74. LUST, Frühling 03, März/April/Mai
 
Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst,
Herr Bsirske und Herr Merz
4,4%, las man in einigen Zeitungen, bei Berücksichtigung der Einmalzahlungen sogar 4,6% habe die uneinsichtige Gewerkschaft Ver.di in dieser Tarifrunde den Bürgern, den Steuerzahlern aufgebürdet, Die Stadt Frankfurt zum Beispiel wäre gezwungen, alleine wegen der unangemessenen Lohnerhöhung, einen Riesen-Kredit aufzunehmen. Man frage sich, ob Gewerkschaften heute noch zeitgemäß seien.
 
Als Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst und Gewerkschaftsmitglied nicht verpflichtet, sonderlich besorgt zu sein, freue ich mich also über eine Gehaltserhöhung, denn der alte Tarifvertrag, nach dem ich bislang bezahlt wurde, galt schließlich auch länger als ein Jahr. Und 2002 hatten wir eine durchschnittliche Preissteigerung von 1,3%, 2001 von 2,47%. (Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte, Statistisches Bundesamt).

Eine Lohnerhöhung soll ja mindestens den Kaufkraftverlust ausgleichen, meint man. Pech hatten wir, dass wegen der langen Laufzeit der öffentliche Dienst der Letzte im Bunde war, für den der Tarif ausgehandelt wurde, und die Erhöhungen in den anderen Wirtschaftsbereichen lagen so zwischen 3 und 4%. Ich gehe also in die Homepage der Ver.di. Und was finde ich da? Nichts über den Abschluss. Ich finde nur das Angebot der Arbeitgeber, das diese, nachdem sie den Schlichterspruch abgelehnt hatten, der Gewerkschaft vorgelegt haben. Und dieses Angebot drucke ich mir aus und lese es zähneknirschend.

Wenn ich in den Zeitungen die Artikel zum Tarifabschluss lese, finden ihn alle zu hoch, und es wird dort von 2,4% in diesem Jahr und 2 weiteren Prozenten im nächsten geschrieben. Das kann man doch nicht einfach zusammenrechnen? Was ich im nächsten Jahr bekomme, nutzt mir doch heute nichts. Also schaue ich wieder nach und finde ein Flugblatt von Ver.di, in dem auch stolz von 4,4% gesprochen wird. An dem Flugblatt hängt mutig eine Beitrittserklärung, denn die gewerkschaftliche Organisationsrate steht wohl bei ca. 25% der Arbeitnehmerinnen, oder ist sie schon wieder niedriger geworden?

Keine kritische Analyse des Ergebnis´, und warum? Na weil das Ergebnis dem Angebot der Arbeitgeber entspricht. Tatsächlich. Ver.di hat einfach dem Angebot der Arbeitgeber zugestimmt. Die öffentlichen Arbeitgeber könnten sich doch jetzt freuen, aber sie machten ein riesiges Geschrei, sie seien von Ver.di unter Androhung eines Streiks über den Tisch gezogen worden. Und am Abend wird Bsirske eine ganze Stunde lang in der ARD interviewt, weil er ein so starker Gewerkschaftler wäre, dass die öffentlichen Arbeitgeber vor ihm in die Knie gegangen seien.

Und Freunde in der Kneipe, die nicht im öffentlichen Dienst arbeiten, meckern, dass sie mit ihren Steuern mein so sehr hohes Gehalt zahlen müssten, und einige meiner Kollegen, die auch im öffentlichen Dienst sind, sagen, es wäre ja schon ein bisschen viel. Das sind solche, die nicht selbst nachsehen und den Medien vertrauen.

Was ist wirklich rumgekommen?
Ich will es nun aber genauer wissen, denn der seltsame Widerspruch liegt ja auf der Hand. Leider kann ich Euch nun Zahlen nicht ersparen.

Zuerst einmal, es handelt sich wegen der langen Laufzeit eigentlich um 2 Tarifverträge, einer vom 01.11.02 bis 31.12.03, also für 14 Monate, anschließend noch einer vom 0101.04 bis 31.01.05, also für 13 Monate. Das geht auch aus dem Tarifvertrag selbst hervor.
Und nun muss man noch zwischen den Lohngruppen unterscheiden, nämlich für die unteren Gehaltsgruppen bis IV a BAT, und dann die sogenannten oberen Lohngruppen ab III BAT.

Für die unteren Gehaltsgruppen
Ich beginne mit den unteren Lohngruppen. Die bekommen also ab 01.01.03 2,4%. Aber weil der Tarifvertrag ab 01.11.02 gilt, ist das, auf die 14 Monate umgerechnet, in Wirklichkeit 2,057%. Aber da gibt es ja noch die Einmalzahlung als Ausgleich von 7,5%, verteilt auf 14 Monate, höchstens 185 €. Also das sind 0,536% pro Monat und die wieder draufgerechnet ergibt 2,593%.

Aber der eine freie Tag, den wir mal erhalten hatten, weil in anderen Tarifbereichen die Arbeitszeit erheblich gekürzt wurde, der soll nun wegfallen, umgerechnet auf ein Jahr ist das 0,4%. Was wir also bekommen, ist 2,193%. OK?

Nein, da ist ja noch etwas, nämlich der alle 2 Jahre stattfindende Aufstieg in die nächste Gehaltsgruppe soll um ein Jahr verschoben werden. Dies trifft etwa ¼ der ArbeitnehmerInnen, und zwar die jungen, weil das bei älteren ArbeitnehmerInnen nicht mehr stattfindet. Das Verschieben macht immerhin für die Betroffenen einen Verlust von 1,240% aus. Für die jüngeren KollegInnen, die das betrifft, bleibt also nur 0,853% Lohnerhöhung. Zusammen macht also rechnerisch die Lohnerhöhung für die ArbeitgeberInnen nur 1,883% aus. Das ist deutlich weniger als der Kaufkraftverlust der vergangenen 2 Jahre.
 
Für die höheren Gehaltsgruppen
Den höheren Lohngruppen (über BAT III) wird die Lohnerhöhung von 2,4% erst ab 01.05.03 bezahlt, davon bleibt dann umgerechnet auf die 14 Monate noch 1,54% übrig. Die Einmalzahlung für die höheren Gruppen ist ja bei 185€ begrenzt und das ist z.B. bei dem Gehalt II a dann in Wirklichkeit nur 5%, umgerechnet auf 14 Monate ist das 0,357% pro Monat. Das sind also zusammen 1,897%. Auch hier muss der eine Tag, der uns gestrichen wurde abgezogen werden, bleibt also 1,497% Lohnsteigerung.
Und hier wirkt sich ja die Verschiebung der Erhöhung auch für ¼ der ArbeitnehmerInnen aus, das hat zum Beispiel für einen Arbeitnehmer von 35 Jahren in der Gehaltsgruppe II a den Verlust von 1,580% zu Folge, für ihn bedeutet also die angebliche Lohnerhöhung von 4,6%, dass er 0,08% weniger erhält als bisher. Die generellen Kosten für die Angestellten des öffentlichen Dienstes ab der Gehaltsgruppe III belaufen sich demnach für die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes auf 1,103%. Gigantisch, gell? Dadurch kann unser Gemeinwesen echt pleite gehen. Aber gibt’s nicht im Jahr 2004 noch eine satte Erhöhung?
 
Im Jahr 2004
In den anderen Tarifbereichen werden nun neue Tarifverträge ausgehandelt. Ab 01.01,2004 bekommen die ArbeitnehmerInnen des öffentlichen Dienstes 1% Erhöhung, ab 01.05 dann noch einmal 1%, das macht auf die 13 Monate umgerechnet 1,46%. Aber es kommt noch eine Einmalzahlung von 50 € hinzu, das ergibt auf 13 Monate je 3,85 €. Bei der Gehaltsgruppe V b BAT sind dies 0,16%, so dass es im Jahr 2004 dort 1,620% Gehaltserhöhung gibt. Eigentlich müsste man ja nun die 0,4% wieder abziehen, denn der Tag ist ja in diesem Jahr auch weg, wie für alle folgenden Jahre. Aber lassen wir das mal, wir sind ja nicht pingelig.

Aber für ¼ der ArbeitnehmerInnen (für die jungen, die das vorige Jahr nicht betroffen waren) bedeutet das, dass ihnen rechnerisch z.B. bei der Gehaltsgruppe V b 1,240% von ihrer Lohnerhöhung abgezogen werden müssen. Bleibt ihnen also real 0,3840% Erhöhung. Die Arbeitgeber haben für die niedrigen Gehaltsgruppen generelle Kosten in der Höhe von 1,310%. Bei der Gehaltsgruppe wirkt sich dieser Faktor für ca. ¼ der ArbeinehmerInnen so aus, dass ihnen von ihrer Erhöhung 1,580% abgezogen werden muss, so dass ihnen beachtliche 0,04% von ihrer Lohnerhöhung bleiben. Die generelle rechnerische Wirkung beläuft sich hier auf 1,225%.
 
Die “generelle Wirkung”
Wir wissen ja nicht, wie die Preissteigerung in den nächsten 27 Monaten zu veranschlagen ist, selbst wenn es keinen Krieg gibt. Eine Gehaltssteigerung, die dem Geldwertverfall der Vergangenheit entspricht, ist dies also nicht. Es ist dies real eine Nullrunde, vielleicht sogar eine Minusrunde. Offensichtlich werden mit den Angriffen auf Bsirske nur Ablenkungsmanöver gefahren, denn in Wirklichkeit leiden die öffentlichen Arbeitgeber nicht an gestiegenen Ausgaben, sondern an einem Verlust der Einnahmen.

Die Gewinne der großen Unternehmen sind im Zusammenhang der globalen Konkurrenz zwar etwas geschrumpft, aber aufgrund der Steuergeschenke hat ihnen dies keine finanziellen Verluste gebracht. Und Herr Bsirske mit einem Jahresgehalt von 150.000 € kann sich wohl kaum in die Lage versetzen, welche Kopfstände ein Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst veranstalten muss, um mit seinem Gehalt rumzukommen. Die meisten Medienleute, die von den zu hohen Abschlüssen berichten, auch nicht. V b BAT, das sind altersabhängig ( hier 25 Jahre) im Jahr 2003 1.715,53 € Grundvergütung zuzüglich 463,88€ Ortszuschlag (Familienstandsabhängig) und das erhalten Meister und Ausbilder im öffentlichen Dienst.
 
Um zur Gehaltsgruppe III zu kommen, muss man schon ein paar Jahre studiert oder im öffentlichen Dienst ganz gut hochgedient haben und da beläuft sich das Gehalt auf 2.113,99 € zuzüglich 492,47 €, immer den/die 25jährige(n) Ledige(n) angenommen. Davon bleiben nach Abzug der Steuern und der Sozialversicherungen sowie des Solidaritätszuschlags so ca. 55,97% übrig, natürlich auch wieder abhängig vom Familienstand usw. Davon lässt sich doch locker noch für die Rente sparen, die Miete zahlen und gleichzeitig noch ein Eigenheim bauen sowie die ständig überall kritisierte eklige Kaufzurückhaltung beenden.

Wirklich blöde wäre jetzt eine Neiddiskussion, die ungefähr so verliefe, dass die Leute im öffentlichen Dienst nur Faulenzer seien, viel zu viel verdienten und deshalb nicht auf Mitgefühl rechnen dürften, man müsse ihnen in Wirklichkeit weniger bezahlen. Klüger wäre es, die Diskussion zu führen, warum nicht mehr Leute mehr verdienen. Aber unter der Entsolidarisierung, die überall anzutreffen ist, tritt man lieber sich selbst und gegenseitig genussvoll in den Hintern.
 
Bsirske und Merz
Am Abend nach der Landtagswahl in Niedersachsen und Hessen waren bei der Christiansen in ARD folgende Leute anzutreffen: Merz, Bsirske, Clement und noch andere. Die üblichen Hin- und Her-Argumente interessierten mich nicht sonderlich, als ich plötzlich doch recht interessiert zuhörte. Merz schrie nämlich auf Bsirske ein: Es müsse schluss mit den Gewerkschaften sein, mit ihrer Blockadepolitik. Jetzt werde ein kalter Wind durch Deutschland wehen. Kündigungsschutz sei eine wichtige Sache, aber der übertriebene Kündigungsschutz müsse weg.
 
Und der übertriebe Kündigungsschutz sei im Kündigungsschutzgesetz formuliert, das Kündigungsschutzgesetz müsse insgesamt weg. Überhaupt müsse das Arbeitsrecht entrümpelt werden. Auch das Tarifrecht müsse geändert werden, damit die gewählten Betriebsräte mehr Möglichkeiten bekämen statt die Funktionäre der Gewerkschaften. (Also Abschaffung des Flächentarifvertrages). Überhaupt müsse mit den Gewerkschaften schluss gemacht werden, die würden die notwendigen Reformen nur noch behindern. Es sei schon bizarr, wenn Bsirske wegen Lohnerhöhungen streiken ließe, während er doch selbst im Vorstand der Lufthansa sitze. (Er sitzt dort übrigens im Aufsichtsrat.) Die Sozialversicherungen müssten endlich auf eine Weise reformiert werden, dass die Versicherten eine größere Eigenverantwortung bekämen (Also die Versicherten müssen mehr zahlen). Und bei seiner Gehaltsgruppe profitiere Bsirske ohnehin von der Senkung des Spitzensteuesatzes. Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst sei ein Beweis, wie unverantwortlich und schädlich die Gewerkschaften seien.

