69. LUST, Winter 01/02
 
Das Altern
In der 64. LUST habe ich über das Älterwerden und den Jugendkult geschrieben. Es ging um unerfüllte sexuelle Sehnsüchte älterer Menschen und Ausgrenzungen wie Diskriminierungen.

Natürlich empfindet jeder Mensch seine gegenwärtige Situation als unbefriedigend. Und besonders viele Jugendliche und JugendliebhaberInnen sowie JugendbeschützerInnen beklagen die Lage lesbischer und schwuler Jugendlicher und nehmen sich besonders dieses Themas an. Aber ist es nicht so, dass Alte und Älterwerdende ungleich brutaler abgeschoben und ausgeschlossen werden? Und sie können auch nicht hoffen, dass sich dies mit zunehmendem Alter bessert, wie das Jugendliche können. Doch auch das ist wenig tragisch gegenüber der Situation, wenn man als Alte/r ein Pflegefall wird.

Ein alleine lebender Mensch, sei es eine Lesbe oder ein Schwuler, hat vielleicht einige Sozialkontakte, wenn er Glück hat auch mit Menschen der Szene. Es sind wohl nicht mehr so viele Kontakte, denn man will auch mit so manchen Leuten keine Kontakte mehr, die man satt hat. Am liebsten sucht man sich die Kontakte aus, die man will, es ist also nicht nur das Abgeschobensein. Und natürlich, aus vielen Lebensbereichen wird man einfach gedrängt und abgeschoben. Erst wenn man RentnerIn ist, bemerkt man, auf wie viel soziale Zusammenhänge mit den Mitmenschen am Arbeitsplatz wir uns eingestellt haben.
 
Es sind nicht nur die Lohnzahlungen weshalb der Arbeitsplatz für uns wichtig ist. Wir wurden ja in unserer Jugend auf das Leben an Arbeitsplätzen vorbereitet und die gesellschaftliche Infrastruktur mit ihrem Anhängsel, der Vergnügungsindustrie gruppieren sich um das Arbeitsleben herum. Es sind auch sinngebende Lebensmomente, die am Arbeitsplatz befriedigt werden, dem Platz, an dem man die meiste der wachen Lebenszeit verbringt. Und diese Strukturen sind nun plötzlich nicht mehr da. Erst freut man sich ja auf die Situation, in der man keine Vorgesetzte mehr hat. Dann sucht man Ersatz für die verlorenen Sozialkontakte und will seinem Leben einen neuen Sinn geben.
 
Für Lesben und Schwule ist die Möglichkeit, nun endlich in der Szene all das zu machen, was man vorher aus beruflichen Gründen nicht konnte, im großen und ganzen eingeschränkt, denn die Vergnügungsindustrie kümmert sich im wesentlichen gewinnbringend um Jugendliche und Spätjugendliche sowie ältere Geradenochjugendliche. Und unsere Szene ist ja eine Freizeitszene, ein Teil der Vergnügungsindustrie.
 
Das Generationentrennen findet hier besonders stark, auch in unseren und den öffentlichen Medien statt. Meines Wissens hat RTL vor Jahren eine vielgesehene Sendung mit volkstümlicher Musik gekippt, weil die werbetreibenden Unternehmen die Gruppe der älteren ZuschauerInnen solcher Sendungen nicht für wert genug hielt, sie ausreichend zu bewerben. Die Werbung richtet sich sehr stark an jüngere Erwachsene und an Jugendliche, die man noch leicht dazu bringen kann, über ihre finanzielle Verhältnisse zu leben. Und die Vergnügungsindustrie sowie die sich dort Vergnügenden richten sich eben nicht an Ältere.

Was bleibt älteren Lesben und Schwulen in solch einer Situation? Sie ziehen sich zurück und vereinsamen frustriert oder sie bilden vielleicht Selbsthilfegruppen. Aber Selbsthilfegruppen von Älteren haben einen Makel, es fehlen in ihnen die Jugendlichen. Vieles macht man lieber mit Älteren. Vieles der Lebensart heutiger Jugendlicher möchte man nicht (mehr) teilen. Aber alles kann man nicht in altersgleichen Bezugsgruppen teilen. Man benötigt die Anregungen aus den anderen Generationen auch, und auch die tiefen intellektuell anregenden Gespräche mit ihnen, auch freundschaftliche Verbindungen.
 
Was im Hetenbereich über Familienbande geschieht, ersetzen wir in unserer Szene, wo wir ”wir selbst” sein dürfen, durch die Szene selbst. Aber wie ist es hier mit den generationsübergreifenden Bezügen? Viele Jüngere halten sich durchaus mit älteren auf, viele Ältere dort, wo Jüngere sind. Oft aber kann man einzelne Ältere beobachten, die dort den ganzen Abend alleine sitzen und mit niemanden ins Gespräch kommen können.
 
Es muss aber zu generationsübergreifender Kommunikation kommen, gerade deshalb, dass sich die Gespräche nicht immer nur in engen bereichen im Kreise drehen. Nehmen wir an, die ältere Lesbe, der ältere Schwule nimmt an einer Themengruppe teil, wo es also um eine Sachfrage geht, z.B. eine Lesben- und Schwulengruppe gegen rechts. Oder vielleicht eine Theatergruppe, eine Gesangsgruppe usw. Dort also können sie sich über Generationsgrenzen einbringen und sind ein selbstverständlicher Teil der Gruppe, zu der möglichst auch Jüngere bis sehr Junge gehören.

Und dann bemerken die anderen Gruppenteil-nehmerInnen, dass der oder die TeilnehmerIn, auf deren/dessen Anregungen man doch gerne zurückgreift, nun schon zum 3. Mal nicht gekommen ist, man müsste doch mal bei ihm/ihr zu Hause vorbeischauen. Doch in diesem Haus wohnt er/sie gar nicht mehr und wenn man Glück hat, erfährt man von Nachbarn, dass er/sie in der Wohnung liegend nach einem Schlaganfall gefunden wurde und in dieses Heim dort gebracht worden sei.
 
Wenn man Glück hat, erfährt man das Heim. Die Wohnung sei von den entsprechenden Stellen durch eine Wohnungsauflösungsfirma aufgelöst worden. Denn in solchen Fällen laufen die entsprechenden Programme ab, die unsere Gesellschaft dafür hat, und nur die engsten familiären Angehörigen können sich dort einbringen, sofern sie einen bürgerlichen Verwandtschaftsgrad vorzuweisen hat. Und wir in unserer Gruppe haben gar keine Möglichkeit, etwas zu verhindern oder zu beeinflussen, denn wir sind Fremde, bestenfalls irgendwelche Freunde, und was maßen wir uns denn an, uns dort einzumischen? (”Sind Sie der Sohn / die Tochter?”)
 
Und nun findet sich die arme alte Frau oder der alte Mann in einem Heim wieder, in einem Raum mit anderen alten Frauen/Männern. Die Rente und die Sparbücher sind in der Hand der Heimleitung, und weil die Rente und die Pflegeversicherung so wie die Sparbücher nicht für den Pflegeplatz ausreichen, erhält der dort eingesperrte Mensch noch 196 DM Taschengeld, um sich im Heim Seife zu kaufen, Zahnpasta, Mineralwasser und vielleicht manchmal eine Tafel Schokolade. Zum Telefonanschluss reicht es schon nicht mehr. Das ist es. Isolation, vielleicht noch mit einem Fernseher auf dem Zimmer.
 
Die Sendungen aber im WDR, die man immer so gerne nachts sah, kann man jetzt nicht mehr empfangen, und die anderen Zimmerbewohner wollen sie auch nicht sehen. Und wenn wir von der Gruppe nach Feierabend ihn/sie besuchen wollen, die/der früher oft nachts bis 3 Uhr mitdiskutiert hat, weil er/sie ohnehin nicht mehr so viel Schlaf brauche, dann finden wir ihn/sie schon um 20 Uhr im Bett schlafend, und das Licht ist aus. Er/Sie freut sich, wenn wir kommen, steht wieder auf, aber die Unterhaltung klappt nicht so sehr gut, man weiß gar nicht, worüber man mit ihr/ihm sprechen soll. Und man ist ja auch nicht alleine im Zimmer. Und ist man es, dann stört man die anderen in den Nachbarzimmern.
 
