- 73. LUST, Winter 02/03
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- Perspektiven (Zukunftsangst) und Lebensgefühl
- An das Lebensgefühl, das ich hatte,
als ich das sogenannte Arbeitsleben noch weitgehend vor mir hatte,
kann ich mich noch erinnern. Es war geprägt von Vorstellungen,
dass alles aufwärts geht, alles besser wird. Klar lebt man
heute besser als früher, aber früher hatten wir das
Gefühl, dass es nur besser werden könne. Und in den
Bereichen, in denen es nicht genügend danach aussah, dass
es besser wird, wollten wir es als 68er besser machen.
Und dieses im Grunde optimistische Lebensgefühl hatte Auswirkung
auf mein Denken und Handeln in vielen Bereichen. Auch unsere
damaligen politischen GegnerInnen hatten dieses im Grunde optimistische
Lebensgefühl, denn es war dem Zeitgeist einer ganzen Generation
entsprechend.
Um diese Bereiche möchte ich mich in nächster Zeit
in der LUST bei heutigen Jugendlichen kümmern, da ich sie
in ihrem Handeln und Denken oft nicht verstehen kann. Dazu muss
ich aber auch ihr Lebensgefühl kennen lernen.
Junge Menschen, die heutzutage an ihre Zukunft denken, können
meiner Meinung nach nicht das gleiche optimistische Lebensgefühl
haben wie wir, weil dazu kein Anlass besteht. Möglicherweise
haben sie es trotzdem, dann aber nur durch Realitätsflucht.
Ist Eskapismus unter den Jugendlichen weit verbreitet?
Weil ich es nicht weiß, will ich einfach unterschiedliche
Jugendliche befragen, männliche und weibliche, hetige und
homosexuelle, unterschiedlicher Bildung und unterschiedlicher
sozialer Stellung. Aber wie findet man Jugendliche, denen es
Spaß macht, in solch einer Form ausgefragt zu werden?
Liebe LUST-LeserInnen, könnt Ihr mir da nicht mal helfen?
Wenn die ersten Interviews stattgefunden haben, werde ich sie
in der LUST veröffentlichen, um Euch an diesen Prozessen
teilnehmen zu lassen.
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- Das Elend der Ironie
Heißt ein Buch, geschrieben von dem Jedediah Purdy, dass
in den Medien gefeiert wird als Werk, dass den Trend neuen Denkens
über die vom Neoliberalistmus beeinflussten Jugendlichen
aufweise. Im Klappentext heißt es: Was ist passiert?
Immer cool, kritisch und leicht distanziert: so lautet das moralische
Vermächtnis der Großen Dekonstruktion eine
intellektuelle Trümmerlandschaft, in der eine ganze Generation
herumirrt.
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- Gänzlich frei, mit allen Wassern gewaschen,
stilbewusst und unglücklich. Welches Engagement lohnt
sich? Eine Zeit lang schien es, als könnten die Versprechen
der New Economy Rettung bieten. Dann kam der Absturz. Was nun?
Jedediah Purdy ist der erste, der den Wiederaufbau wagt: Radikal
pragmatisch, enthusiastisch und klug, sondiert er die Optionen
der Veränderung. Was brauchen wir, um uns wohl zu fühlen?
Was kann Politik leisten? Ohne sich kokett nach Schicksal und
Tiefe zu sehnen, plädiert er für die Rehabilitierung
des Gemeinschaftlichen, für Unmittelbarkeit, Zuständigsein
und das Vertrauen in die gestaltbare Welt des Politischen. Als
Vertreter der Generation unter 30 fordert er uns auf, »gemeinsame
Sache« zu machen.
Ein Unter-30-Jähriger? Ich
lese: Jedediah Purdy wurde 1974 auf einer Farm in Chloe
(West-Virginia) geboren, wo er auch aufwuchs. Privatunterricht
durch die Eltern, mit 16 Jahren Eintritt in die Phillips Exeter
Academie in New Hamshire. Nach dem Abschluss Rückkehr nach
West-Virginia; ein Jahr aktive Mitarbeitin der Umweltbewegung
auf politischer wie auf kommunaler Ebene. Danach Collegbesuch
in Harvard und Jurastudium in Yale. Zur Zeit ist Purdy Stipendiat
der New America Foundation, Washington, D.C..
Wenn er als Kind von seinen Eltern auch unterrichtet wurde, ist
denn dann seien neue Message nicht in Wirklichkeit ein Zurück
zur Natur? Dann könnte ich den Aufruhr um seine Thesen nicht
verstehen.
Bevor ich die 19,80 Euro ausgebe, um mir dieses Buch zu kaufen,
versuche ich, in den Rezensionen Näheres über Purdy
und sein Buch zu erfahren:
PURDY, Jedediah (2000): Das Elend der Ironie.
Wo der Zeitgeist im Fitnesscenter weht, stirbt das öffentliche
Leben. Plädoyer für eine neue Politik, in: Die ZEIT
Nr.37 v. 07.09.
PURDY, Jedediah (2002): Was war Neoliberalismus? World of Passions:
How to Think About Globalization Today lautet der Originaltitel
eines großen Essays, in dem der junge amerikanische Autor
Jedediah Purdy untersucht, an welchen Defekten das neoliberale
Projekt gescheitert ist. Warum führt selbst gut gemeinte
Liberalisierung allzu häufig in illiberale und undemokratische
Verhältnisse? Purdys Diagnose: Die Bannerträger des
Neoliberalismus haben die Bedeutung menschlicher Leidenschaften
ignoriert.
Kommentar: In Deutschland formiert sich gerade eine selbstgerechte
Bobokratie. Dieses Kampfbündnis der neoliberalen Besitzstandwahrer
und -mehrer, bestehend aus alter und neuer Elite, die den Ausverkauf
der Arbeitnehmergesellschaft betreibt, indem sie Junge gegen
Alte und Arbeitsplatzbesitzer gegen Erwerbslose ausspielt, betreibt
ein perfides Spiel, bei dem alle verlieren werden und der größte
Verlierer ist die demokratische Kultur in unserem Land.
Jedediah PURDY hat ihre Strategie in diesem lesenswerten Essay
beschrieben: Für die Theoretiker des Washington-Konsens
war die Politik der Feind, weil sie der Ort war, an dem sich
so antireformerische Haltungen wie die Angst vor der Veränderung
und die Anhänglichkeit an bestehende Verhältnisse Ausdruck
verschaffen konnten.
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- Williamson schlug sogar vor, Wirtschaftskrisen
mit Absicht herbeizuführen, um die Ketten der Politik zu
sprengen: »Sollte es sich tatsächlich als schwierig
herausstellen, Beispiele dafür zu
finden,
dass die umfangreichen politischen Reformen, die für eine
offene Markt- und Wettbewerbsgesellschaft nötig sind, zustande
kommen, ohne das ihnen eine tiefe Krise vorausgeht, dann wäre
darüber nachzudenken, ob solch eine Krise nicht mit Absicht
herbeigeführt werden sollte, um den politischen Reformstau
aufzulösen« Aus dieser Perspektive ist Politik dann
nur noch in dem Maße von Interesse, wie sie der Durchsetzung
der ökonomischen Logik im Wege steht. Feuilleton-Revoluzzer
von Konrad ADAM über Sascha LEHNARTZ bis zu Arnulf BARING
versuchen in Deutschland offenbar gerade diese antidemokratische
Strategie aus den Arsenalen der psychologischen Kriegsführung
in die Tat umzusetzen.
LEITGEB, Hanna (2002): Im Jenseits der Ironie, Jedediah Purdy,
Amerikas Antwort auf die Spaßgesellschaft, startet einen
neuen Angriff auf die USA und denkt über sich selber nach,
in: Literaturen Nr.11, November.
SCHWARZ, Patrik (2002): Was für ein ordentlich junger Mann.
Als Jungstar der Politphilosophie erfüllt Jedediah Purdy
das Bedürfnis vieler Amerikaner nach neuer Ernsthaftigkeit,
in: TAZ v. 08.11.
SCHWARZ, Patrik (2002): Absurder Optimismus. Die
zentrale Erfahrung wird die Ungleichheit innerhalb der Generation
sein: Der amerikanische Philosoph Jedediah Purdy über die
Zukunft der Dreißigjährigen, das Ende der New Economy
und darüber, warum es okay ist, seine Eltern zu verteidigen,
in: TAZ v. 11.11.
