- 71. Ausgabe, Sommer-LUST, Juni/Juli/August 02
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- Gewalt und Schule?
- Ein rausgeworfener Schüler dringt
bewaffnet in eine Schule ein, schießt auf Lehrerinnen und
Lehrer und ermordet sie, und zum Schluss richtet
er sich auch noch selbst, wie es heißt.
Er hatte das Abitur nicht bestanden und in Vorbereitung auf seinen
2. Versuch geschwänzt, gefälschte Krankschreibungen
vorgelegt, was rauskam, daher war er von der Schule geflogen.
Er hatte den gesellschaftlichen Stärkzeichen angehangen,
die angeblich den Wert eines Menschen ausmachen: liebte Heldentum
und Reichtum, erkannte wahrscheinlich, dass dies für ihn
unerreichbar war. Wer ihn daran hinderte, waren andere, besonders
die Lehrer in einem unerbittlichen Schulsystem, in dem die Trennung
zwischen den 3 Schulzweigen riesige Mauern darstellen.
In den Medien Betroffenheits-Dsarstellungen: Der Bundespräsident,
der Kanzler, der Oppositionsführer, der Außenminister
und der Ministerpräsident, alle lassen sich in den Medien
in der Nähe des Erfurter Gutenberggymnasiums sehen, nehmen
an der Trauerfeier in der Kirche teil. In der ganzen Bundesrepublik
sitzen oder stehen SchülerInnen um 11,05 Uhr bei einer Gedenkminute
und sie gedenken ... wessen denn? Ihrer eigenen Lage? Der Ermordeten,
die sie nicht kannten, nehme ich doch an. Vielleicht sind sie
ja neben ihrer Gefühlskälte und ihrem spaßgesellschaftlichen
Eskapismus, ihrem Selbstmitleid und ihrer Lust, auf anderer Leute
kosten zu lachen, auch noch sentimental. Es ist hier ein hohes
Anspruchsdenken vorhanden, verknüpft mit der Geringschätzung
der Versager oder Looser. Da sie selbst
gnadenlos sind, erwarten sie kein Verständnis in einer brutaler
gewordenen Gesellschaft.
Da Wahlkampf ist, äußern sich alle Politiker irgendwie,
sagen, man solle das nicht in den Parteienstreit ziehen, doch
könne man die Fehler der anderen nicht außer Acht
lassen, und kritisieren die Erwiderungen auf ihre Angriffe, denn
man wolle das ja doch in den Parteienstreit hineinziehen.
Im Fernsehen bis zum Abwinken Gesprächsrunden zum Thema.
Kein Sender, der darauf verzichtet, sich des Themas zu widmen.
Gewaltspielzeug; Erziehung, die auf ewige Werte verzichtet, Gewalt
in den Medien, das alles wird für den Amoklauf eines
Schülers verantwortlich gemacht. Unerträglich
erscheint mir der Lehrer, der erzählt, wie er den Mörder
letztlich in einem Raum einsperrte: Schau mir in die Augen,
Baby! Ein Held also auch, der dem Monster den Schneid abkaufte.
Unerträglicher erscheint mir das ganze Betroffenheitsgesabbere.
Am unerträglichsten scheinen mir die stammtischhaften Parolen
vieler im Wahlkampf stehenden PolitikerInnen, die keine Gelegenheit
auslassen wollen.
Also müssen wir uns nun natürlich auch äußern,
um das Maß voll zu machen.
Zuerst einmal, diese Tat war keine Einzeltat, sondern Teil einer
Serie von sogenannten Amok-Schützen-Taten. Die Nachricht
von der Tat platzte in Erfurt in den Prozess gegen eine Schülerin,
die nach ihrem Versagen beim Abitur ihre Schule anzündete.
Tja, die jungen Leute haben gelernt, sich nichts mehr gefallen
zu lassen. Und kann man es nicht ändern, was einem geschehen
ist, dann kann man sich doch wenigstens rächen. An wem?
Tja, da fehlt das Wissen darüber, wer verantwortlich sein
könnte.
Es ist noch nicht so lange her, da ballerte ein 16jähriger
Schüler in einem bayerischen Dorf umher, mit Waffen, die
sein Vater legal in seinem Sportschützenschrank aufbewahrte.
