71. Ausgabe, Sommer-LUST, Juni/Juli/August 02
 
Der 175er
Das Bild eines Mannes in der Gesellschaft.
 
Was hat das eigentlich mit uns zu tun?
Seit 1870 gibt es ihn, den Hundertfünfundsiebziger und vorher gab es das gleiche unter anderen Namen. Ein Hundertfünfundsiebziger? Was ist das überhaupt?

Nun, das erfahren wir zumeist von denen, die uns deutlich zu verstehen geben, dass sie selbst so etwas nicht sind. Und wir erfahren dadurch zuerst einmal, es geht um männliche Personen, und diese Männer haben kein besonders gutes Ansehen. Man möchte nicht so sein wie die. Man möchte auch unter keinen Umständen für so jemanden gehalten werden, über den die Frauen kichern und Männer angewidert ihr Gesicht verziehen. Aber warum kichern Frauen darüber und warum zeigen sich Männer derart angewidert?
 
Als 15- oder 16-Jähriger wusste ich noch nicht, was das ist, und viele tuschelten über diese Leute, um die etwas geheimnisvolles Negatives war. Warum wird der 175er so verachtet, fragte ich mich, und was ist es denn, was ihn von uns unterscheidet?
 
Auf meine Frage erhielt ich zum Beispiel die Antwort: “Die haben am 17. Mai Geburtstag”. Nun wusste ich ja, dass mein Meister in meiner Lehre am 17. Mai Geburtstag hatte. “Ist denn Herr Gabler* ein 175er? Der hat doch am 17. Mai Geburtstag?”, fragte ich also naiv einen Gärtnergehilfen und grinsend wurde geantwortet: “Nein, das ist keiner, der ist verheiratet. Aber frage ihn selbst lieber nicht,” warnte man mich. Warum ich nicht fragen sollte, wusste ich damals noch nicht, aber ich befolgte die Warnung. Jedenfalls war ich etwas weiter. Also: ein Hundertfünfundsiebziger musste jemand sein, der am 17. Mai Geburtstag hat und nicht verheiratet ist. (* Der Name wurde verändert)
 
“Die sind krank,” sagte mir ein ernsthafter Kollege auf mein beharrliches Fragen einmal, “denn die verwechseln Männer mit Frauen”. Auf weiteres Fragen waren keine weiteren Antworten zu hören und ich grübelte über diese seltsame Krankheit nach, wo man einen Rock nicht von einer Hose unterscheiden konnte und eine helle Stimme nicht von einer dunklen. Das sieht man doch von weitem, dachte ich und war überzeugt, dass ich an solch einer Krankheit nicht erkranken könnte. Es kam ja ohnehin nicht in Frage, da ich an einem anderen Datum Geburtstag habe.
 
Irgendwann erklärte mir einer, dass ich das falsch verstanden hätte. Die wüssten selbst nicht, ob sie Mann oder Frau seien. Und daher würden die das falsch machen, mit dem Verlieben. Deshalb wären die nicht verheiratet. Und die hätten nicht am 17. Mai Geburtstag, das sage man nur so. Was die machen würden, wäre verboten, und da gebe es ein Gesetz, was 175 heiße. Und ich solle mich nicht mit solchen Leuten abgeben, erklärte er mir noch, denn die würden versuchen, mich zu verführen.
 
Wozu verführen, das verriet er mir nicht. Ich fand es absolut absurd, dass mich so jemand verführen könnte, zu was auch immer, denn das war mir doch unklar. Jedenfalls hatte ich mit solchen kranken Leuten nichts zu tun, das war mir klar. Ich war auch ein richtiger Mann und ich verwechselte da überhaupt nichts. Ich hatte meinen Stimmbruch und eine recht tiefe Stimme, auf die ich stolz war, weil sie männlich war, und das bedeutete für mich: erwachsen klang.
 
Ein älterer Arbeitskollege kümmerte sich immer recht nett um mich. Er stand mir bei, wenn ich vom Chef beschimpft wurde und führte mit mir auch sogenannte Männergespräche. In einem dieser Gespräche muss ich ihm wohl anvertraut haben, dass ich das ganz gerne mal sehen würde, wie Männer und Frauen nackend aussehen und wie sie miteinander Sex machen. Und er fragte mich, ob ich lieber die Männer oder die Frauen sehen würde. Da ich eigentlich Männer sehen wollte, die Sex machten, was ja nur mit einer Frau geht, ich aber noch nie so etwas gesehen hatte, konnte ich ihm gar nicht genau antworten und sagte, mich würden beide interessieren.
 
Dieser verheiratete Kollege war wirklich nett. Er fing mich einmal auf, als ich vom Anhänger fiel, und hielt mich eisern fest an sich gepresst, so dass ich nicht auf den Boden fiel. Dafür war ich ihm dankbar. Er schien mich zu mögen und lud mich auch zu sich nach Hause ein. Dort spielte er mir die Platten vor, die er besaß, und seine Frau schien es nicht zu mögen, dass ich auf Besuch war. Heute weiß ich, dass der einer war, ein Hundertfünfundsiebziger. Was sollte an ihm schlimm sein? Er war doch recht nett.
 
Er hatte nicht am 17.05. Gerburtstag und war verheiratet. Und was er sonst so machte, das hatte nichts mit mir zu tun, so sah ich das. Er war einfach ein netter Kollege. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass ich Sex mit ihnen genießen könnte. Auf eine solche Idee bin ich gar nicht gekommen. Ich wusste doch, dass eine Frau dafür zuständig war, überall las und hörte man das ja. Und ich würde später mal zum Beispiel in der Tanzstunde eine Frau kennen lernen. Hätte jemand die Initiative ergriffen, - ich hätte ihn für krank gehalten und abgelehnt, selbst wenn es mich erregt hätte. Da war nichts zu machen.
 
Als ich mich später im Alter von ungefähr 25 Jahren zu ersten Mal in ein sogenanntes einschlägiges Lokal traute, war ich absolut eingeschüchtert und war froh, dass jemand mit mir dort sprach. Er war absolut kein Traum verschwitzter Nächte, aber er war da und erklärte mit dies und das und ich hatte auch einige Begegnungen mit ihm. Einmal saßen die Gäste in dem plüschigen Lokal etwas feierlicher rum, gratulierten sich gegenseitig zum Geburtstag und schenkten sich gegenseitig langstielige einzelne Tulpen. Nun hatte keiner hier wirklich Geburtstag, aber ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es doch der 17. 5. sei.
 
Das fand ich geschmacklos, denn ich kannte doch die Sprüche über den 175er und so etwas war ich nicht, wollte es zumindest nicht sein. Eigentlich störte mich nicht die Tatsache, dass ich also einer ein sollte, ein Hundertfüfundsiebziger, sondern des negative Image, das damit verknüpft war.
 
Damals habe ich noch nicht verstanden, dass genau dies die “narzistische Kränkung” war, die alle 175er mitmachen, wenn ihnen klar wird, dass sie selbst so einer sind, über den sie bisher mitgelacht haben. Und die “unstillbare Sehnsucht nach Anerkennung” (Martin Dannecker) hat vielleicht darin, in dieser Kränkung also, seine Ursache.
 
Aus heutiger Sicht finde ich diese Geburtstags-Gesten rührend, besonders nachdem ist erfuhr, dass es diese Geburtstagsfeier während der Gültigkeit des § 175 StGB als Tradition existierte. Man akzeptierte, dass man ein 175er war und trug dies mit einem gewissen Trotz zur Schau. Man gratulierte sich gegenseitig, dass man trotz dieses Gesetzes da war, dass man noch lebte, dass man nicht eingesperrt oder umgebracht war, dass man vielleicht sogar ein bisschen Lebensglück ergattert hatte.
 
Den §175 StGB oder genauer RStGB gab es von 1870 bis 1994, also 124 Jahre lang. Vorher gab es andere Gesetze in den unterschiedlichen Kleinstaaten Mitteleuropas. Aber genau seit Einführung des § 175 gab es ihn auch, den Mann, der ein Hundertfünfundsiebziger war.

Dass eine Gruppe von Männern in der Gesellschaft über ein Strafgesetz definiert wurde, das gegen sie gerichtet war, ist schon ein recht problematischer Vorgang. Hier wird nämlich nicht das Gesetz kritisiert, sondern das Opfer des Gesetzes. Die Leute, die über den Hundertfünfundsiebziger lachten, hatten kein Mitgefühl mit den Opfern, sondern fanden es richtig, dass über die 175er gelacht und gespottet wurde. Und miese Witze über den 175er gab es genug. Auch die Gesetze gegen ihn hielt man für normal. Und jugendliche Banden, die Klappenbesucher erst anlockten und dann überfielen, gab es genug und gibt es ja immer noch.
 
Heutzutage gibt es diesen Paragraphen bei uns nicht mehr. Aber ich habe es für mich und meine lesbischen Freundinnen und schwulen Freunde eingeführt, dass wir in jedem Jahr am 17.05. ein bisschen zusammensitzen und an die Männer denken, die für ihre Verliebtheit, für ihre sexuellen Neigungen und sexuellen Versuche oder Handlungen staatlich verfolgt wurden, ihr Ansehen verloren, die bürgerliche Existenz verloren, allzu oft ihre Freiheit und oft auch ihr Leben.

Und damit das ganze Leiden nicht einfach vergessen wird, ist es uns ein Anliegen, auch die christliche sexualfeindliche Moralauffassung, auch die konservativen Christen zu benennen, aus deren hasserfüllten Tiraden das Gift stammt, das in unseren Verfolgern wirksam wurde. Letztlich auch rechte und konservative PolitikerInnen, die unsere Leute weiter peinigten und verfolgten und dafür auch noch Rechtfertigungen erfanden.
 
Die politische Rechte hat sich, von den Liberalen über die Konservativen bis hin zu den Nazis an uns vergangen. Das dürfen wir nie vergessen, das muss Teil des kollektiven Wissens bleiben, gerade weil viele jungen Leute unserer Szene das nicht wissen. Und wir vergessen auch nicht die politisch linken Kräfte, die diesem unmenschlichen Treiben zugesehen haben, die gegen Vieles aber nicht dagegen angekämpft hatten oder sich sogar Mühe gaben, es den Rechten gleichzutun.
 
Heute ist es nicht mehr so. Ein homosexueller Mann wird im wesentlichen nicht anders als ein heterosexueller Mann behandelt. Aber es gibt immer noch Ewiggestrige in Fragen eines selbstbestimmten Lebens, besonders in der Union und in rechtspopulistischen oder religionsfundamentalistischen Kreisen.
 
Bei aller Freude, dass es nun nicht mehr so ist, bei allen Fragestellungen, die sich nun für uns im täglichen Leben ergeben, haben wir doch auch die Verantwortung dafür, dass Erreichtes auch gelebt werden kann, dass dies auch in der Zukunft möglich ist. Deshalb dürfen wir unsere Geschichte nicht vergessen und nicht dem Vergessen eine Spaßgesellschaft überlassen.
 
Wer mitmachen will, wer uns auf unterschiedliche Art unterstützen will, dies alles in unsere Szene hineinzutragen, den und die fordern wir auf, zu uns zu kommen und lustvoll mit uns zusammen diese Arbeit anzugehen. Kommt! Alleine schaffen wir das nicht! (js)
 
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