- 69. LUST, Winter 01/02
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- Humanismus und Ethik
- Um die Weihnachtszeit besinnen sich die
Leute auf den Glauben ihrer Kinderzeit, zumindest sollen sie
es, so ist es angelegt. Es ist dies eine Zeit, die man als religiös
beeinflusste Zeit ansehen kann, auch wenn dies bei uns eher weltliche
Züge hat, mit Baum, Braten und Geschenken, süßlichem
Gebäck und süßlicher Musik. Große Spendensammlungen
geschehen unter dem Eindruck großer Kinderaugen, die aus
notgezeichneten Gesichtern schauen. Wir kümmern uns mittels
unserer Spenden um die Not in aller Welt, unabhängig vom
jeweiligen Glauben der betroffenen Menschen.
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- Bei den Diskussionen über den Islam,
die im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September
01 aufgeflammt sind, haben viele DiskussionspartnerInnen sinngemäß
etwa das gesagt: Es ist nicht der Islam, sondern es ist der Terrorismus,
der sich des Islams bedient. Gräueltaten werden in der Weltgeschichte
mittels so ziemlich aller Religionen gerechtfertigt. Da hat jede
Religion, da haben auch oberste ReligionsverkünderInnen
große Schuld auf sich geladen. Mit Religionen sind eben
Volksverhetzungen besonders leicht durchzuführen und Verbrechen
an Menschen und der Menschlichkeit zu rechtfertigen.
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- Andere wieder sagen, dass es Religionen geben
müsse, damit Menschen Ehrfurcht voreinander haben. Irgendwie
müsse ein Mensch zum Beispiel lernen, dass man einen anderen
Menschen nicht einfach totschlagen dürfe, wenn man sich
durch ihn gestört fühle. Die Angst beziehungsweise
der Respekt vor einer über den Menschen stehenden Macht
bringe Menschen eben dazu, die in diesem Zusammenhang verkündeten
Regeln einzuhalten.
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- Ohne die zivilisatorische Kraft der Religionen
und ihren weltlichen Organisationsformen, der Kirchen usw. wäre
ein humanes Zusammenleben der Menschen einfach nicht denkbar.
Und der Philosoph Jürgen Habermas meint, dass gerade das
Säkularisieren des Staates (das Verweltlichen des Staates)
in der Lage ist, den Humanismus der Religionsfreiheit zu garantieren,
weil sich die Anhänger aller Religionen den weltliche Gesetzen
unterwerfen müssten, und diese Gesetze müssten auch
von ihnen anerkannt werden, weil diese Gesetze auch ihnen die
Religionsfreiheit garantieren würde.
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- Ich möchte hinzufügen, dass eine
Religionsgemeinschaft, die sich in die Politik einmischt, den
Respekt des Über-anderen-Stehens verliert, in dem sie dadurch
ganz weltlich zur politischen Partei wird. Und politische Parteinahme
führt auch zur Opposition und natürlich zum Recht des
Opponierens. Die politischen Fehler werden dann dieser Religion
angelastet und die gegensätzlichen politischen Interessen
führen zur Distanz gegenüber dieser Religion.
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- Die Frage bleibt, ob Religiosität ein
Garant für eine mitmenschliche Ethik ist, oder ob weltliche
Ethik besser als Religionen eine humanistische Mitmenschlichkeit
erzeugen kann. Macht der Glaube an einen Gott Menschen besser?
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- In Brechts Theaterstück Der gute
Mensch von Sezuan gehen die Götter von der Annahme
aus, dass ihr Wirken die Menschen besser macht, und dass sie
deshalb einen Sinn erfüllen. Und nun kommen sie auf die
Erde, um den guten Menschen zu suchen, der durch den göttlichen
Einfluss gut wurde. Das gelingt ihnen lange nicht. Sie werden
beraubt, gepeinigt und betrogen. Nur die Prostituierte Shen Te
hilft ihnen, aber kann eine Prostituierte ein guter Mensch sein?
Shen Te versucht, mit einem kleinen Tabakladen gut zu sein, den
sie sich vom Geld eingerichtet hat, das sie von den dankbaren
Göttern erhalten hatte.
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- Die Götter wollten ihr damit eine Chance
geben, mit der Prostitution aufzuhören und gut zu sein.
Tagsüber tut sie Gutes und viele Menschen kommen in ihrer
Not zu ihr, um Hilfe zu erhalten. Schon am Abend des ersten Tages
ist sie pleite. Nachts verkleidet sie sich in ihren unerbittlichen
und skrupellosen Vetter, der aufs brutalste und ruinöseste
Geld heranschafft, das Shen Te dann am Tag über wieder mit
vollen Händen ausgeben kann. Dass sie ein guter Mensch
geworden ist, dass sie auch reinen Herzens liebt (tagsüber),
führt dazu, dass sie schwanger wird. Und der brutale Vetter,
den alle hassen, wird auch immer dicker.
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- Die AnhängerInnen des guten Menschen
beschuldigen den Vetter, Shen Te ermordet zu haben. Die Lage
wird für den guten Menschen aussichtslos und hier endet
das Stück mit der klassischen philosophischen Frage an das
Publikum: Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre
Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? Und
nebenbei ist hier auch der oft zitierte Satz zu finden: Wir
stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang
zu und alle Fragen offen. Brecht als Marxist geht in seinen
Stücken erkennbar davon aus, dass der Mensch an sich gut
ist, aber durch die Lebensumstände anders, also nicht gut,
wird, um überleben zu können.
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- Ach ja, in der Reihe der möglichen Denkansätze
zur Frage des Sinns der Religionen kommen natürlich noch
die Biologisten, die dann sagen, dass der Mensch eben ein Raubtier
sei, ihm seien solche negativen Eigenschaften wie Ausbeutung,
Vernichtung von Schwachen usw. eben angeboren, da könne
man nichts machen. Aber dann ergreifen sie viele Maßnahmen,
um darauf hinzuarbeiten, dass der Mensch auch so wird, wie er
angeblich angeboren ist. Und alle, die so nicht sind, müssen
vernichtet werden, damit das Krankhafte nicht überwiege.
Schließlich sagen die Religiösen vieler Religionen
noch, dass ein Mensch ohne Religion nicht sein könne und
Religion brauche.
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- Ja und da stehen wir Lesben und Schwulen
nun da, mit unseren Interessen. Wir wollen natürlich großmögliche
individuelle Freiheit haben, um unser Leben nach unseren Bedürfnissen
gestalten zu können und zu dürfen. Und wir wollen nicht,
dass irgendeine Ideologie oder Weltanschauung derart überwiegt,
dass durch sie unser Spielraum beschnitten wird, wenn es nicht
sogar dazu kommt, dass man unsere Menschen vernichten will.
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- Wir benötigen also eine menschliche
Ethik, die darauf hinausläuft, dass man den Menschen in
seiner individuellen Besonderheit achtet. Und uns kann es relativ
egal sein, aus welchen gedanklichen Quellen eine solche humanistische
Ethik sich ursprünglich speiste, ob aus ursprünglich
religiösen oder weltlich-humanistischen Quellen heraus.
Wir benötigen eine solche Ethik für unser Leben, wobei
wir selbst allerdings auch nicht immer derart ethisch handeln
und überhaupt für eine solche Ethik nicht immer eintreten.
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- Spricht man mit religiösen Menschen
einer beliebigen Religion, und gibt man sich als Mensch zu erkennen,
der nicht an ein Überwesen glauben kann, also nicht religiös
ist, dann erhält man zur Antwort, dass der Humanismus, der
es mir erlaubt, als schwuler Mann zu überleben, aus dieser
Religion stamme, und dass ich ihn nicht missbrauchen solle. Das
passiert mir mit Christen, Muslimen, Juden, Buddhisten oder Hindus.
Wenn es mir gefällt, halte ich ihnen entgegen, wie viel
Leid gerade auch durch Anhänger dieser Religion über
die Menschen gebracht wurde und immer noch gebracht wird, seien
es Hindus, Buddhisten, Juden, Muslime oder Christen.
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- Ich meine nämlich, dass es einen weltlichen
Humanismus gibt, der seine Kraft daraus bezieht, dass er sich
aus dem gehorsam gegenüber einer Religion befreit hat, meist
als bewusste Handlung gegenüber den inhumanen Anteilen dieser
Religion. Richtig ist natürlich, dass auch der Unmensch
sich oftmals aus den Fesseln religiöser humanistischer Bindungen
befreit hat, damit er unbehinderter Unmensch sein konnte.
