- 71. Ausgabe, Sommer-LUST, Juni/Juli/August 02
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- 61 Prozent der deutschen Jugendlichen
lehnen Homosexuelle ab.
- Die Lebenssituation von Schwulen und Lesben
in Deutschland scheint sich seit einigen Jahren weitgehend normalisiert
zu haben. Ihre rechtliche Diskriminierung wurde mit der Abschaffung
des § 175 beseitigt, dessen Unrechtscharakter zumindest
für die Nazizeit kürzlich anerkannt wurde und ein bisschen
heiraten dürfen wir auch.
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- Homosexuelle sind in allen gesellschaftlichen
Bereichen sichtbar geworden, in Politik, Wirtschaft, Kultur,
Fernsehen, Kirche und im Alltags- und Berufleben, ohne deshalb
automatisch benachteiligt zu werden - mache Leute behaupten sogar,
dass gerade Homosexuelle in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen
einen Bonus hätten und Trendsetter wären. In vielen
Filmen und Sendungen werden Schwule und Lesben als sympathisch
dargestellt und für sie geworben. Ihre jährlichen CSD-Feste
und Umzüge sind Massenereignisse geworden, zu denen es auch
viele Heterosexuelle hinzieht. Homosexuelle haben ihre eigenen
Orte, sind aber auch woanders gern gesehen.
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- Sicherlich gibt es zum Teil bezüglich
der Emanzipationsbedingungen noch Gefälle zwischen Stadt
und Land, ziwschen ausländischen und deutschen Homosexuellen,
zwischen benachteiligten unteren und Mittelschichten. Auch das
Coming-out in der Schule, im Elternhaus, im Freundeskreis, bei
der Arbeit usw. erfordert häufig die Überwindung von
Angst und wird nicht immer positiv aufgenommen, und homophobe
Gewalt oder Äußerungen sind keineswegs verschwunden.
Vieles ist noch umkämpft, insgesamt aber scheinen sich die
Lebensbdingungen von Schwulen und Lesben zu normalisieren, so
dass sie anerkannte Plätze in der Gesellschaft haben.
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- Zum Teil werden homosexuelle Freiheiten sogar
als Bestandteil der westlichen Zivilisation im Kampf gegen den
Islam verteidigt oder zumindest als Argument im Kampf gegen den
Terror benützt. So verteidigte der rechtspopulistische,
vor kurzem ermordete und sich offen schwul bekennende niederländische
Politiker Pim Fortuyn seine Ablehnung der Einwanderung von Flüchtlingen
und Migranten aus muslimischen Ländern mit diesem Argument.
Es scheint hier ein Bündnis von Rassismus und gesundem Volksempfinden
mit liberalen Werten möglich zu sein.
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- Einen anderen Trend stellt jedoch in einer
neuen Studie das iconkids&youth international research Institut
aus München fest. 12- bis 17jährige Jugendliche wurden
anhand einer fünfstufigen Skala danach befragt, wie gut
sie verschiedene Szenen und gesellschaftliche Gruppierungen finden.
Demnach haben 61 % der deutschen Jugendlichen eine negative Einstellung
gegenüber Schwulen und Lesben, finden sie nicht
oder überhaupt nicht gut.
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- Unabhängig von ihrer Herkunft aus den
alten oder neuen Bundesländern lehnen die Befragen Schwule
und Lesben ab. Auch der bessere Zugang zu Bildung bewirkt nicht
unbedingt eine tolerantere Einstellung: 64 % der Hauptschüler,
63 % der Realschüler und 55 % der Gymnasiumsbesucher lehnen
Schwule und Lesben ab. Differenzierter betrachtet ist sogar die
totale Ablehnung finde ich überhaupt nicht gut
mit 40 % bei den Gymnasiasten höher als bei Haupt- bzw.
Realschülern mit 32 bzw. 33 %, gleichzeitig aber auch die
Sympathie Finde ich gut2 und total gut: 14
% der Gymnasiasten, 11 % der Realschüler, lediglich 3 %
der Hauptschüler.
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- Die Befragung zeigte auch: Mädchen sind
toleranter als Jungen. Während 71 % der Jungen offen ihre
negative Einstellung zu Schwulen und Lesben bekannten, äußerten
lediglich 51 Prozent der Mädchen Vorbehalte.
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- Geradezu dramatisch erscheint, wie sich die
Vorbehalte im Trendvergleich verstärkt haben: Bei einer
gleichen Studie, die 1998 von iconkids & youth durchgeführt
wurde, fanden nur 34 % der 12- bis 17jährigen Schwule und
Lesben nicht oder überhaupt nicht gut.
Diese Verschiebung wiest darauf hin, dass der Platz von Schwulen
und Lesben in der Gesellschaft noch lange nicht gesichert sein
muss, dass homophobe Einstellungen weiterhin wirkungsmächtig
sein werden und wieder zunehmen werden können - trotz des
Sichtbarwerdens von Schwulen und Lesben in der Öffentlichkeit,
trotz des langen Ringens um Emanzipation und trotz aller werbenden
und sympathisierenden Darstellung in den Medien.
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- Zusammenhängen dürfte dies damit,
dass patriarchale Männlichkeitsbilder in der Gesellschaft
keinesfalls verschwunden sind, auch wenn viele gesellschaftliche
Positionen sich von sexistischen Zuordnungen gelöst haben
und viel Bereiche für beide Geschlechter geöffnet wurden
Jedoch muss die Änderung sexistischer Strukturen nicht zwangsläufig
das Verschwinden patriarchaler oder sexistischer Einstellungen
zur Folge haben.
