74. LUST, Frühling 03, März/April/Mai
 
Fastnacht, Sollbruchstelle der Moral
“Am Aschermittwoch, ist alles vorbei ...” singen im katholischen Köln und Mainz bedauernd die ansonsten ach so braven Katholiken. Und was ist am Aschermittwoch vorbei? Wir kümmern uns hier also um die stabilisierende Funktion des geregelten Normbruchs.
 
Zugegeben, nicht nur die Fortsetzung des weströmischen Imperiums in heutiger Zeit, die katholische Kirche, profitiert von menschlicher Doppelmoral.

Andere Religionen haben ihre Formen der Doppelmoral, aber bei Fastnacht geht es um den Katholizismus, den ich hier näher betrachte. Er prägte immerhin eine große Epoche unserer Geschichte und die Geschichte seines Einflusses als prägende Kraft ist noch nicht zu Ende. Zum Thema: Der Oberste Brückenbauer (Pontifex Maximus), wie sich der jeweilige Cäsar in Rom, Byzanz und dann Konstantinopel seit Augustus (und lange vor der Christianisierung) nannte und wie sich heutzutage der Papst in Rom nennt, dieser Stellvertreter des einen Gottes “auf Erden”, in der einen heiligen Kirche, der katholischen, dieser oberste Wächter über gut und böse, recht und unrecht, Himmel und Hölle verwaltet, in prachtvollen Gewändern gekleidet, das, was vom Heiligen Römischen Reich übrig blieb. Wie das Christentum unter Kaiser Konstantin um ca. 300 zur Herrschaftsideologie der römischen Imperiums wurde, so verbreitete sich das Christentum über die Welt überall dort hin, wo christliche Heere beziehungsweise die Heere christlicher Staaten die Staatsgebiete vergrößerten und über die Welt ausbreiteten.

Mit ihnen verbreiteten sich die Mönche und die Priester, die z. B. Frauen einredeten, ihre Jungfräulichkeit (also ihre Geschlechtslosigkeit) sei ein heiliges Gut. Sie brachten auf diese Weise die Frauen um ihre Macht über die Sexualität, nämlich die Macht, ihre sexuelle Gunst nach ihren Interessen zu verschenken und die Sexualität der anderen zu verhindern. Im Gegenteil, die Kirche kontrollierte die Menschen nun bis ins Ehebett hinein. Sie entschied nach der Hochzeitsnacht, ob sich auch diese Frau den Doktrinen der Kirche unterworfen hatte oder eben nicht, indem das über der Straße gespannte Bettuch den roten Fleck der Unschuld vor aller Welt aufzuweisen hatte.

Die Priester, die sich auf diese Weise die sexuelle Macht der Frauen aneigneten, konnten nun, wie einst die Frauen, bestimmen, wer mit wem sexuell verkehren darf und wer nicht. Sex, über den jeder Mensch ausreichend verfügt, wurde so zur Belohnung der Unterwerfung. Und die Tatsache der Periode machte Frauen unrein, verkündeten sie und hielten mit dieser Begründung die Frauen von den Stätten fern, wo auch die weltlichen Entscheidungen fielen, den Kirchen. Die monatliche Blutung war der Kirche der Beweis der Unreinheit der Frau.

Sie redeten den pubertierenden Jungen ein, dass das Entdecken ihres eigenen Körpers, dass das lustvolle entspannende Ausstoßen von drängenden Sekreten eine Sünde vor Gott sei, dass der erotische Blick auf einen anderen Menschen ein Blick des Satans sei, des Verderbers, dass also der sogenannte Samenerguss eine sündhafte Selbstbefleckung sei.

So wurde den Menschen das zur Last, was ihnen eine Lust sein könnte, ihre so vielfältige und schöne Sexualität. Überall zwischen den Menschen, wo sich diese lustvoll begegnen könnten, schiebt sich die Hand eines Kirchenmannes dazwischen. Und in der schwitzigen Enge des Beichtstuhles mussten die dadurch neuerlich in Erregung versetzten Knaben den Priestern stöhnend von ihren Sünden berichten, so detailliert wie möglich, denn das Maß der auferlegten Buße war davon abhängig, und auch so mancher Priester wurde so in Erregung versetzt, wenn er von Erregendem hörte. So kommt es wohl, dass so mancher Priester selber Hand an sich oder die Knaben legte, oder auch an weibliche Personen, eben je nach eigener Neigung. Und wer die Hand dazwischenhält, dem mag sie im eigenen Interesse bisweilen zittern oder ausrutschen.

Es ging und geht zumindest heute der Kirche nicht (mehr) so sehr um die Strafe, sondern um das Einsehen, dass man schuldig wurde vor Gott, dass man also auch schuldig wurde gegenüber dem Brückenbauer zu Gott, dem Stellvertreter Gottes und obersten Repräsentanten der Kirche, dem Staatsoberhaupt des Kirchenstaates, dem Nachfolger des römischen Kaisers. “Der Mensch wurde in Sünde empfangen und in Sünde geboren ...” Da kannste nichts machen, du bist schon Sünder durch deine Geburt.