In der Schweiz drang ein Mann in ein Bezirksparlament und ballerte
auf Stadt- und GemeinderätInnen und richtete dort ein Blutbad
an. Blutbäder in Kindergärten und Schulen, in Unternehmen
wegen eines Rauswurfes.
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- Eine Reihe von Vorfällen dieser Art
aus den USA waren die VorgängerInnen. Aufgrund solcher Vorgänge
werden in den Medien scheinbare Ursachen hin- und herbewegt,
von allen Seiten betrachtet. Schuld seien Videospiele und Horrorfilme,
teilweise auch illegale Waffen und in einzelnen Fällen auch
legale Waffen. Es handelt sich also nicht um ein oft ausgeübtes
Verbrechen aber um keine Einzeltat.
- Irrationale Gewalt zwischen Menschen, auch
von Kindern und Jugendlichen ausgeübt, gibt es schon seit
langem. Neu ist die Form der Gewaltanwendung. Man muss also untersuchen,
warum Gewalt in dieser Form auftaucht.
1. Gewaltvideos und Gewaltspiele scheinen neue Ausdrucksformen
zumeist jugendlicher Gewalt zu sein. Sie sind massenhaft gefragt,
also gibt es ein Bedürfnis nach ihnen. Das Gewaltbedürfnis
scheint also schon vorhanden zu sein und wird nicht durch diese
Medien erzeugt, wohl aber in den Ausdrucksformen beeinflusst.
Woher stammt das Gewaltbedürfnis? Nun, die Welt zeigt sich
ihnen gegenüber einfach gewaltvoll und da kann man nicht
mit Plüschtieren spielen.
2. Die Schule bzw. die Lehrer können da kaum gegensteuern.
Sie sollen wohl eine vorgeschaltete Polizeimacht darstellen und
auch in ethischen Fragen und bei der Eingliederung in die gesellschaftlichen
Realitäten hilfreich sein. Doch ist die Schule selbst Spielball
gesellschaftlicher Prozesse.
Solche Diskussionen wurden schon im Zusammenhang der antiautoritären
Jugendrevolte geführt. Zwischen Lehrern gab es in den 70er
Jahren Streit, dort nannte man das, eine pädagogische Diskussion
über die Frage, welche Lehrinhalte in Hinblick auf das Menschenbild
besonders in Sozialkunde richtig seien. Der Streit zwischen den
Reformern, die auch Konfliktdidaktiker genannt wurden
(lernen, wie man in der Gesellschaft exiastierende Konflikte
austragen kann), und den Konservativen, die man Rechtsgläubige
nannte (Lernziel: Schüler müssen lernen, die Ordnung
zu akzeptieren und keine Konflikte herbeireden), mündeten
im Beutelsbacher Konsens. Der baute auf 3 Prinzipien:
1. Überwältigungsverbot. (Auch Indoktrinationsverbot
genannt) Der Lehrer kann sein eigenes Urteil einbringen, soll
aber die Urteilsfähigkeit fördern und darf die Schüler
nicht im Sinne (s)einer Meinung überrumpeln.
2. Konversitätsgebot. Was in Wissenschaft oder Politik kontrovers
ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Wenn in Gruppenprozessen
nichtfachgerechte Meinungen überwiegen, soll der Lehrer
die Gegenposition einbringen.
3. Analysefähigkeit: Schüler müssen ihre eigenen
Interessen erkennen können und in politischen Situationen
und der vorgefundenen Lage untersuchen, mit welchen Mitteln und
Wegen sie die Lage im Sinne ihrer Interessen beeinflussen können.
Mit diesem Konsens sollten also als Lehrziel die mündigen
jungen Menschen entstehen, die in der Lage sind, ihre Interessen
auf demokratische Weise zu vertreten. Unterdessen und vielleicht
auch aufgrund der Praxis gemäß Beutelsbach sahen sich
die Lehrkräfte mit neuen Problemen konfrontiert, die ab
ca. 1994 zu neuen Diskussionen führten: Die Schüler
hatten keinen Nachholbedarf mehr, ihre Interessen zu vertreten,
eher musste man nun Angst haben, dass egoistische Verhaltensweisen
auch gegeneinander so etwas wie Teamfähigkeit (von der Industrie
gefordert) unmöglich machte. Was kann man von der Schule
nun anderes erwarten, als den Versuch, die Schüler mehr
an demokratische Verhaltensweisen anzupassen? In diesem Zusammenhang
bekam die political Correktness, also die nichtdiskriminierende
Sprachverwendung, Bedeutung.
