form. Außerdem könnte es ja sein, dass man dank der “unerklärlichen und rätheselhaften Natur” (Ullrichs) mit zunehmender Reife einen Geschmackswandel durchmacht. Und dann wäre gegenüber den früheren Opfern jedes Aufspielen unsinnig.

Ich selbst bin kein Anhänger des reinen Nützlichkeitsdenkens und des demonstrativen Desinteresses. Für mich gibt es noch Mitmenschlichkeit und auch zwischenmenschliche Solidarität. So kann man auch leben, und das gar nicht so schlecht. Und das sind keine Phrasen für mich. Klar, wenn wieder mal so ein Schnösel glaubt, mich für mein Alter, mein Aussehen, die Uhrzeit oder weil ich gerade da bin abstrafen zu müssen, regt sich in mir der Zorn über diesen psychisch missgestalteten Menschen. Aber eigentlich ist er ja nicht der Feind. Er gibt unüberlegt nur weiter, was in dieser Gesellschaft Menschen sich gegenseitig antun. Er ist ein dummes Kind. Er kann einem leid tun.

Für manche dieser kleinen Monster mag ich also als ein “Weichei” oder ein “Warmduscher” erscheinen. (Das Duschen mit warmen Wasser tut übrigens erstaunlich gut, meine Herren.) Die erwünschten Tugenden, unmenschlich und hart zu sein, lassen auf eine neue Verwendung der Jugendlichen als Soldaten schließen. Schade um sie. Meist sind sie dann stolz, wenn sie über solche neandertalerhaften Eigenschaften verfügen, die Neandertaler sind übrigens ausgestorben. Gerade solcher Menschen positives Urteil über mich, für die das Monster des Unmenschen das Leitbild darstellt, würde mich in echte Verlegenheit bringen. (js)
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite