74. LUST, Frühling 03, März/April/Mai
 
Gibt es ein Leben vor dem Tod?
Die jenseitsgewandte Gesinnung über ein Leben nach dem Tod verstellt den Blick auf das real existierende Leben. Wie zufriedenstellend leben wir? Welchen Zielen folgen wir? Macht uns das, was wir anstreben, glücklich?
Was am Leben, das wir gegenwärtig führen, ist eigentlich lebenswert?

Nun ist ja ”gutes Leben” selbstverständliches Leben, ”schlechtes Leben” eher etwas, gegen das zu engagieren es sich lohnt. Also sind beide Zustände lebensbejahend, betreffen das Leben vor dem Tod. Da es kein Leben nach dem Tod gibt, betreffen diese Zustände schlicht das Leben. Auf ein Leben nach dem Tod vertröstet zu werden, heißt, dass die Zustände nicht geändert werden sollen und dass die betroffenen Menschen dazu gebracht werden sollen, zu beten statt sich um ihre Interessen einzusetzen.

Nur wenn es nicht möglich ist, sich gegen schlechtes Leben zu wehren, kann das Leben als nicht mehr lebenswert angesehen werden. Man muss also eine Hoffnung haben können, selbst in schlechter Zeit. Kirchen und Religionen geben den Menschen die Hoffnung, nach dem Tode ein „besseres Leben” zu haben. Man wird also auf das Jenseits vertröstet, wenn das reale Leben nur als Tortur empfunden wird, die anderen nutzt.
 
In Erwägung unsrer Schwäche machtet
ihr Gesetze, die uns Knechten solln,
die Gesetze seien künftig nicht beachtet,
in Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein wolln.
In Erwägung, dass ihr uns dann eben
mit Gewehren und Kanonen droht,
haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
mehr zu fürchten als den Tod.
 
In Erwägung, dass wir hungrig bleiben,
wenn wir dulden, dass ihr uns bestehlt,
wollen wir mal feststellen, dass nur Fensterscheiben
uns vom guten Brote trennen, das uns fehlt.
In Erwägung, dass ihr uns dann eben
mit Gewehren und Kanonen droht,
haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
mehr zu fürchten als den Tod.
 
In Erwägung, dass da Häuser stehen,
während ihr uns ohne Bleibe lasst,
haben wir beschlossen, nun dort einzuziehen,
weil es uns in unsern Löchern nicht mehr passt.
In Erwägung, dass ihr uns dann eben
mit Gewehren und Kanonen droht,
haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
mehr zu fürchten als den Tod.
 
In Erwägung, dass wir der Regierung
einfach, was sie uns verspricht, nicht traun,
haben wir beschlossen unter eigner Führung
uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.
In Erwägung ihr hört auf Kanonen,
andre Sprache könnt ihr nicht verstehn,
müssen wir dann eben - und das wird sich lohnen
die Kanonen auf euch drehn.
 
Das dichtete Brecht in seinem Stück: ”Die Tage der Kommune”.
Dieser Brechtsong richtet sich gegen die Haltung, sich aus Todesfurcht viel gefallen zu lassen. Es geht um ”besseres Leben”, und zwar nicht individuell, sondern für uns sogenannten kleinen Menschen.
 
Was wäre denn ein besseres Leben?
Bei Gesprächen mit Arbeitskollegen erklärten mir diese, was ihnen das Leben lebenswert mache, es sei Lebensqualität. Aber was ist das? Gibt es dazu eine einheitliche Definition?

”Lebensqualität (Qualität des Lebens), in den 1960er Jahren in den USA (”quality of life”) aus der wohlfahrtstheoretischen Kritik am einseitigen Wachstumsdenken entstandener komplexer Begriff, für den es noch keine allgemein anerkannte Definition gibt. Ziele der politischen und sozialen Institutionen, die eine Steigerung der Lebensqualität anstreben, sind insbesondere Humanisierung der Arbeitswelt, Entgiftung der Umwelt und der Nahrungsmittel, Schaffung gleicher Bildungs- und Aufstiegschancen und Abbau sonstiger Ungleichheiten, bessere Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sowie Elementen der Infrastruktur und eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung.” Mayers Taschenlexikon in 24 Bände.

Hier sind also Ziele formuliert, an deren Erreichung wir zu arbeiten haben, wenn wir uns um das Verwirklichen unserer Interessen bemühen. Und so können wir also die höhere Lebensqualität anstreben. Es gehr ganz allgemein um das bessere Leben für die Menschheit. ”Lebensqualität” entsteht aus einem qualitätsvollen Rahmen für alle, der das Leben lebenswert macht.

Meine Kollegen und Freunde aber nennen oftmals noch ganz individuelle Ziele. Hinzu kommt, dass sich die gesellschaftspolitischen Ziele individuell, je nach der eigenen Lage in der Gesellschaft, auf den einzelnen unterschiedlich auswirken. Also ist der subjektive Faktor aus dieser Diskussion nicht herauszuhalten. So mag sich ein sehr reicher Mann in einer nicht mehr lebenswerten Situation wiederfinden, wenn er leben muss, wie die leben, denen er seinen Reichtum verdankt: den armen Leuten in seinen Diensten. Und Gedanken an die Allgemeinheit ”verschwendet” doch heute kaum noch jemand, der individuelle Vorteil geht vor.

Was jeweils ein Mensch als Mangel empfindet, hat deutlich etwas mit seiner jeweiligen Lage zu tun, und er wünscht sich, dass dieser Mangel behoben werde. Das sich satt essen Können als wichtigstes Ziel, um einen Mangel zu beheben, ist in unserem begonnenen 21. Jahrhundert leider noch immer die Lebensrealität sehr vieler Menschen. Beim Erkennen der eigenen homosexuellen Neigung wird ein an konservative Normen angepasster Mensch in einem homosexualitätsfeindlichen Umfeld anfänglich vielleicht ersehnen, dass es dies korrigieren könnte. Ist die Repression weniger stark spürbar oder der Selbstbehauptungswille gestärkt, sehnt er sich vielleicht schon nach den entsprechenden Kontakten und Beziehungen.

Bernt Engelmann beschreibt, dass ein normaler Arbeitnehmer, der von ”viel Wohlstand” träumt, vielleicht von einem hohen Lottogewinn träumt, denn das ist für ihn sowohl ein denkbarer Weg, zu Geld zu kommen, als auch eine vorstellbare Summe Geldes. Furchtbar arm und in einer lebensunwerten Situation fühlte er sich vielleicht, wenn er Sozialhilfeempfänger wäre.

Nun gibt es allerdings Menschen, die sich im Schlaraffenland fühlen würden, wenn sie Sozialhilfe erhielten und andere wiederum haben derart viel Vermögen, dass ihnen die Lage eines Lottomillionärs und die eines Sozialhilfeempfängers als ziemlich gleich vorkommt. Aus ihrer Sicht ist da kaum ein Unterschied, sie selbst sind jedenfalls sehr weit von beiden von ihnen entfernt. Sie sind aus ihrer Sicht beide sehr arm.

Menschen, die davon leben, dass sie andere Menschen manipulieren, in den Medien, der Politik und der Werbung usw. Pfarrer und Prostituierte, haben hier ein sicheres Hilfsmittel: das Selbstbewusstsein der zu manipulierenden Personen. Die Sehnsüchte entstehen aus den Entbehrungen seiner Lage, und das Selbstbewusstsein des jeweiligen Menschen hat darüber hinaus noch damit zu tun, welche Rolle er für seine Mitmenschen spielt, das heißt, welche Beziehungsbotschaften und welche Anerkennung und Ablehnung er erhält. Aus diesem Selbstbewusstsein heraus, das er immer ein bisschen rosa färben möchte, entsteht ein von ihm erwünschtes Selbstbild. So, wie sein Wunschselbstbild, möchte er sein und er strebt dann sein Leben lang danach, diesem Selbstbild zu entsprechen. Und dieses erwünschte Selbstbild braucht von dem Manipulator nur verstärkt und bestätigt zu werden.

Kein Mensch hält es aus, wenn sein Selbstbild demontiert oder zerstört wird. Wenn das Selbstbild eines Menschen zerstört wird, entstehen Gefahren des psychischen Zusammenbruchs bis hin zur Suizidgefahr. Und so ist es erklärbar, das ein Mensch, der aufgrund der guten Starthilfe seiner Eltern, günstigen Voraussetzungen in der Gesellschaft, in der er lebt, einer Bildung und Ausbildung, die auf individuelle Karriere trainiert, in eine hervorragende Position gerät. Und er wird es als Belohnung seiner individuellen Leistung ansehen, dass es ihm weit besser geht als anderen und die anderen für selbst schuld halten, dass sie die diese Position nicht erreichen konnten.
 
Sie konnten oder wollten es vielleicht deshalb nicht, weil sie vielleicht wenig oder keine Starthilfe von den Eltern erhielten, in eine ungünstig strukturierten Gesellschaft geraten sind, in ihrer Ausbildung eher lernten, sich den Erfordernissen der Gruppe anzupassen und daher keine Karriere machten, sondern an ihrem Platz in der Gesellschaft gute Arbeit für die Allgemeinheit leisten. Diese werden den Karrieristen für skrupellos und unmoralisch empfinden und sich als redlichen und sozial gesonnenen Menschen sehen.

Selten irren sich die Psychologen der Webebranche oder anderer Branchen in ihren Einschätzungen und bei ihren Manipulationen, denn die Menschen sind nicht so individualistisch, wie viele es gerne sein möchten. Damit möchten sie nur die Voraussetzungen negieren und sich zu einem besonders guten Einzelfall stilisieren. Die Unterschiede zwischen ihnen erklären sich zumeist aus ihrer unterschiedlichen Lage. So verkörpern sie lediglich unterschiedliche Seiten der gleichen Situation. Und genau das lässt sich errechnen.
 
Lebenssehnsucht und Todesfurcht
Wenn Menschen älter werden, taucht in ihnen irgendwann das Gefühl auf, dass sie eigentlich nie richtig gelebt haben. Man bekommt das bisweilen zu hören. Was ist denn das, richtig gelebt? Hier dazu ein Gedicht von Kurt Tucholsky:
 
Danach
Es wird nach einem Happy End
im Film jewöhnlich abjeblendt
man sieht nur noch an ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen
da hat se nun den Gentlemen
na und denn?
 
Dann gehen die beeden brav ins Bett
na ja, is ja ooch janz nett
aber manchmal möchte man doch wissen
wat tun die, wenn se sich nicht küssen
die könn´ ja doch nich immer penn´
na und denn?
 
denn säuselt im Kamin der Wind
denn kricht det junge Paar n Kind
dann kocht die Milch, die Milch läuft über
dann macht er krach, dann weent se drüber
dann wolln sich beede jänzlich trenn
na und denn?
 
Denn is det Kind nich uf dem Damm
dann bleim die beeden doch zusamm
dann quäln se sich noch manche Jahre
er will noch wat mit blonde Haare
vorn doof und hinten minoren na und denn?

Denn sind se alt, der Sohn haut ab.
Der Olle macht nun och bald schlapp.
Vergessen Kind und Schnurrbartzeit,
ach lieber Gott, wie liegt det weit,
als der noch scharf auf Muttern war
das ist doch beinah nicht mehr wahr.
 
Der olle Mann denkt so zurück
wat hat er nun von seinem Glück.
Die Ehe war zum größten Teile
verbrühte Milch und Langeweile.
Und darum wird beim Happy End
im Film jewöhnlich abjeblendt.
 
Brigitte Mira sang das Lied: ”Und das soll alles gewesen sein?” Sein Leben lang macht ein Mensch also Dinge, die ihn gar nicht befriedigen, weil es eben so nötig ist, und dann ist man alt. Das war es dann.

Nun gut, einige trösten sich damit, dass es nach dem Tod dafür eine Belohnung gibt. Die davon profitieren, dass wir uns vielleicht doch nicht ausreichend zufriedenstellend erfüllen, brauchen nichts dafür zu bezahlen, weil wir ja glauben, dass wir nach dem Tod dafür entlohnt werden. Das gibt’s auch im Islam, denn 40 Jungfrauen bedienen den Märtyrer als Belohnung für den Heldentod des Gotteskriegers, nachdem er tot ist. Ob das in der Ewigkeit den Jungfrauen auch gefällt? Und die Seelenwanderung des Hindus einer niedrigen Kaste entschädigt ihn auch für sein Leiden, wenn sein Leben in der niedrigen Kaste nicht schon die Strafe für Missetaten in einem vorherigen Leben sind. Auch bei einigen buddhistischen Richtungen gibt es eine entsprechende Kompensation.
Aus Lebenssehnsucht und Todesfurcht kann man natürlich auch auf ein Leben nacht dem Tode hoffen, sozusagen als Lebensverlängerung. Natürlich muss das dann auch ein gutes Leben sein.

Es ist doch ein im Grunde seltsames Denken, wenn man viel Ehrgeiz darin setzt, eine Arbeitsstelle überhaupt erst einmal zu bekommen. Ist es denn eine solche Lebenserfüllung, dort zu verweilen? Die Jahre vergehen mit Beschäftigungen, die inhaltlich gar nicht so zufriedenstellend sind. Und hat man eine “bessere Stelle” und bessere Bezahlung, dann ist dieser Vorteil eigentlich nur zu bekommen, wenn man von zwischenmenschlichen Werten entweder abstrahiert oder die Unmenschlichkeit verinnerlicht, oder aber wenn man ein Doppelleben führt und seine Menschlichkeit an anderem Orte auslebt, nach Feierabend und dann zum Lebensabend. Während der meisten Zeit seines Lebens ist man dann aber auf der Arbeit, ist man außerhalb eines Umfeldes, in dem man sich wirklich wohlfühlt. Nur ganz Wenige haben das Glück, annähernd Beruf und Berufung miteinander vereinbaren zu können. Und als Rentner ist man alt, man ist dann aus anderen Gründen von den meisten Vergnügungen ausgeschlossen.

Todessehnsucht und Lebensfurcht
Es gibt Schicksale und Situationen, die in Menschen Todessehnsucht aufkommen lassen. Solch eine Sehnsucht ist häufig mit tragischem Leiden verknüpft, mit tiefen persönlichen Krisen, mit dem Zusammenbruch des bisherigen Selbstbildes, mit dem Verlust aller Ziele, die man anstrebt. Es kann sich aber auch um ein psychische Erkrankung handeln, die, vereinfacht ausgedrückt, dazu führt, das man Furcht vor dem Leben, vor dem nächsten Tag empfindet.

Hat man ein Recht auf Freitod? Einige Autoren bejahen dies und ihre diesbezüglichen Bücher werden mit großem Misstrauen gesehen, vielleicht sogar verboten. Freitod zu bejahen bedeutet aber, dass die zu bejahenden Freitod-Situationen von solchen Situationen abzugrenzen ist, wo man ihn nicht bejahen kann. Auch der Bereich Sterbehilfe gehört in den kritischen Bereich.
 
Wenn ein Mensch deshalb nicht mehr leben möchte, weil er gemobbt wird oder auch anderen Gründen seine Mitmenschen ihm unerträglich geworden sind, dann wäre die richtige Lösung hier nicht der Freitod, sondern das Beenden dieser unannehmbaren Zustände. Denn: wer früher stirbt ist länger tot, wie das so schön heißt. Man unterstützt ja mit einem Freitod noch die Leute, die auf diesem Wege gegen uns vorgehen, und die haben dann noch die Möglichkeit zu sagen: wenn alles in Ordnung gewesen wäre, dann hätte er das nicht gemacht. Nein, hier muss man kämpfen, gegen diese Menschen und um sein Leben, das ein gutes Leben sein sollte.

Auch zum Beispiel der Liebeskummer ist nur ein vorübergehender unerträglicher Schmerz, der im Nachhinein nicht lange angehalten hat, nur kann man das im Moment des Kummers nicht glauben. Im Bereich Liebeskummer gibt es im übrigen auch die Beziehungserpressung mit der Androhung des Freitodes.

Es sind aber auch Lebenssituationen vorstellbar, wo der Tod eine Erlösung darstellt. Zum Beispiel, wenn ein Mensch durch eine schwere Krankheit an allem gehindert wird und nur noch unter großer Pein vor sich hindämmert. Schwierig ist es in diesem Zustand oft, ein solches Vorhaben durchzuführen. Aber wenn man im Vorfeld Vorbereitungen dazu trifft und einen Helfer beauftragt, dann kann der Helfer im konkreten Fall nie sicher sein, dass der Patient noch immer das Gleiche Empfinden hat wie zu dem Zweitpunkt, als er die Vorbereitungen noch selbst treffen konnte.
 
Er könnte nun doch noch an seinem Leben hängen. Es ist dies ein schwieriges Thema, zumal es Menschen gibt, die gerne über andere Menschen urteilen, und dann finden, dieses Leben sei nicht lebenswert. Das hatten wir in unserer Geschichte schon in der Nazizeit erlebt. Aus der Sicht des Patienten kann es ganz anders aussehen und sein Leben ist auch das einzige, das er hat. Oder glaubt hier jemand, dass es tatsächlich noch ein Leben nach dem Tode gibt?

Was dann nach dem Tode sein soll, haben die Lebenden auch schon nach ihren Normen und Interessen beschrieben und vorausgedacht, so das man ihnen nicht entkommt, nicht einmal durch den Tod.

Sicherlich fällt das Sterben einem todkranken Menschens leichter, wenn man ihm glauben machen konnte, dass nach seinem Tod ein tolles Leben beginnt, sogar mit geilen körperlichen Funktionen, denn es gibt im sogenannten Glaubensbekenntnis ja die ”Auferstehung des Fleisches”. Das dürfte der Grund sein, warum todkranke Menschen, die solchen Einflüsterungen gegenüber zeit ihres Lebens skeptisch eingestellt waren, sich dann in ihrer Todesstunde diese Option noch offen halten wollen.
 
Das bessere Leben
Lebt man besser, wenn man eine Villa statt einer Wohnung bewohnt? Zum Teil vielleicht schon. Man hat dann einfach mehr Möglichkeiten. Aber man leidet auch nicht an einer Mietwohnung. Natürlich benötigt man auch größere dauerhafte Einnahmen, um das Bauwerk zu unterhalten. Auch um eine Yacht zu unterhalten, Liegegebühr, Überwinterungskosten usw. benötigt man viel ständiges Geld. Und man benötigt auch Zeit. Eigentlich kann man dann gar keine Zeit mehr für Lohnarbeit verschwenden. Man muss dann so viel Geld haben, dass andere für uns arbeiten müssen und all das unterhalten.

Auf meine Frage, ”Was würdest Du Dir eigentlich für ein besseres Leben wünschen?” antwortete ein Kollege: ”Na, Fressen, Ficken, Saufen!” Ich antwortete, dass zum Beispiel ”Fressen” seine Grenze habe, nämlich dort, wo die Gesundheitsprobleme auftauchen. Das Saufen findet auch sehr schnell seine Grenzen, nämlich wenn einem dann alles vor dem Magen steht oder man seine eigenen Belange nicht mehr kontrollieren kann, aufgrund des Alkohols. Und das ”Ficken” findet ja da seine Grenzen, wenn nichts mehr kommt. Auf das letzte Thema stieg er ein. Dass nichts mehr kommen könne, überging er (Er ist ein Mann). Er meinte, dass man sich dann doch die schönsten Frauen suchen könne (Er ist ein Hete und verheiratet).

Ist das Orgasmusgefühl bei einem Partner/einer Partnerin größer oder befriedigender, wenn dieser Mensch mehr den Idealen entspricht, die ich über die Medien vermittelt bekam? Das Gefühl, das ich beim Orgasmus habe, ist ein Gefühl in mir selbst. Es wird mehr durch das miteinander Umgehen beim Sex bestimmt. Das eigentliche Gefühl spielt sich jedoch in mir selbst ab und hat etwas mit meiner Vorstellung zu tun, dass dies nun besser sei als das andere. Es wird nicht wesentlich durch außen bestimmt. Wenn ich meine Orgasmusfähigkeit verlieren würde, könnten noch so große Reizungen von außen daran nichts ändern. Und welche Reize von außen ich für sehr scharf halte, ist auch in mir selbst.

Ob ich durch eine Frau oder einen Mann sexuell ansprechbar bin, ob der Mann einen massigen Körper oder einen eher schmächtigen Körper hat, ob ich ihn lieber von vorne oder von hinten sehen möchte, was dieser Mann mit mir tun möchte und wie er sich dabei verhalten würde, wie ich mich selbst dabei verhalten möchte, das alles ist wohl im Laufe meines Lebens schrittweise entstanden und nun eng mit meiner Lusterfüllungs-Sehnsucht verknüpft.
 
Es hat überhaupt nichts mit den entsprechenden Menschen selbst zu tun. Zufällig passen sie in mein Rater und können nichts dafür. Meine Sehnsucht, erotische Reizung zu erleben, unterscheidet sich oftmals sehr von den Reizen, die sich andere Menschen ersehnen. Es sind also Elemente in mir selbst. Sie haben mit meiner eigenen Biographie zu tun.

Welche Speisen, um in der Argumentation des Kollegen zu bleiben, ich als besonders genussreich empfinde, ist auch in mir verinnerlicht. Und es muss ja nicht unbedingt etwas zum Renommieren sein, was mich anspricht (Hummer und Kaviar), vielleicht mag ich auch hier und da mal wieder Pellkartoffeln mit Leinöl und Quark oder roten Rüben mit Mehrrettich. Ich hatte es als Kind oft essen müssen und mochte es nicht. Heutzutage bereite ich es immer mal als Bereicherung ansonsten doch recht üppiger Speisen zu.
 
Also, selbst ”gut Essen” ist im wesentlichen recht individuell, vorausgesetzt, es herrscht kein grundsätzlicher Mangel an Essensmöglichkeiten oder sexuellen Erfüllungsmöglichkeiten usw. Sicher, es gehört wohl erst einmal dazu, dafür zu sorgen, dass die Menschen die wirtschaftliche Freiheit haben, zwischen verschiedenen Speisen wählen zu können, um ihre individuellen Neigungen entwickeln zu können, die persönliche Freiheit, unterschiedlichen Sex mit unterschiedlichen Menschen erleben zu können, um ihre individuellsten Wünsche kennen zu lernen und befriedigen zu können. Um also ein gutes Leben vor dem Tod erleben zu können, ist das Bereiten der Rahmenbedingungen nötig, die die Wahlfreiheit ermöglichen.

Aber eigentlich ist das meiner Meinung nach nicht das bessere Leben, sondern das selbstverständliche Leben, oder es sollte es sein. Ist es nicht das selbstverständliche Leben, dann muss ich darum kämpfen, dass das schlechte Leben aufhört. Wo ist aber die wirkliche individuelle zufriedenstellende Lebensqualität? Was ersehnen sich die Menschen, was ersehne ich mir?

Ein Leben wird vielleicht dann als ein besseres Leben empfunden, wenn es nicht inhaltsleer ist. Ein wirklich lebenswertes Leben hat wohl doch etwas mit eigenen inhaltlichen Werten zu tun, die man für wichtig hält. Es ist zufriedenstellend, morgens vor dem Spiegel in sein eigenes Gesicht schauen zu können und nicht vor ihm zu erschaudern. Wenn man mit seinen eigenen Handlungen im Reinen ist, mit ihnen zufrieden sein kann, dann kann man zufrieden sein.
 
Für mich ist es so, dass ich zufrieden bin, wenn ich mein Leben nicht dadurch finanziere, dass ich dabei andere Menschen unglücklich mache. Und ist wirtschaftliche Stabilität nur dadurch zu erreichen, das man das Leben anderer Menschen unmittelbar oder mittelbar wirtschaftlich destabilisiert? Es liegt wohl an den vorgefundenen Strukturen, ob ich das Brot, was ich esse, bildlich anderen Menschen vor dem Mund wegreiße. Ob ich nur dadurch einen liebenswerten Partner finden kann, dass ich intrigant gegen andere vorgehe? Ich muss mich also dafür einsetzen, die Verhältnisse in der Gesellschaft und zwischen den Menschen zu verbessern. Wenn man Ziele erkennt, die anzustreben man für wichtig und richtig hält, wenn man zumindest ein Stückweit in der Lage ist, diese Ziele zu verwirklichen, dann kann man mit sich und seinem Leben zufrieden sein.

Die Erinnerung daran, dass es trotz des Trostes der Religionen auf ein Leben nach dem Tod auch noch ein Leben vor dem Tod gibt, ist älteren Linken durch Biermann 1976 bekannt, der in dieser Zeit noch als linker Barde auftrat, da er aus Überzeugung von Hamburg in die DDR übergesiedelt war.

”Es gibt ein Leben vor dem Tod”, ist ein Satz Biermanns, der ein Lied mit diesem klugen Titel geschrieben und komponiert hat. Eine LP, auf der auch dieser Titel zu hören ist,, trägt den gleichen Namen:
 
Es gibt ein Leben vor dem Tod
Jesus, der große Schmerzensmann
Am Kreuz, im Glanz der Wunden
Er hatte seine Schau im Tod
Und alle Welt sah seine Not
Und als die Leut drei Tag danach
Sein leeres Grab gefunden
Und keinen Leichnam fanden
Da warn sie froh. Da wußten sie
Der Mensch ist auferstanden
- es gibt ein Leben nach dem Tod!
 
Exekution! da! steht der Communard
Wie der vor dem Gewehr stand
Hat ihn Picasso mir gemalt:
Die Hosen runter, an der Wand
Der dicke Kerl steht da
Und weint und lacht sich eins dabei
Wie er sein Arsch dem Tod hindreht!
Ich habs, auf weiß gemalt mit Rot
Des Malers Bild beweißt es ja:
- es gibt ein Leben nach dem Tod
 
Der kleine Biermann denk bei sich:
Ja ja das stimmt in meinem Sinn
Die Auferstehung gibt’s! weil ich
Ja dafür selber Beispiel bin:
Mein toter Vater lebt! Sogar
Die Narrn, die Don Quichoten!
Im Freiheitskrieg der Menschen gibt
Es keine Toten.
Das ist so wahr wie trocken Brot:
- es gibt ein Leben nach dem Tod
Anmerkung
 
Ach, daß es danach noch was Schönes gibt
Ist tröstlich in unserer Lage.
Wie gut! und doch, da bleibt uns noch
Die kleine – die große – die Frage
(das wüßten wir gern noch daneben!)
Ob´s sowas gibt – wir hättens gern:
- auch vor dem Tod ein Leben.
 