Oft ist aber die Lage der Jugendlichen untereinander und in der
Gesellschaft völlig anders als z.B. die Lage der gutsituierten
Lehrer. Es existieren auch gerade wegen der Perspektivlosigkeit
der Jugendlichen zwei Welten mit zwei Sprachverwendungen. Und
auf die eher im Leben ausgetragenen Umgangsformen haben gerade
deshalb die Lehrer kaum Einfluss.
3. Gegen wen richtet sich die Gewalt? Es trifft vermeintlich
Schuldige oder Mitschuldige an der eigenen Lage oder zufällig
anwesende Menschen. Ein Lehrer, der eine schlechte Note gibt
und damit den Berufsweg verbaut, wird als ein Schuldiger angesehen.
Bei der ersten Gruppen kann davon ausgegangen werden, dass es
sich um Racheakte oder absurde Problemlösungsversuche handelt.
Die andere Gruppe hat einfach Pech gehabt. Man sieht in Mitmenschen
nichts Wertvolles. Solidarität, Zwischenmenschlichkeit und
Mitmenschlichkeit haben keinen Platz mehr in der neoliberalen
Welt.
4. Die Leitbilder der Gesellschaft entsprechen den Helden der
Videofilme und Videospiele: Helden, die sich genauso skrupellos
verhalten, wie die zu bekämpfenden Verbrecher, nur tun sie
es eben für die gute Seite. Außerdem zählt letztlich
nur der wirtschaftliche Erfolg, andere Werte sind unwichtig geworden.
5. Der Druck auf Menschen in unserer Gesellschaft ist ungeheuer
hoch. Einerseits werden Konsum und Karriere als höchste
Werte propagiert, andererseits sind die Menschen nur selten in
der Lage, diesen Konsum- und Karrierebedürfnissen nachzukommen:
Fehlende Arbeitsplätze, zunehmend ungesicherte Arbeitsverhältnisse,
wenig Karriereaussichten, wenig oder keine Zukunftsperspektiven.
Im Grunde müsste nahezu jeder Mensch, um in der Werteskala
als etwas zu gelten, über das Gegenteil seiner realen wirtschaftlichen
Situation verfügen. Und der Mensch an sich zählt ja
real nichts. Er kostet nur oder leistet was, wie uns die Medien
erklären.
6. Die Menschen verfügen auch immer seltener über die
Möglichkeit, sich dem Druck der imagefördernden Werte
der Gesellschaft zu entziehen. Sie können sich kaum, wie
es uns früher möglich war, von ihnen distanzieren und
sie ablehnen. Sie verfügen auch immer weniger über
die Fähigkeit, auf andere Probleme angemessen zu reagieren.
In ihren Vorbildern in den Medien gelingt es den Helden immer
doch noch, mittels Schusswaffen oder ähnlichem die eigenen
Ziele durchzusetzen. Ein Lehrer, der eine unzureichende Leistung
schlecht zensiert, tritt als Obrigkeit auf, die als Feind den
Weg in die Zukunft verbaut. Ein Mensch, der einen Arbeitsplatz
hat und deshalb z. B. ein teures Auto fährt, ist ein Rivale,
der deshalb zum persönlichen Feind wird.
7. Die Irrationalität der verbrecherischen Handlungsmotive
entspricht der Hoffnungslosigkeit, der Perspektivlosigkeit der
eigenen Lage und der vermeintlichen Ausweglosigkeit der TäterInnen.
Der Unmensch ist vorprogrammiert, das Produkt der geistig-moralischen
Wende von 16 Jahren konservativliberaler Politik.
Die 3 ½ Jahre rotgrüner Politik hatten nicht die
Kraft und Möglichkeit, hatten wahrscheinlich auch nicht
das Ziel, der neoliberalen Globalisierung entgegenzutreten. Wie
es Aussieht, stehen wir wohl vor neuen 16 Jahren geistig-moralischer
Wende bis hin zum Unmenschen. Na denn prost. Es zeichnet sich
ab, wohin das führt. (js)
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