- 74. LUST, Frühling 02/03, März/April/Mai
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- Gerüchte verbreiten
Es gibt die Auffassung, dass es bei politischen
Auseinandersetzungen um das Ringen um unterschiedliche Modelle,
unterschiedliche Interessensvertretungen gehe. In letzter Zeit
bekommt man aber eher den Eindruck, dass es darum geht, wie viel
Kübel Schmutz über den Kopf eines Menschen gegossen
werden, bis er zusammenbricht. Und offensichtlich gibt es auch
noch ein johlendes Publikum, das einerseits heftig mitmacht und
andererseits beklagt, dass es keine Moral mehr unter den Politikern
gibt.
Schaudernd sah man von Deutschland aus in die angloamerikanische
Medienlandschaft und war zufrieden, dass es hier nicht üblich
ist, eine halbwegs vernünftige Politik dadurch zu beschädigen,
dass man Gerüchte über den betreffenden Politiker verbreitet,
um ihn zu diffamieren. Denn man weiß ja, dass einerseits
ein Mensch, über den Gerüchte verbreitet werden, kaum
eine Möglichkeit hat, sich dagegen zu wehren. Es bleibt
was hängen, und wenn es bei einem amerikanischen Präsidenten
heißt, dass ist der, über den das Gerücht verbreitet
wurde, dass er sich hat einen blasen lassen. So etwas klebt an
ihm und geht nicht mehr weg.
Natürlich sagt die feixende Meute dann: er hat doch selbst
schuld, denn ... und dann kommen unterschiedliche Rechtfertigungen,
sei es, dass er versucht, sich juristisch dagegen zu wehren,
sei es, dass er es nicht versucht. Beides kann als Beleg dafür
dienen, dass was dran sei.
Gerüchte können dann wirkungsvoll verbreitet werden,
wenn sich viele Leute vorstellen können, dass an ihnen was
dran sein könnte. Man hat also schon vorher für ein
solches Klima gesorgt. Wenn selbst eine Ehescheidung immer als
anrüchig dargestellt wird, traut man jemand, der zum 4.
Mal verheiratet ist, so ziemlich alles zu.
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- Das ist das Phänomen, dass Sexualverbrecher
in schwarzer Kutte jahrelang ihre Opfer quälen können,
weil man des ihnen nicht zutraut. Man braucht aber, um Gerüchte
erfolgreich zu verbreiten, auch noch Transportmittel zum Verbreiten.
Dazu dient die Regenbogenpresse und die Boulevardpresse, dazu
dienen die unintelligenten TratscherInnen, die sich damit wichtig
machen wollen, dazu dienen die heuchlerischen Kommentatoren aus
dem Gegnerlager, die das Gerüchtemachen auch schaudernd
verurteilen und das Gerücht dabei weiter verbreiten, die
oft auch augenzwinkernd dem Opfer eine gewisse Mitschuld nachsagen.
Großes Erstaunen verbreitete sich, als offenbar wurde,
dass einer der größten Saubermann der Union, Manfred
Kanter, sich im Zusammenhang der Unions-Korruptionsaffäre
selber nicht an gewisse geschriebene und ungeschriebene Gesetze
gehalten hat, im Gegenteil, und das, während er für
manches Gesetzesüberschreiten lautstark sogar die Todesstrafe
für möglich hielt. Wir lernen daraus: wer sich ganz
besonders moralisch gibt, hat mindestens einen Grund, dies zu
tun. Man lenkt also schlicht von sich ab. Übrigens, Ex CDU-Schatzmeister
Casimir Graf Wittgenstein sprach dann von jüdischen
Vermächtnissen. Erinnert Ihr Euch? Ja ja, der Schoß
der hessischen CDU ist fruchtbar für so Manches.
Es ist interessant zu beobachten, dass das Nutzen von Gerüchten
und Verleumdungen in politischen Auseinandersetzungen zumeist
von rechts kommt. Das ist aber auch nicht verwunderlich, da man
sich mit diesen Methoden völlig aus der Schusslinie ziehen
kann, kaum einer kommt auf die Idee, gerade bei den Moralaposteln
nachzusehen, die durch ihre Angriffe ständig Druck auf ihre
Gegner ausüben. Die Moralisten und Spießer können
andererseits die Befürworter für mehr Menschlichkeit
in moralischen Fragen an ihren Spießen zappeln lassen und
nicht mehr loskommen lassen.
- Als die Verleumdung lanciert wurde, dass
der Kanzler sich die Haare färbe, was ja gar nicht wesentlich
anrüchig ist, wurde gleichzeitig intendiert, der Mann wird
alt, der Mann wird schwach usw. (Natürlich war das nicht
nur Wunschdenken, denn die Gerüchtekampagnen dienen ja der
persönlichen Verletzung.) Der Kanzler wehrte sich gegen
diese Behauptung juristisch, und natürlich wurde dies wieder
hämisch kommentiert. Und nun gehört es zum guten Ton,
immer mal etwas mit Haarfärben irgendwo einzustreuen. So
läuft das.
Nun liegt mir nichts daran, die politischen Schlägereien
deshalb zu kritisieren, weil ich ein Anhänger gerade dieses
Kanzlers wäre. Aber die Perfidie der Kampagnen kann man
hier sehr gut aufzeigen. Die Geschichte mit dem angeblichen Fremdgehen,
die mitfühlenden Diskussionen, wie es wohl der Frau Schröder-Köpf
ergehe, das alles hat schon Methode und ich kann mich hier an
entsprechende Vorgänge im Zusammenhang mit Kanzler Brandt
erinnern.
Nehmen wir zum Beispiel Herrn Barschel, den umstrittenen damaligen
Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Über seinen
SPD-Gegner Engholm tauchten plötzlich Gerüchte auf,
er habe Aids, er treibe sich in ganz bestimmten Künstlerkreisen
rum. Barschels Mann fürs Grobe, Herr Pfeiffer, packte dann
vor dem Spiegel aus, und von da an war er in Gefahr, als eigentlicher
Drahtzieher herhalten zu müssen, der ohne Auftrag von Barschel
gehandelt habe. Schritt für Schritt kamen die Sachen aber
raus.
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- Was macht ein SPD-Kandidat, der mitbekommt,
dass da irgend so etwas gegen ihn läuft? Er versucht, in
einer guten Situation die Bombe platzen zu lassen. Ihm, dem Opfer,
wurde dann zur Last gelegt, davon schon gewusst zu haben und
dies nicht gesagt zu haben. Deshalb musste er dann als Ministerpräsident
zurücktreten. Und plötzlich war das nicht die Barschel-Affäre,
sondern heute spricht man über die Engholm-Affäre.
Und man sagt pauschal, die haben alle Dreck am Stecken. Erinnert
Ihr Euch?
Wenn man für die Millionäre Politik macht und dabei
einerseits die kleinen Leute schröpft und andererseits so
tut, als nutze gerade diese Politik den kleinen Leuten, dann
kann man natürlich nicht offen über die eigene Politik
reden. Man muss wie Machiavelli vorgehen und die politischen
GegnerInnen beschäftigen, indem man sie ständig angreift
und zappeln lässt und nicht aus diesem Schwitzkasten rauslässt.
Und dazu ist das Gerüchtestreuen gerade gut. Hat der Gegner
dagegen eine Chance? Ich glaube nicht. Wenn man sich verteidigt,
wirkt man defensiv, also schwach.
Kampagnen, Gerüchte und Verleumdungen streuen usw. nimmt
dann zu, wenn es im eigentlichen politischen Feld kaum Themen
gibt, die man gegeneinander nutzen kann. Also dienen diese Gerüchte-Kampagnen
nicht dazu, ein politisches Ziel anzustreben, das könnte
natürlich auch im Hintergrund stehen, sondern im wesentlichen
um Postenjägerei oder andere Formen der Vorteilsnahme. Deshalb
ist es ganz geschickt, wenn man Gerüchte über jemanden
hört, zuerst einmal zu fragen: Wem nutzt das?
Schließlich ist noch anzumerken, dass man mit Gerüchten
auf der moralischen der sexuellen Ebene in der Bevölkerung
eine Stimmung gegen ganz übliche Verhaltenswesen erzeugt,
also der Doppelmoral Vorschub leistet. Man kann eigentlich generell
sagen, dass solche Gerüchte eigentlich nur in einem Doppelmoral-Klima
ihre Wirkung entfalten können. Unabhängig davon, ob
etwas stattgefunden hat oder nicht, das Verhalten, das Millionenfach
vorkommt, wird als schlimm dargestellt. Wenn sich der amerikanische
Präsident mal einen blasen lässt, na und? Und wenn
ein Kanzler mal fremd gehen würde? Also in welcher Welt
leben denn die Kritiker? Eine Mischung von Neid und Häme
wird hier mobilisiert. Und das ist einfach ekelhaft.
Homosexualität ist anscheinend auch immer noch so ein Thema.
Noch immer wird darüber gestichelt, als sei dies etwas Schlechtes.
Nun gut, es gibt doch eine ganze Reihe von Lesben und Schwule,
die glauben, dass sie sich dafür schämen müssten,
was andere so treiben. Und so sind sie immer ein wenig auf dem
Sprung, anderen Bescheid zu sagen, damit nicht das Bild in der
Öffentlichkeit durch diese beschmutzt werde. Ich werte das
so, dass sie ihr Coming-out noch nicht ganz geschafft haben.
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- Natürlich haben sie Angst, dadurch Nachteile
zu haben, dass andere sich ausleben, während sie selbst
sich (noch) nicht trauen. Sie müssen sich offensichtlich
noch immer gegenüber den Moralisten und Spießern rechtfertigen,
sind es vielleicht selber noch. Nun erfahre ich, dass wenn es
um Geld oder andere Vorteile geht, einige Lesben und Schwule
in der Lage sind, gerade im Einvernehmen mit spießigen
Heten den Moralapostel zu spielen und über andere irgendwelche
Gerüchte zu streuen, die ausreichen, sich in Vorteil zu
bringen und jemand anderes zu beschädigen.
Heuchlerische Leute unserer Szene sind eine rechte Plage. Ihre
verlogenen Moralisierungen können solche Heten gegen den
einen oder anderen aufbringen, die nicht mehr die Doppelmoral
mitmachen wollen und zu dem stehen wollen, was sie sind und was
sie tun: Lesben- und Schwulenfeinde bekommen damit Gründe,
gegen uns zu sein, ohne als Lesben- und Schwulenfeinde zu gelten.
Müssen wir daher immer im latenten Moraldruck leben, um
selbst keine Vorwände zu liefern?
Es geht uns nämlich darum, ohne Schuldgefühle zu sein
und dennoch zufriedenstellend zu leben. Ist das zu viel verlangt?
Und so finde ich, dass wir alle eigentlich solche Gerüchteverbreiter
nicht unterstützen dürfen, solche Moralisten und Spießer
nicht fördern dürfen, indem wir ihr mieses Tun in irgend
einer Form rechtfertigen oder unterstützen. Sie vergiften
das gesellschaftliche Klima generell und arbeiten daher objektiv
gegen unsere Interessen. (js)
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