Wenn ich diesen Text heute lese, muss ich sagen, man war eben damals mit sehr wenig zufrieden. Aber das war damals schon eine Provokation, besonders für die Kirche. Die Zeiten haben sich also in dieser Frage erst einmal geändert. Selbstverständlich. Biermann konnte ich in meiner Betrachtung nicht übergehen, denn immerhin ist für einige Linke dieser Satz mit ihm verknüpft.
Immerhin schrieb Biermann im Juni 1996 in Hamburg rückblickend:

“1975 – der spanische Diktator Franko rang mit dem Tode, und es sah so aus, als ob dieser Massenmörder es schafft, an Altersschwäche im Bett zu sterben. Die DDR hatte soeben sein verhaßtes Regime diplomatisch anerkannt. Das erbitterte uns. Mancher übriggebliebene alte Spanienkämpfer in der DDR weinte, als er das Neue Deutschland mit dem euphemistischen Titel las: Spanien – südeuropäischer Staat zwischen zwei Meeren.

In Chile hatte gerade Pinochet seinen Putsch gemacht. Exilierte Chilenen flohen nach Europa. In der Bundesrepublik sollte ein Kongreß gegen das Franko-Regime stattfinden – ich war eingeladen worden, dort zu singen. Also bemühte ich mich eine Reisegenehmigung. Obwohl ich sicher war, daß meine Obrigkeit mich nicht rauslassen würde, schrieb ich eine Serie neuer Lieder über Spanien. Seit meiner Kindheit kannte ich etliche Genossen, die 1936 bis 1939 in Spanien gekämpft hatten. Und noch etwas bewegte mich: Mein Vater war 1937 in Hamburg verurteilt worden, weil er im Hafen Sabotage gegen Schiffe gemacht hatte, die heimlich Nachschub für Franko-Spanien wegschaffen sollten.

Ohne Hitlers Waffenlieferungen, ohne Görings geflügelte Mörderelite “Legion Condor” hätte General Franco seinen Putsch nicht machen können. Antifaschistische Kampfeinheiten bideten sich damals, Kommunisten, Anarchisten und Demokraten eilten der spanischen Republik zu Hilfe. Deutsche, Russen, Franzosen, Engländer, Amerikaner und ... Juden Juden Juden aus aller Welt kämpften in den “Internationalen Brigaden”.

Die Berater und Kommandeure aus der Sowjetunion, aber auch solche stanilistischen Kader wie Ulbricht und Mielke gewannen immer mehr Einfluß. Andersdenkende Antifaschisten wurden verfolgt, viele wurden eingekerkert und zu Tode gequält, viele wurden von den “eigenen Genossen” hinter der Front erschossen.

Übrigens: Mein Auftritt im Westen wurde damals genehmigt, ich war verblüfft und froh. Aber am Tage der geplanten Abreise war die DDR-Welt wieder in Ordnung. Mir wurde das Reise-Visum doch nicht erteilt. Daraufhin sang ich diese Lieder auf eine Platte und schrieb die übermütige Behauptung auf das Cover: Es gibt ein Leben vor dem Tod. (Wolf Biermann auf der Rückseite der bei 2001 erschienenen CD)

Hat das etwas mit unserem Thema zu tun? Selbstverständlich, denn hier geht es um Menschen, die nicht um ein besseres leben nach dem Tod gebetet haben, sondern die für ein besseres Leben vor dem Tod gekämpft haben, die allzu oft in blinden Vertrauen zu ihren Führern, was genauso irrational ist, gekämpft haben und dabei auch ihr Leben verloren. Aber beim Kämpfen fühlt man sich besser, moralischer. (js)
 
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