Ich weiß nicht, was er noch so alles sagte, leider habe ich es nicht aufgezeichnet. Wer konnte schon ahnen, dass er noch am Abend des Wahlsieges den Unions-Schafspelz auszieht und die gefressene Kreide wegsteckt. Und wie reagierte Bsirske? Der saß merkwürdig starr da, sagte kein Wort, wirkte wie ein Bulle am Nasenring. Warum wehrte er sich jetzt nicht, fragte ich mich, und macht Merz lächerlich, indem er aufzeigt, dass der Tarifabschluss doch nahezu eine Nullrunde war?

Weil er es nicht konnte, denn er hat ja seinen eigenen Mitgliedern auch vorgemacht, dass der Abschluss ein riesiger Erfolg sei. Die Gewerkschaft macht sich durch solche Lügen selbst handlungsunfähig, wenn es darum geht, den Sozialstaat gegen den auf uns zukommenden neoliberalen Kahlschlag zu verteidigen. Da fragt man sich wirklich, wozu man seinen Beitrag bezahlt, immerhin 1% vom Brutto.
 
Vom Nutzen der Gewerkschaft
Die Gewerkschaften kümmern sich um die Tarifverträge, denn wir haben die gesetzlich garantierte Tarifautonomie, auch wenn nun die Unternehmerverbände diese im “Bündnis für Arbeit” in Frage gestellt haben. Gewerkschaften sind in einer unübersehbar großen Vielzahl von Gremien vertreten, um dort überall unsere Interessen zu vertreten (die Interessen der ArbeitnehmerInnen). Nahezu überall, wo es um ArbeitnehmerInteressen geht, hat die Arbeitnehmertreterin, die Gewerkschaft, sich einen Platz erstritten.

Wenn es darum geht, neue Berufsbilder zu entwickeln, die Gewerkschaft ist dabei und sorgt dafür, dass das Arbeitsrecht zum Lehrstoff gehört. In den Sozialversicherungen vertritt sie die Versicherten in der Vertreterversammlung. Selbst in den Rundfunkräten ist sie vertreten. Die Propaganda der Unternehmerverbände und ihre parlamentarischen Sachwalter, dass die Gewerkschaft den Reformen im Wege stehen, verfängt bei mir nicht, weil ich den Sozialstaat für eine wertvolle Einrichtung halte. Manche Blockade ist eben wichtig, damit wir nicht US-Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Die Arbeitnehmer benötigen dringend eine solche Vertretung ihrer Interessen, vorausgesetzt allerdings, dass dort auch die Interessen der ArbeitnehmerInnen vertreten werden.

Man kann der Gewerkschaft so etwas wie dieses offene Täuschen ihrer Mitglieder nicht einfach durchgehen lassen, wenn man weiß, dass sie für uns dringend nötig ist. Wir bräuchten dringend mehr Mitglieder, die im Inneren dagegen Front machen und die sich nicht abspeisen lassen. Man kann sich aber auch nicht selber blöd stellen, nur um die Gewerkschaft in allen Belangen zu unterstützen. Vor allem nutzt das ja auch gar nichts, weil sich die Gewerkschaft dadurch selber derart verwundbar macht. Es ist schließlich abzusehen, dass der Wind noch kälter wird.

Gewerkschaften sind für ArbeitnehmerInnen unverzichtbar. Was tun wir? Treten wir alle als Denkzettel aus der Gewerkschaft aus? Helfen wir mit, eine neue Gewerkschaft aufzubauen? Das wäre eine Arbeit, die kaum zu schaffen ist. Möglicherweise ist es weniger schwierig, als engagiertes Mitglied im Inneren einer Gewerkschaft um mehr innere Demokratie zu ringen, statt eine neue Gewerkschaft zu gründen. Aber die niedrigen Mitgliederzahlen sind ja auch nicht nur auf die durchaus interessierte Unternehmerpropaganda zurückzuführen, sondern eben auch, weil man so etwas wie diesen Tarifabschluss und diese Verschleierungspolitik dabei hier und da erleben musste. (JS)
 
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