Da Sexualität beziehungsweise sexuelles Begehren natürlich einfach immer wieder entsteht, war das die geniale Geschäftsidee, gerade hier die bewachte Schranke zwischen Hölle und Himmel einzubauen, es folgten eben einfach immer wieder viele neue Sünden nach, die die Macht der Kirche vergrößerten, die Macht, die durch die Aneignung des Zuganges zur menschlichen Sexualität entstand, wozu eben auch Staatsmacht nötig ist, nämlich durch die entsprechende Gesetzgebung.

Und weil Sexualität, die man ja doch liebt, auch wenn man sich hinterher schuldig fühlt, eine Sünde zu sein hatte, lernten die treuen Untertanen Roms eben ihre Sünden zu lieben. Überall, wo z.B. spanische Armeen hinzogen und auch dem kirchlichen Machtapparat den Weg bahnten, bahnten sie auch der Sünde den Weg, dem lustvollen Sündigen, dem die Reue zu folgen hat.
 
Und so ist uns unsere Sexualität oftmals nicht eine schöne aber eben auch alltägliche Sache, sondern sie ist eine Sünde, eine lustvolle Sünde. Der ach so verwerfliche Trieb, Satan hat uns dazu verführt oder ein Geschöpf Satans, ich war ihm hilflos ausgeliefert, mich trifft keine Schuld, sagt der Ertappte und weiß, dass es nicht so ist. Und es macht Lust, ein schlechtes Gewissen zu haben, Lust, Sündhaftes im Verborgenen zu tun, oder eben auch in manchen Fällen das Heimliche und Verborgene allen Menschen zu zeigen, sich sexuell darzustellen.

Auch das Essen hat hier so seine Geschichte. In der katholischen Kirche gibt es im wesentlichen zwei Fastenzeiten, die Zeiten vor den großen Festen Ostern und Weihnachten. Und jeder katholische Christ, “der über 18 Jahre ist und das 60. Lebensjahr noch nicht begonnen hat”, der soll sich in dieser Zeit reinigen, in dem er wenig isst, jedoch besonders kein Fleisch zu sich nimmt. Und da Jesus am Freitag gekreuzigt worden sei, soll auch jeden Freitag kein Fleisch gegessen werden. Aber keine Tugend ohne Sünde, und so interpretierten die Mönche, dass Fisch ja kein Fleisch sei. Also züchteten sie in ihren Klosterteichen die fettesten Karpfen und fanden die raffiniertesten Gewürze, und so entstand eine Schlemmerkultur gerade deshalb, weil sie fasten sollten.

Bekannt ist, dass der Biber wegen der Fastenzeit aus Europa weitgehend verschwunden ist, denn weil er im Wasser schwamm, war er ein Fisch und konnte also gegessen werden. So ist das also mit der Sünde. Die Lust an den sinnlichen Genüssen wird dadurch erst noch gesteigert, verruchter und verfeinerter.

In der einschlägigen Literatur unserer Szene liest man bisweilen, dass man ruhig einen möglichst frommen Katholiken verführen solle, weil der uns die größten sexuellen Genüsse verspreche. Denn wenn er nun mal sündige, dann täte er es aber auch richtig. Und hinterher, wenn der Druck der Sekrete der Entspannung gewichen ist, kann er ja die Schuld auf uns schieben, wir hätten es so raffiniert angestellt. Und dann kann er sich ganz verworfen vorkommen und Buße tun, eine Anzahl von Vaterunser beten und einige Kerzen stiften. Man geht zur Beichte und die Sünden werden verziehen, und man ist dann von ihnen befreit, braucht danach vorerst überhaupt kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Eine großartige Erfindung im Dienste der Sünde.
 
Die Fasten-Nacht
In der Nacht vor Beginn der Fastenzeit wurde aber noch einmal so richtig gefressen und gesoffen und ge..., denn selbstverständlich musste man sich vorher mit allem noch einmal reichlich zufrieden stellen, bevor das Darben und der Verzicht dann begann. Die Nacht des Schlemmens wurde um den Tag davor verlängert, denn das machte einfach mehr Lust als die Zeit danach. Bald wurden drei Tage daraus, dann auch die vorhergehende Woche und seit dem 19 Jahrhundert feiert und schlemmt man die Zeit vom Dreikönigstag (6. Januar) bis zum Aschermittwoch.
 