Inhalt: PURDY erteilt dem Kampf der Generationen eine Absage
und thematisiert stattdessen die Ungleichheiten innerhalb einer
Alterskohorte: Die Internet-Bubble ist geplatzt. Gehts
jetzt zurück zur Erfahrung der Generation X, wie sie Douglas
Coupland schon einmal Ende der 80er-Jahre beschrieb: eine Jugend,
der es zwangsläufig dreckiger gehen wird als ihren Eltern?
Die Coupland-Einstellung, es werde immer abwärts gehen,
hat etwas gemeinsam mit dem absurden Optimismus der New Economy:
Beide Fantasien spiegeln die Tendenz wider, von begrenzter Erfahrung
kühn zu extrapolieren - einmal nach unten, einmal nach oben.
Beides war natürlich eine Karikatur. In Wirklichkeit wird
die zentrale Erfahrung unserer Generation die Ungleichheit innerhalb
der Generation sein. Anders als früher geht es heute nicht
mehr um den Kampf einer Generation gegen die andere - sondern
um den Kampf innerhalb unserer Generation um ökonomische
und soziale Perspektiven.
NOLTE, Paul (2002): Der amerikanische Dissens. Jedediah Purdy
kritisiert die ironische, unpolitisch-distanzierte Haltung der
kommerzialisierten Popkultur in den USA. Seine Streitschrift
ist furios, naiv - und voller interessanter Anregungen, in: TAZ
v. 17.09.
Inhalt: Paul NOLTE stellt das Buch Das Elend der Ironie
(For Common Things) des Kommunitaristen Jedediah
PURDY vor: Und welche Ironie ist es, die Purdy kritisiert?
Es ist vor allem die ironische, unpolitisch-distanzierte Haltung,
die in der kommerzialisierten Popkultur vorgeführt wird,
in Sitcoms wie »Seinfeld« - ein Gestus, der in Deutschland
vielleicht in Florian Illies »Generation Golf« seine
Entsprechung hat. Schön und gut, aber der Ironie als geistigem
und politischem Prinzip wird damit Unrecht getan (...). Die ironische
Haltung in der Politik ist schließlich ein wichtiges Korrektiv
gegen alle Formen von Fundamentalismus und falscher Verbohrtheit
(...).Aber das ändert nichts daran, dass hier ein wichtiges
und schwungvoll geschriebenes politisches Manifest eines Autors
vorliegt, der nicht nur in Amerika etwas zu sagen hat.
FREUND, Wieland (2002): Eintritt frei ins postironische Zeitalter.
Purdy und die Anti-Rebellen gegen Uneingentlichkeit, in: Welt
v. 31.10.
Inhalt: FREUND stilisiert den US-amerikanischen Kommunitaristen
Jedediah PURDY, dessen Buch Das Elend der Ironie
gerade auf deutsch erschienen ist, zum Anti-Rebellen. Für
FREUND stehen die Grünen in der Tradition PURDYs, während
die FDP als ängstlich, opportun, bindungsunfähig
charakterisiert wird. Mit dem Wahlsieg der Grünen und der
Niederlage der FDP ist gemäß FREUND das Zeitalter
der Postironie eingeleitet.
MOHR, Reinhard (2002): Also sprach Jedediah. Mit seinem Buch
über das Elend der Ironie erregt der junge amerikanische
Autor Jedediah Purdy nun auch in Deutschland Aufsehen. Doch so
treffend die Kritik am zynischen Kult der Oberfläche ist
- zum politischen Diskurs steuert Purdy kaum mehr als guten Willen
bei, in: Spiegel Nr.46 v. 11.11. Kommentar: Der Spiegel glänzt
mit Einfallslosigkeit und übernimmt einfach den Titel vom
Harpers Magazine, um über PURDY zu spotten. MOHR beherrscht
die Kunst des Zaungasts. Er bleibt von der Spaßgesellschaft
genauso weit entfernt wie von der Neuen Ernsthaftigkeit eines
Jedediah PURDY.
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- Das Buch selbst
Und das habe ich selbst in dem o.a. Buch gelesen: Purdy empfindet
die Welt des Neo-Liberalismus als Ursache einer menschlichen
Verrohung, die es dem Individuum verbietet, in irgendeiner Form
am Gesamtgeschehen teilzunehmen. Er nennt die Haltung, die daraus
entstanden ist und die er beobachtet: Ironie. Ich glaube
nicht daran, dass uns die Ironie, und sei sie noch so massiv,
davon überzeugt hat, dass es das Wirkliche, das Wahre, das
Unsere nicht gibt. Wir glauben doch (wenn wir es nur zulassen),
dass es Dinge gibt, auf die wir vertrauen können, Worte,
die wir im Ernst sagen können. Ironie macht uns vorsichtig
und verlegen in unsrer Überzeugung.
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- Wir wollen nicht, dass die Dinge, auf die
wir vertrauen, bekrittelt, entzaubert, niedergemacht werden,
und wir sind nicht sicher, dass sie im grellen Licht der skeptisch
reflexiblen Zeit gut aufgehoben sind. ... und Ich
glaube, dass diese Gedanken formuliert werden müssen, um
überhaupt zu bestehen. und auch Über diese
Dinge zu schreiben heißt für mich auch, über
West-Virginia zu schreiben (S. 11)
Ich werte diese Aussagen so, dass er an bodenständigen Ansichten,
geboren aus dem Farmer-Alltag, hängt und die Kritik aus
Sicht des Neo-Liberalismus an diesen rückständigen
Ansichten im Grunde versteht. Und weil ihm diese Kritik unbehaglich
ist, wehrt er sich dagegen. Er empfindet sie als inhaltsleer,
nennt sie einfach Ironie, da dieses Wort keinen Inhalt,
sondern eine Methode zum Kritisieren darstellt. Das geht für
mich auch aus dem folgenden Zitat hervor: Ich verstehe
mein Buch als eine Einladung, unsere Aufmerksamkeit wesentlichen
und vernachlässigten Dingen zuzuwenden, und als Vorschlag,
wie dies aussehen könnte. Es ist dies ein Liebesbrief eines
jungen Mannes an die Möglichkeiten der Welt, verfasst in
der Annahme, dass andere ihre eigene Sehnsucht darin wiedererkennen
und antworten werden. (S. 17).
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- Er sieht in der ironischen Haltung die Vertreter
des wertelosen Neo-Liberalismus, und in den ironischen Menschen
solche, die sich scheuen, Werte zu vertreten. Sie sind aus seine
Sicht somit in Wirklichkeit verängstigte Mitläufer.
Die ironische Antwort auf diese ungewissen Strömungen
ist ein beflissenes sich Fügen. Das unterscheidet den Ironiker
von dem schwärzeren und bekannteren Typus des Zynikers.
Der Zyniker, der sich wenigstens ein gewisses Restgefühl
von eigener Überlegenheit bewahrt hat, bleibt zuhause und
schimpft auf bornierte und unernste Partybesucher. Der Ironiker
hingegen besucht die Party, ohne sich wirklich auf sie einzulassen.
Und brilliert dafür mit den besten Bonmots des Abends.
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- Ein nicht enden wollender Spaß zieht
sich durch die Kultur der Ironie ein Spaß nicht
auf Kosten aller, sondern auf Kosten der Idee, dass irgend jemand
den ganzen Betrieb wirklich ernst nehmen könnte. (S.
23) Und so kann sich der Ironiker mit nichts identifizieren,
es ist der Ausstieg aus jeder Form der gemeinsamen Teilnahme,
es bleibt nur die individuelle Karriere übrig. Jüngste
Meinungsumfragen, die Zeigen, dass College-Studenten heute weniger
Erwartungen und dafür mehr Interesse am Geldverdienen haben
wie seit Menschengedenken nicht mehr, lassen weniger auf Raffgier
eines Gordon Gecko in dem Film Wall Street schließen als
auf den Verdacht, dass nicht anderes wirklich den Einsatz lohnt.
(S. 27 f)
Lösung dieses Problem könnte die Politik sein. Seit
der radikalen Epoche der Französischen Revolution besteht
die Verheißung, dass Politik die Situation des Menschen
auf elementare Weise zum Besseren wenden könnte. Politik
könnte demnach all die unnötigen, grausamen und erbitterten
Auswüchse der Geschichte tilgen und sie durch gerechte und
menschliche Gesetze ersetzen, bei denen Menschen zum ersten mal
so frei leben würden, wie sie geboren wurden. (S.