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- Dennoch bin ich Anhänger einer weltlichen
Ethik, denn in ihr ist auch noch der Widerstand gegenüber
dem hierarchischen Prinzip intendiert und nicht, wie in der religiösen
Ethik, bei der immer das Unterwerfen unter das hierarchische
Prinzip intendiert ist. Gerade der weltliche Humanismus mit seiner
individuellen Emanzipation ermöglicht es dem religiösen
Individuum, sich seiner Religion zuzuwenden und auch, sich abzuwenden,
während der religiöse Humanismus gerade dort seine
Grenze findet, wo er auf andere Religionen oder Menschen trifft,
die der Religion nicht bedürfen.
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- Humanismus heißt wörtlich übersetzt:
Menschlichkeit. Der Begriff Menschlichkeit geht davon
aus, dass es als positiv angesehene Eigenschaften gibt, die der
Gattung Mensch zuzurechnen sind. Dahinter drückt sich natürlich
auch eine gewisse Arroganz aus. Also doch etwas den Menschen
Angeborenes? Nein, behaupte ich, es ist etwas Erworbenes, etwas
in menschlicher Gesellschaft Erarbeitetes, bisweilen Erlebtes
und Erfahrenes.
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- Wer sich anders verhält, der ist ein
Nichtmensch? Ich benutze hier lieber das Wort Unmensch. Klar
ist, dass ich mich damit rhetorisch in der Nähe von den
Demagogen aufhalte, die ihre gedankliche und gesellschaftliche
Ordnung als eigentliche Zivilisation definieren, Abweichungen
dagegen als krankhaft. Aber das ist inhaltlich nicht gleichzusetzen
und klingt nur rhetorisch ähnlich, will aber genau Gegensätzliches.
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- Ja die Worte. Begriffe dienen auch dem Greifen.
Wenn ich eine Sache greifen will, zum Beispiel ums sie zu bergreifen,
benötige ich die Begriffe. Aber Begriffe sind nicht neutral.
Der Begriff Gutmenschen stammt meines Wissen von
Martin Walser. Es ist dies sein Wort für Menschen, die ihm
wohl auf die Nerven gehen. Mit diesem Begriff ist es möglich,
einen Menschen, der im Sinne des Unmenschen denkt und handelt,
vor einer ihn eigentlich verurteilenden Öffentlichkeit dennoch
bestehen zu lassen.
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- Die Kritiker des Unmenschen werden als solche
Menschen begriffen, die alles irgendwie seicht und gut haben
wollen, eben als Gutmenschen. Und Gutmenschen nehmen einem schlicht
den Spaß, wenn man mal wieder so richtig vom Leder ziehen
will, aber nicht als Unmensch diskriminiert werden will. Man
will Unmenschliches tun aber dafür gut angesehen werden.
Das steht meiner Meinung nach hinter den verächtlichmachenden
Begriff der Gutmenschen.
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- Wer also Gutes tun will im Sinne von Toleranz
usw., na ja, das ist eben so ein Gutmensch. Dieser Begriff richtet
sich also gegen eine menschliche, humanistische Ethik, empfinde
ich, und erlaubt, sich von einer solchen Ethik zu distanzieren.
Ähnliche Wirkungen kann man mit den Begriffen Helfersyndrom
oder Sozialromantiker erzielen. Man rechtfertigt
Grausamkeiten. Es ist egal, ob man die Rechtfertigung für
unmenschliches Handeln aus dem Biologismus ableitet oder der
Verächtlichmachung der Menschlichkeit, es dient dem ideologischen
Freischwimmen des Unmenschen.
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- Meiner Meinung nach macht es keinen wesentlichen
Unterschied für das Existieren oder Nichtexistieren von
Humanismus, menschlicher Güte, Reflektionsrecht, individuelle
Entscheidungsfreiheit usw., ob es eine praktizierte Religion
gibt oder nicht. Religiöse Menschen sind oft genau solche
Schweine und Unmenschen wie nichtreligiöse, wollen oft genauso
unterdrücken und bevormunden wie andere auch.
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- Und dass gerade das Christentum mit seiner
Nächstenliebe besondere menschliche Qualitäten hervorgebracht
haben soll, kann ich nach nahezu 60 Jahren Leben in einer christlich
beeinflussten Gesellschaft, wie man sagt, nicht empfinden. Ich
bekam mitmenschliche Zuwendungen ohne schlechten Nachgeschmack
eigentlich im wesentlichen von Menschen, die sich außerhalb
der Kirche, der Religion usw. aufhielten. (js)
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