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- Der Leiter der Studie Ingo Barlovic meint
dazu: Dieses Ergebnis spiegelt wider, dass nach wie vor
tradierte Wertvorstellungen darüber herrsche, wie man sich
als Mann oder Frau zu verhalten hat Die Jugendlichen übernehmen
diese Vorstellungen bei ihrer Suche nach Vorbildern, an denen
sie ihre eigene Geschlechterrolle lernen können. Abweichungen
vom aus ihrer Sicht Normalen stehen die Jugendlichen fast verängstigt
gegenüber (...) Dies zeigt auch dass in den Medien Homosexuelle
immer noch zu einseitig dargestellt werden: Es gibt kaum homosexuelle
Helden. Vielmehr werden sie eher als Kuriosität gehandelt.
Des weitern werden sich outende Politiker oder Talkmaster von
den Jugendlichen, die eher Jackie Chan oder Dragon Ball Z-Helden
verehren, nicht als coole Leitbilder empfunden.
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- Dem entspricht auch die negative Einstellung
Jugendlicher zu den Ökos, die als uncoole, softe
Körnerfresser. Aber auch Punks werden von 82 % abgelehnt
- aufgrund ihres Äußeren und ihrer Verweigerungshaltung
- und Skinheads von 92 %, weil reale Gewalt von fast jedem
Jugendlichen massiv abgelehnt wird.
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- Diese Einstellungen der Jugendlichen, ihre
Idole, ihr Konsumverhalten und -erwartungen (Markenklamotten
und -artikel, Kommunikations- und andere Techniken) deuten auf
patriarchale Leitbilder hin, die für Jungen mit Adjektiven
wie cool, sauber, normal,
konform (in Bezug auf Konsum, Technik, Verhalten
in der Gesellschaft und in ihrer Ablehnung von Abweichendem,
von verweigernder Kritik und Emanzipation), stark
(?, aber nicht gewalttätig) und deutsch (?)
beschrieben werden könnten.
Diese veränderten Einstellungen und ihre möglichen
Auswirkungen gilt es zuerst einmal genauer zu anlysieren, zu
diskutieren und ihnen entgegenzutreten. So könnte das selbstbewusste
Coming-out homosexueller Jugendlicher erheblich erschwert werden
angesichts eines homophoben Umfelds und ihrer Ablehnung in der
Klasse oder unter Freunden. Weiterhin sind bei Auseinandersetzungen
oder Raufereien unter Jungen homophobe Beschimpfungen wie schwule
Sau beliebte Mittel, um Angreifende abzuwehren und ähnliches.
Vielleicht muss die Aufklärungsarbeit von Schulprojekten,
bei denen Schwule und Lesben in Schulklassen gehen, ausgeweitet
werden. Doch diese dürften nicht ausreichen, setzen sie
doch bei der Symptombekämpfung an.
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- Mittel und langfristig könnte sich diese
Entwicklung auch gesellschaftspolitisch niederschlagen; in vielen
Europäischen Staaten sind konservative, reaktionäre
und faschistoide Strömungen und Partien au dem Vormarsch
oder gar bereits in Regierungsverantwortung. Auch in Deutschland
droht ein CSU-Kanzler. Wohin dies führen wird, ist zwar
noch offen.
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- Falls sich aber keine relevanten sozialen
Bewegungen mit Verankerung im Alltag und in der Lebenskultur
der Menschen herausbilden, und falls keine relevante emanzipatorische
Kritik an kapitalistischer Globalisierung, Entsolidarisierung
und der Degradierung und Entfremdung der Menschen zu Arbeitskraftverkäufern,
Konsumenten und gegenseitigen Konkurrenten, an Militarismus und
Staat, an Eugenik, Normalität, Gesundheitswahn, an patriarchalem
und technischem Machbarkeitswahn und der Mediengesellschaft gelingt,
könnte auch die Akzeptierung von Lesben und Schwulen insgesamt
erheblich zurückgehen.
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- Dass in den Medien Homosexuelle immer
noch zu einseitig dargestellt werden, es kaum homosexuelle Helden
gibt etc. wie Ingo Barlovic meint, ist weniger das Problem,
sondern eher, welche männlich-patriarchalen Leitbilder vorhanden
sind. Wir brauchen keine dumpfbackigen oder harte, starke homosexuelle
Helden. Nicht Homosexuelle, Ökos, Softies und andere sind
das Problem; das Problem sind Homophobie, sexistische Leitbilder,
patriarchaler Machbarkeitswahn, eugenische Bilder vom normalen,
sauberen, gesunden, leistungsfähigen Mann bzw. Menschen
usw.
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- Mit meinen etwas eilig formulierten Gedanken
zur iconkids&youth Studie möchte ich zur Diskussion,
zur aufmerksamen Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen
und Intervention anregen. Dabei denke ich, dass sexuelle Emanzipation
nicht zu trennen ist von anderen gesellschaftlichen Entwicklungen
und eine umfassende Befreiung der Gesellschaft von Kapital, Staat
und Militär, Volk und Patriarchat in allen ihren Ausformungen
zur Voraussetzung hat. (Arno Huth)
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