71. Ausgabe, Sommer-LUST, Juni/Juli/August 02
Realer Antisemitismus
Kollegen, mit denen ich gut zusammenarbeiten kann, die kollegial und offen mit mir umgehen und die wissen, dass ich schwul bin, ändern ihr Verhalten und sondern Sprüche ab, die mir den Atem verschlagen. Da kommt die Bild-Meldung durch die Medien, dass Anschläge auf Frankfurt von El Kaida-Schläfern drohen.

„Die sollte man alle rausschmeißen und den Friedmann gerade mit.” Moment mal. Was hat denn der Friedman mit El Kaida-Schläfern zu tun? „Mit dem gibt’s auch viel Ärger. Der macht immer nur Ärger. Der lässt die Leute nie ausreden.” Seltsam, früher hat er doch das bohrende Hinterfragen gelobt und mich auf diese Sendung hingewiesen, auf die er hier anspielt. „Moment mal,“ sage ich, „der Friedman hat doch die deutsche Staatsbürgerschaft und ist in der CDU.
 
Man kann doch nicht alle Deutschen ausweisen, die andere nicht ausreden lassen. Ich verstehe dich nicht.“ „Der ist doch ein Judd.” Aha, da ist es raus, was hier los ist. „Na und? Muss man denn katholisch sein, um niemanden aussprechen zu lassen? Die Religion ist doch dafür egal. Oder nicht?” „Ich weiß das ja nicht, ich bin dazu zu jung. Aber die Alten, die damals dabei waren, erzählen das. In unserem Dorf waren alle Geschäfte in der Hand von Judde, die haben eine andere Wesensart.” „Also meinst du, dass du reiche Leute nicht magst? Oder dürfen nur die reich sein, die zum Beispiel katholisch sind? Ich verstehe dich nicht.
 
Wieso ist denn für dich wichtig, welche Religion jemand hat, den du leiden kannst oder nicht leiden kannst? Und außerdem, meinst Du dass Menschen jüdischer Religion immer reich sind?” „Denen geht es doch nur darum, dass Deutschland dauernd zahlt. Die andern haben auch viel gemacht. Aber da kümmert sich keiner drum.”
 
Ein andere Kollege mischt sich ein, der eher links ist, der aber nicht genau differenziert, wie ich weiß: „Wenn man nicht mal die UNO untersuchen lässt, was da los ist, dann muss da was faul sein.” Hilflos ist jetzt mein Versuch, gegen 2 Personen zu argumentieren. Und ich schlage mich rhetorisch auch nicht gut. „Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?” versuche ich es. „Was eine rechtsgerichtete Regierung in einem Staat macht, hat doch nichts damit zu tun, dass du einen deutschen Moderator nicht leiden kannst. Oder? Hätte der die Möglichkeit, in Israel eine andere Regierung zu bilden, weil er Jude und kein Katholik ist?”

Ich breche das Gespräch ab, denn wenn ich nachhake, bekomme ich nur noch schrecklichere Antworten. Er ist da, der Antisemitismus. Vielleicht war er immer da, man hat nur nie so geredet, dass er derart krass zum Vorschein kommen konnte, vor Möllemanns öffentlichen Attacken.

Da sagte doch jemand bei Biolek, ich weiß nicht mehr in welcher Sendung, dass man bei einem Alkoholiker mit einer einzigen alkoholhaltigen Praline den Rückfall in den Alkoholismus auslösen kann. Und so sei das mit den Deutschen und den antisemitischen Äußerungen. Obwohl ich tatsächlich gerade Zeuge eines solchen Vorganges geworden bin, der dieser Aussage recht geben kann, muss ich diese Aussage als falsch ablehnen, weil sie von „den Deutschen” handelt.
 
Ein Kollektiv mit gemeinsamen Auffassungen und Eigenschaften, also einer typischen Wesensart, das gibt es nicht. Gleichsetzungen sind immer falsch, ob man „die Deutschen”, „die Schwulen” oder „die Juden” sagt. In allen diesen Gruppen gibt es gute anständige Leute und Verbrecher oder Arschlöcher. Man darf nicht alle einer Gruppe für die Taten von Einzelnen verantwortlich machen. Und wenn man zum Beispiel mich auf angeblich deutsche Eigenschaften und Standards untersuchen will, wird man wohl wenig finden. Ich empfinde es als Zumutung, wenn man mir meine Individualität absprechen möchte. Andererseits ist wahr, dass systematische Verhetzungen ganze Gruppen von Menschen erfassen können. Aber das ist ja nicht unser Ziel, damit zu spielen. Oder? Wir sind doch selbst Opfer solcher Verhetzungen geworden, als Lesben, oder noch deutlicher, als Schwule.

Eine andere Szene. Ich stehe an unserem Infostand beim Open-Ohr-Festival in Mainz und ein Freund von einem Infostand der Kriegsdienstgegner und Kriegsdienstverweigerer kommt zu mir und erzählt, sie seien eben gerade als Antisemiten beschimpft worden, weil sie über Kriegsdienstverweigerer in Israel berichten, die sie unterstützen. Etwas irritiert versuche ich meine Gedanken zu ordnen und wir sprechen auch untereinander an unserem Stand darüber und ein anderer Besucher unseres Standes bekommt das mit und mischt sich ein. „Aber Israel kämpft ja um sein Überleben”, behauptet er und sagt, man dürfe ja auch nicht die terroristischen Selbstmordanschläge vergessen.
 
„Richtig,” stimme ich zu, „diese Anschläge sind krasser Terrorismus und zeugen davon, dass es den Hintermännern nicht um einen friedlichen und demokratischen Aufbau für Palästinenser geht, sondern wahrscheinlich um ein religionsfundamentalistisches Terrorregime.” Und dann sage ich: „Diese Selbstmordanschläge, ausgeübt von religiös verhetzten Leuten, zeugen davon, dass man keinen Respekt vor den Menschen selbst hat, das ist krassester Terror, der im übrigen auch gar keinen irgendwie gearteten Sinn macht. Da müsse man doch Verständnis haben, meint der Gesprächspartner; dass Israel diese militärische Intervention zu seinem Schutz unternehmen müsse.
 
„Ich sehe ja selbst mit Sorge, dass die religiösen Fundamentalisten immer mehr Oberwasser unter den Palästinensern zu bekommen scheinen. Das ist schlimm und lässt kaum mehr eine Lösung zu. Aber diese gegenwärtigen israelischen Angriffe vernichten ja auch gerade die bis dato legale Zivilverwaltung und treffen die illegalen Kommandos gar nicht,” halte ich ihm mein Nachrichtenwissen entgegen. „Und dann die Ankündigung, eine neue israelische Siedlung im palästinensischen Gebiet zu bauen sowie der Beschluss des Likud-Blockes, keinen Palästinenserstaat zulassen zu wollen. Das sind doch Signale, die den anderen Palästinensern überhaupt in gar keine Richtung mehr eine Hoffnung lassen”.
 
„Als Deutscher müsstest Du aber mehr Verständnis für Israel haben, denn wir haben da was gutzumachen,” sagt mein Gesprächspartner. „Gut”, antworte ich, „aber warum sollen denn die Palästinenser darunter leiden, die haben doch den Holocaust nicht verursacht. Präsident Begin hatte mit Arafat einen Friedensvertrag ausgehandelt und er wurde von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet, der den Palästinenserstaat nicht wollte, zugunsten israelischer Siedlungen.
 
Und nach dem Mord kam es zu Neuwahlen und da wurde dann der Likud gewählt. Und die Siedlungspolitik von Sharon hat auch ihre Geschichte, in seiner Zeit als Wohnungsbauminister. Diese jüdischen Siedlungen überall in den palästinensischen Gebieten werden als israelisches Staatsgebiet angesehen und die Straßen dorthin auch. Der Schlüssel für das Zusammenleben von zwei Bevölkerungsgruppen scheinen mir diese Siedlungen zu sein.”

Aus eigenem Interesse müssen wir vor Antisemitismus auf der Hut sein, denn er ist ein Teil der rechten Gesinnung überall auf der Welt, besonders aber bei uns. Und rechte Politik bedeutet, die Menschen nach rassistischen oder religiösen Gesichtpunkten in gute und böse Menschengruppen zu sortieren. Das ist dann immer für die Menschengruppe verhängnisvoll, die als böse Gruppe definiert wird.
 
Es führt auch dazu, dass man sich kaum mehr den Gruppen entziehen kann, dass man gar nicht mehr als individueller Mensch erkannt wird. Das ist dann für alle Menschen verhängnisvoll. Wenn Menschen sich nicht mehr gegenseitig als Individuen erkennen können, sind sie zu vielem fähig. Antisemitismus ist ein Bestandteil der rechtsradikalen Volksverblödung. Und das schlimme daran ist, diese Verblödung ist ansteckend. (js)
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