Und irgendwie entdeckt man, dass man ihn/sie eigentlich gar nicht mehr besuchen möchte, vielleicht weil man Angst vor seinem eigenen Alter hat, auch weil es blöd ist, als der einzigen Kontakt zur früheren Welt in Verantwortung genommen zu werden. Natürlich geht man im Heim davon aus, dass er/sie ”ganz normal” ist. Was würde ihr/ihm hier auch das Bekennen zur lesbischen/schwulen Identität bringen, wo es um Elementareres geht. Das will er/sie auch nicht, denn er/sie ist unsicher, wie sich die asiatischen Pflegekräfte ihm/ihr gegenüber verhalten würden, wenn sie es wüssten, und er/sie hat keine andere Rückzugsmöglichkeit mehr. Also ist der Besuch bei ihm/ihr immer mehr eine unangenehme Pflichtübung, auch wenn man sich ihm/ihr verbunden fühlt und vielleicht gerade deshalb.
 
In diesem Heim bekommt man dann geballt alte Menschen zu sehen, zu denen man nun keinen persönlichen Bezug hat, die aus gutem Grund hier sind: Menschen, die nicht mehr sprechen oder denken können, die nicht mehr laufen können, die auch in anderen Fragen Schwierigkeiten haben. Hier möchte man nicht hin, und man hat doch Schuldgefühle deshalb.
 
Wenn man dies alles miterlebt, dann kommt einem die Angst relativ kleinlich vor, selbst ein wenig ausgegrenzt zu sein, weil man älter wird, denn das Elementare kommt später noch auf uns zu, wahrscheinlich. Es ist eben sehr wahrscheinlich, dass wir im Alter zunehmend behindert und Pflegebedürftig werden, es ist menschlich.
 
Also ist es wohl angebracht, dass wir, und dass unsere Szene, Community genannt, sich dieses Themas annehmen muss. Und wir müssen uns mehrspurig dieses Themas annehmen: wir haben uns des Age-ismus (Ätatismus) zu erwehren, in dem das Trennen und Isolieren der Menschen in Altersgruppen ideologisch gerechtfertigt wird, denn das ist ein völlig unnatürlicher gesellschaftlicher Zustand.
 
Wir benötigen generationsübergreifende Bezugsstrukturen, die die Jungen befähigen, auch mit Älteren zu kommunizieren und sich selbst sinnvoll und ohne Angst auf das Erwachsen- und das Älterwerden vorbereiten. Solche Strukturen, die den Älteren die Wahlfamilie unsere Szene spüren lassen, im Kontakt mit älteren und jüngeren FerundInnen aus unserer Gemeinschaft, sind einfach nötig. Und schließlich, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass wir nicht mehr alleine leben können, sondern Hilfe brauchen, gibt es vielleicht auch für Lesben und Schwule menschenwürdige Lösungen.
 
Natürlich ist die Versorgung älterer MitbürgerInnen ohnehin nicht so gut geregelt, in unserer leistungsorientierten Gesellschaft, in der Sozialabbau als Heilmittel gepriesen wird, die Wirtschaft ”wieder flott zu machen”, wie man sagt. Dennoch hilft Resignation nicht. Und deshalb ist es von überregionaler Bedeutung für unsere Szene, wenn man sich regional um dieses Thema kümmert.
 
Auch unsere ausländischen LeserInnen werden sich um dieses Thema zu kümmern haben, da ja jeder älter wird. Und deshalb haben wir von der LUST die Fachtagung im hessischen Sozialministerium aufgesucht, wo es genau um dieses Thema ging. (js)
 
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