9). Aber ach, auch die Politiker sind Ironiker geworden und handeln
inhaltsleer. Selbst die Religion wird nur nach Interessen auszugsweise
genutzt. Daher kann nichts anderes entstehen, dass sich die ironisch
gewordenen Menschen in ihrer Inhaltsleere auch von der Politik
abwenden.
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- Trotz allem ist die Politikverdrossenheit
nicht einfach eine Reaktion auf den Zustand des öffentlichen
Lebens. Viel mehr sind die Gleichgültigkeit gegen die Politik
und (im geringerem Maße) ihre Stagnation Symptome eines
Mangels an Kultur selbst. Was Kultur unter anderem leistet, ist,
dass sie dem Menschen Möglichkeiten des Nachdenkens über
eigenes Tun liefert. Die Menschen können dann eine Beziehung
zwischen ihrer Arbeit, ihren Begabungen und den Bedürfnissen
der Welt erkennen.
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- Sie nehmen ihre Arbeit als Teil eines Ganzen
wahr, von dem bestimmte Möglichkeiten gut sind, die man
bestärken kann. Mit anderen Worten: Eine reiche Kultur hilft
den Menschen zu sagen, wozu ihre Arbeit da ist und welchen Zwecken
sie dient. (S. 51) Und hier fügt er das Element der
Verantwortung des Individuums für das Ganze ein. Und so
kommt er auf die Politik zurück. Dass in den besseren
Zeiten der Clinton-Administration die Vorschläge des Präsidenten
zur Innenpolitik ein Fähnchen in den wechselnden Winden
der Meinungsumfragen waren, war keine Überraschung; schließlich
erfolgten solche Vorschläge im großen und ganzen um
eines politischen Vorteils willen. Wer mehr von einem Politiker
verlangte, würde verraten, dass er die Spielregeln nicht
begreift.
Wenn Politik als eigenständige Form des Theaters begriffen
wird, darf es nicht überraschen, dass ihr Personal aus der
Unterhaltungsbranche stammt. Die vorherrschende Einstellung zur
Politik (nach der Gleichgültigkeit) sieht in ihr ein Zwitterwesen
aus Zuschauersport und Promi-Kultur. Die Talkshows am Sonntagvormittag
bedienen den Zuschauerstandpunkt, indem sie konkurrierende Darstellungen
geben, mit wem es bergauf und mit wem es bergab geht und wo der
smarte Anleger demnächst investiert. (S. 53f) Ist
diese Auffassung von Purdy noch Ironie oder schon Zynismus? Auf
jeden Fall sieht er auch eine Inhaltsleere in der Politik, nicht
nur in der Innen- sondern auch der Außenpolitik. Ein
großer Teil der heutigen Außenpolitik dieses Landes
beruht dann auch auf der Überzeugung, dass wir alle demselben
Ziel zustreben.
Die amerikanische Nachsicht mit chinesischen Menschenrechtsverletzungen
wird mit der Überzeugung verteidigt, dass freie Märkte
unfehlbar befriedend wirken und dass Regierungen, die McDonald´s
zulassen, nicht nur nicht gegeneinander Krieg führen, sondern
letzten Endes freie Wahlen abhalten und von der Misshandlung
ihrer Bürger absehen werden. (S. 63f)
Auch im internationalen Bereich sei anstelle einer Verantwortung
die Ironie getreten. Die Kluft zwischen Reich und Arm in
der Weltwirtschaft werde größer, erklärte mein
früherer Schulfreund. Befürchtungen, wonach die amerikanischen
Löhne in dem Maße nach unten eingeebnet würden,
wie Berufstätige in der ersten und der dritten Welt zunehmend
um dieselben Arbeitsplätze konkurrierten, seien nicht unbegründet.
Die ärmsten Länder der Welt würden dabei wohl
Vorteile haben, die eigentlichen Gewinner aber seien Menschen
wie er, Mitglieder der Finanzelite, die das neue mobile Kapital
auf den Weg bringen konnten. Der Gang der Dinge stehe fest. Er
könne zwar nicht sagen, dass er ihn unterstütze, aber
er sehe auch keinen Grund, zu den Verlierern zu zählen.
(S. 101)
Dies alles überzeugt den Autor noch mehr, sich wieder einmischen
zu wollen. Das mangelnde Interesse an politischem Engagement
mündet auch in persönliches Unbehagen. Der Verfall
der öffentlichen Dienste, der ehrgeizige junge Leute veranlasst,
ihnen aus dem Weg zu gehen, ist zum Teil ein Produkt der Politik.
Mit der steigenden Anzahl der Gefängnisinsassen, in Gang
gesetzt durch Verhängung langer Freiheitsstrafen und verstärkt
durch die Privatisierung der Gefängnisse, erweisen wir uns
einen schlechten Dienst.
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- Die Gefährdung der Privatsphäre
ist das Ergebnis einer Politik, die zwischen inquisitorischer
Verfolgung und völliger Gleichgültigkeit schwankt.
Wenn man nicht gerade sehr reich ist, nimmt man durch bürgerschaftliche
Institutionen vermittelt am politischen Leben teil.
Ob bei der Unterstützung eines Kandidaten oder beim Protest
gegen ein Vorhaben, wir alle agieren in bereits bestehenden Zirkeln:
Nachbarschaftsvereinigungen, Gewerkschaften, Berufsgruppen, ....
Durch politische Arbeit werden die Beziehungen erweitert, verändert,
manchmal auch aufgebrochen. Unsere Lebensqualität entsteht
überhaupt erst in Beziehungen, die zwar nicht rein politisch,
aber im weitesten Sinne bürgerschaftlich sind. Geben wir
diese Beziehungen auf, verspielen wir auch die Möglichkeiten
der Einflussnahme und Gestaltung. (S. 106f)
Und das ist dann wohl der Kern seines Appells, nämlich dass
man sich wieder verantwortlich einmischen soll. Das soll also
der Aufbruch der neuen Jugend sein, die von dem Zeitgeist des
Neoliberalismus, der Ironie, genug hat? Wenn es wahr wäre,
wäre dies doch immerhin ein Anfang. Ich befürchte allerdings,
dass es sich anders verhält. Sein Protest in diesem Buch
erscheint mir eher aus der Sicht des bodenständigen Farmers
aus West-Virginia stattzufinden, der im weltweiten Neo-Liberalismus,
in der Globalisierung, noch nicht ganz angekommen ist. Das Buch
Das Elend der Ironie ist bei eva erschienen, hat
214 Seiten, kostet 19,80 Euro, ISBN 3-434-50538-5
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- Arbeitswelt der Zukunft
Bei meiner Internet-Suche nach der Sichtweise der heute Jugendlichen
bin ich dann noch auf eine Autorin gestoßen, die sich in
den USA eine Zeitlang nicht im gehobenen Bildungsbürgertum
und auch nicht in der oberen Finanzwelt aufgehalten hat. Ein
bisschen erinnert mich das an Günther Walraff.
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- Singles in den USA
ist der zusammenfassende Titel diverser Veröffentlichungen
der US-amerikanischen Publizistin Barbara Ehrenreich. 
Ihre Kurzbiographie: Studium der Chemie, Physik und Molekularbiologie,
1983 Sachbuch The Hearts of Men (Die Herzen der Männer),
1989 Sachbuch Fear of Falling (Angst vor dem Absturz),
2001 Sachbuch Arbeit Poor Ihr aktuellster Beitrag
heißt Die kleinen Leute als Komparsen
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- Arbeit poor
Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft (2001) München:
Kunstmann. Klappentext zu Arbeit poor:
Die Dienstleistungsgesellschaft ist unsere Zukunft, heißt
es. Barbara Ehrenreich hat diese Welt des Jobwunders erkundet.
Um herauszukriegen, wie man im sogenannten »Niedriglohnsektor«
lebt, ließ sie sich als Zimmermädchen anstellen, arbeitete
als Serviererin, als Altenpflegerin und als Verkäuferin.
Sie erfuhr, dass bei Einstellungen von Persönlichkeits-
und Drogentests, kaum aber von Stundenlohn gesprochen wird, stellte
fest, wie viel Kenntnisse auch die angeblich einfachen Tätigkeiten
erfordern und wie schnell der Mut verloren geht, sich gegen unzumutbare
Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen.
Ein Kommentar:
Die Single-Hierarchie in der beschleunigten Gesellschaft
Was Peter GLOTZ für den Digitalen Kapitalismus prophezeit,
das ist in den USA bereits
deutlich
zu sehen. Die US-amerikanische Publizistin Barbara EHRENREICH
hat sich im Segment, der personenbezogenen Dienstleistungen à
la WALRAFF kundig gemacht. Diesen Dienstleistungssektor zählt
GLOTZ zum dritten Drittel, in dem die Entschleuniger
ihr Dasein fristen müssen.
Überall sind Jobs schnell zu haben, aber die Mieten
stark gestiegen. Beides ist eine direkte Folge des Booms. Der
Aufschwung, der den Armen auf dem Arbeitsmarkt zugute kommt,
schadet ihnen auf dem Wohnungsmarkt; auf dem einem profitieren
sie vom Wohlstand der Reicheren, auf dem anderen müssen
sie gegen sie antreten. Also bin ich gar kein Armuts-,
sondern vielmehr ein Wohlstandopfer, schließt Ehrenreich.
(Berliner Zeitung v. 09.10.2001)
Im Gegensatz zur allgemein üblichen Meinung gehören
Singles nicht generell zu den Beschleunigern, d.h. den Besserverdienden,
sondern zunehmend zu den Geringverdienenden. Die Datenlage ist
aus politischen Gründen leider unzureichend.
Der Mainzer Soziologe Stefan HRADIL hat 1995 Daten veröffentlicht,
wonach 1988 in Deutschland mehr als ein Fünftel der erwerbstätigen
25-55jährigen Alleinlebenden mit weniger als 1200,- DM Nettoeinkommen
pro Monat auskommen mussten. Obwohl im Erwerbsalter wesentlich
mehr Männer im Einpersonenhaushalt wohnen, gehören
sie prozentual gesehen fast genauso oft zu den Geringverdienern
wie weibliche Singles. Dies ist ein Tatbestand, der von der dominierenden
feministischen Forschung ausgeblendet wird. Seitdem dürfte
sich die Lage weiter zuungunsten der männlichen Geringerverdiener
verschlechtert haben.
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- EHRENREICH, Barbara (2001): Putzen, bis das
Rückgrat bricht.
Was ist dran am Jobwunder USA? Die amerikanische Journalistin
Barbara Ehrenreich hat es im Selbstversuch erkundet. Sie schlug
sich als Serviererin, Verkäuferin und Putzfrau durch. Das
Magazin veröffentlicht einen Auszug aus ihrem Buch Arbeit
poor, in: Frankfurter Rundschau v. 08.09.
Rezension
KNIPPHALS, Dirk (2001): Mrs. Ehrenreich im Wunderland.
Arm sein in Amerika: Wie geht das? Wie funktioniert das? Welche
Fähigkeiten muss man mitbringen? Die amerikanische Publizistin
Barbara Ehrenreich geht diesen Fragen mit der altmodischen journalistischen
Methode nach: Sie zieht einfach selbst los und findet es heraus
- die Studie Arbeit poor in: TAZ v. 29.09.
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- Angst vor dem Absturz
Klappentext zu Angst vor dem Absturz Das Dilemma der Mittelklasse
(1992): Barbara Ehrenreich, die bekannt ist für ihre angriffslustigen
Essays, nimmt in Angst vor dem Absturz das Innenleben der amerikanischen
Mittelklasse unter die Lupe. Sie verfolgt den Weg dieser »neuen
Mittelklasse« von den »linksliberalen« sechziger
Jahren bis zur Yuppiekultur der achtziger Jahre und erzählt
die Geschichte einer Wandlung: eine Geschichte, die mit Optimismus
und Selbstlosigkeit anfängt und in Resignation und Ratlosigkeit
endet.
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- Die Herzen der Männer
Klappentext zu Die Herzen der Männer. Auf der Suche
nach einer neuen Rolle (1983): Der »Krieg der Geschlechter«
und die »Lösung geschlechtsspezifischer Rollenkonflikte«
bestimmten in den letzten zwanzig Jahren die - nach weitverbreiteter
Ansicht von Frauen ausgelöste - Diskussion über die
Beziehungen der Geschlechter zueinander.
Barbara Ehrenreich vertritt die These, dass dabei - versteckt
hinter viel Rhetorik - eine der wichtigsten Veränderungen
übersehen wurde: der Verfall des Moral-Gesetzes, nach dem
Männer zuallererst Ernährer einer Familie sind. Die
Autorin weist nach, dass Männer durch Fluchttendenzen aus
dieser traditionellen Verantwortung als Brotverdiener mehr im
Zusammenleben der Geschlechter verändert haben als Frauen
- und dies seit den frühen Fünfzigern, mehr als zehn
Jahre vor dem Sichtbarwerden der sogenannten Frauenbewegung.
- Kommentare zu Die Flucht der Männer
vor der Verantwortung
DIEDERICHSEN, Diedrich (2002): Ein Alien für alle: Nach
zwanzig Jahren kommt Steven Spielbergs E.T. wieder
ins Kino. Der nette Außerirdische hat die amerikanische
Kulturpsychologie geprägt und wirkt bis in heutige Zuwanderungsdebatten
fort, in: Die ZEIT Nr.14 v. 27.03.
Der Poptheoretiker DIEDERICHSEN hat ein Herz für den außerirdischen
Sozialarbeiter E.T. und die vaterlose Kleinfamilie:
Konkret wird E.T. nur in einem Punkt: nämlich bei
der Bestimmung der näheren Umstände seines Willkommenseins.
Er ist nicht einfach auf diesem Planeten willkommen: Im Gegenteil,
Militärs und andere Autoritäten wollen ihm ja an den
langen, dünnen Kragen. Nein, willkommen ist er in der Familie,
in der vaterlosen Kleinfamilie. Hier fehlt einer, der der überforderten
Mutter zur Hand geht, vor allem bei der emotionalen Betreuung
ihrer Brut. So wie die Deutschen Inder brauchen, weil sie sich
mit abstrakten Computern nicht auskennen, brauchten die Amerikaner
damals ganz bestimmte Aliens, Emo-Spezialisten, die die konkreten
Defizite der All-American-Kleinfamilie kompensieren würden.
Diese Defizite sind nicht irgendwelche, sondern historisch konkrete.
Drew Barrymore, später soziopathisches Drogenopfer und noch
später wieder Superstar, spricht es mit der beschädigten
Niedlichkeit des jüngsten Opfers aus: Unser Papa ist in
Mexiko. Der Ort, in den sich Joe flüchtet mit einer Gun
in seiner Hand, in dem Beatniks seit den Fünfzigern und
Gangster seit dem 19. Jahrhundert vor den USA in ihre zweifelhafte
Selbstverwirklichung abhauen. 20 Jahre vor Houellebecq, der dafür
die 68er-Frauen verantwortlich machen wird, sind es bei Spielberg
noch die Männer, die aus egoistischen Gründen unverantwortlich
Löcher in das emotionale Netz reißen - und für
die jetzt Facharbeiter aus den Tiefen des Weltraums einspringen
müssen.
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- Liebe geplagte LeserInnen dieses Beitrages,
Ihr seht schon an dem besprochenen und in den Medien diskutierten
Buch, an den anderen kurz vorgestellten und diskutierten anderen
Büchern, dass die heutige Job-Welt, die heutige Jugendliche
zum Erstaunen Älterer schon für selbstverständlich
halten, auch die entsprechende Auffassung zum Job, zum Leben
überhaupt nach sich zieht. Es ist dies eine echte Paradigmenwende
in der Lebensphilosophie.
Diese geänderte Lebensphilosophie scheint einen Generationsbruch,
zumindest in den Anschauungen darzustellen, der sich nicht nur
in der Ideologie zeigt. Dieser Bruch zeigt sich eben auch in
der Ansicht darüber, was Lebensgrück ist, woraus man
seine positive Lebenskraft schöpft, was man für sein
Leben anstrebt usw.
Das ist nicht nur ein spannendes Thema für mich Alten, sondern
eben auch ein Thema für die Gesellschaftspolitik. Mit welchen
Auffassungen bekommen wir es zukünftig zu tun? Gibt es zukünftig
noch das Streben nach Emanzipation? Will der individuelle Mensch
zukünftig privates oder kollektives Lebensglück erreichen?
Es ist auch ein Thema für unsere Szene, denn das hat Auswirkungen
auf die Handlungen junger Lesben und Schwuler in der Szene. Und
genau deshalb werden wir dem Thema auf der Spur bleiben, mit
Eurer Billigung hoffentlich und Eurer Unterstützung. (js)
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