Somit wurden die beiden großen Kirchenfeste durch Feiern und Sündigen nahezu verbunden. St. Martin habe ja seinen Mantel am 11.11. mit einem Bettler geteilt. Das leitet eine vorweihnachtliche Fastenzeit ein. Und der Tag des St. Martin, der 11.11., ist auch der Tag des Schlemmens, der Völlerei und der Ausschweifung vor der ruhigen Zeit, die am 24.12. endet. Man bereitet sich erst einmal mit der fetten Martinsgans auf die karge Zeit der inneren Einkehr vor. Seit man nun noch denn 11.11. als Beginn der Fastnachtsfeiern ansah, hat man die Intensität des Feierns wieder eher auf die letzten Tage vor den Aschermittwoch verlegt, denn was zu viel ist, ist einfach zu viel.

Überall, wo sich die römische Kirche in der Welt hin verbreitet hat, da finden wir die gigantischsten Fastnachtsfeiern, von Rio über Venedig nach Köln, Mainz und München. Aber der Charakter dieser Ereignisse ist doch ganz unterschiedlich. Der Tanz der Marktfrauen auf dem Münchener Viktualienmarkt führt zum Auftreten von verwegen an- oder ausgezogenen Männern in Frauenkleidern, in Köln tätscheln sich die Gardemitglieder auf der Bühne gegenseitig den Arsch und trotz des in unseren Breiten doch recht kalten Wetters findet man auf den Straßen so manche nackte Haut. Es sind wohl regional unterschiedliche Moralzwänge, gegen die in den verschiedenen Gegenden des weströmischen Einflusses in der Fastnachtszeit genussvoll verstoßen wird.
 
So ist z.B. die kalvinistische Baseler Fastnacht und die badisch- alemannische Fasnet nach außen hin eher prüde, aber die als Hexen verkleideten jungen Männer machten in dieser Maske Jagd auf junge Mädchen und leisteten sich so Manches in diesem prüden protestantischen spießbürgerlichen Klima. Denn der Protestantismus ist die kleinbürgerliche, die spießbürgerliche also bürgerliche Antwort auf den sinnesfreudigen Adel, der seinen Spielraum weitgehend in der katholischen Kirche hatte. “Als der Adel stürzte stand wenigstens sein Schwanz”, meinte Gerhard Zwerenz in einer früheren Konkret-Ausgabe, als er das verspießerte Kleinbürgertum angriff, denn sein erotischer Roman “Rasputin” wurde von spießbürgerlichen Tugendwächtern angegriffen.

Auch die unterschiedlichen Jahrhunderte hatten unterschiedlichen Einfluss auf die Art des Feierns. Der lustvolle Normbruch hatte nach außen hin ganz unterschiedliche Ausdrucksformen, er wurde in rituellen Handlungen immer wieder eingefangen und in gewünschte Bahnen gelenkt. Die Fastnachtsbräuche des Mittelalters sind besonders gut in den Städten fassbar, und hier wesentlich von Erscheinungsformen des öffentlichen Festwesens geprägt.
 
Bis ins 14. Jahrhundert dominierten zur Fastnachtszeit Reiterspiele der Patrizier (die frühbürgerliche Handelselite, Nachkommen des römischen Adels), dann entwickelte sich ein vielseitiges Maskenbrauchtum. Den vielfach exzesshaften Handlungen im Spätmittelalter folgten im 16. Jahrhundert Schau- und Vorführbräuche der Handwerker. In der Barockzeit blühte die Fastnacht als prunkvolles Kostümfest an den Fürstenhöfen und beeinflusst in ihren Ausformungen die großbürgerliche Fastnacht, die Fastnacht des Geldadels, in den Städten des 19. Jahrhunderts.

Was die Leute drückte, wurde thematisiert. In der hochpolitischen Zeit der bürgerlichen Revolution gegen den Adel wurde die Narretei wie eine Gegenregierung (der Elferrat) zelebriert, und das Bürgertum, einstmals fortschrittlich und revolutionär, prägt auch heute noch die politische Fastnacht, allerdings nunmehr eher traditionell bis reaktionär.

Ob nun in Europa die großen Feste mit viel Alkohol und dem Rausch der nächtlichen Seitensprünge den Kern des Normbruches darstellen, oder ob in Südamerika nahezu nackte Leute eine erotische Faszination erzeugen und wohl auch erleben, überall folgt auf das ausgelassene Leben dann der Katzenjammer, die Buße und Reue und die demonstrative Abkehr von der Sünde sowie die erneute reumütige Hinwendung zur Kirchenmoral.

Die Potentaten des heutigen römischen Reiches und ihre Berater sind keine Dummköpfe. Sie wissen, dass nur das Wechselspiel von Norm und Normbruch, von Himmel und Hölle, von Tugend und Laster auf Dauer letztlich ihre Macht erhält. Und so ist der Normbruch mit seinen Schuldgefühlen genau so ein bewusster Teil ihres Einflusses wie die nachfolgende moralische Normierung unseres Lebens. (js)
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite