- 69. LUST, Winter 01/02
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- Das Gewissen der deutschen Abgeordneten
- Krieg ist das Unmenschliche und
Furchtbarste, was es geben kann, hörten wir schon
in der Schule in Sozialkunde. Wir lasen Texte von
Wolfgang Borchert und waren beeindruckt von seinem Sag
nein! Muss an meinem Alter liegen, dass ich es noch immer
bin. Alle waren wir damals gegen Krieg. Und dass es bei Kriegen
um Geld geht und jeder Krieg gegenüber der Bevölkerung
mit etwas anderem begründet würde, war uns einleuchtend.
Wir schauten in die Geschichte und entdeckten, dass nahezu alle
Truppen Friedenstruppen waren, und dass es eigentlich
darauf ankommt, wessen Frieden militärisch durchgesetzt
wird. Nun gut.
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- Bei uns ist ja Demokratie, da kann so etwas
gar nicht mehr vorkommen, und auch dass die Macht von unten,
vom Volk komme, erzählte man uns. Die gewählten Abgeordneten
seien nur ihrem Gewissen verpflichtet, lernten wir. Das Gewissen
ist des wichtigste, und manche von uns witzelten, dass das Gewissen
der Abgeordneten irgendwo dort sitzen würde, wo auch die
Brieftasche steckt.
Man erklärte uns in der Schule (besonders in der Zeit der
68er Revolte), dass wir linken außerparlamentarischen Revoluzzer
uns irren, dass alles mit rechten Dingen zuginge, dass man für
linke also soziale und demokratische politische Ziele durchaus
legal arbeiten könne, zum Beispiel in eine Partei eintreten.
Und als Abgeordneter könne man ja dann dem Gewissen verpflichtet
sein. Und wir witzelten: Ja, mit rechten Dingen geht
es wohl zu, in diesem Lande.
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- Die Jusos propagierten den langen Marsch
durch die Institutionen, in dem man die Gesellschaft demokratisieren
wolle und sozialer sowie auch ziviler, friedlicher und menschlicher
gestalten, und zwar durch Reformen Schritt für Schritt.
Na ja, aus Mangel an Alternativen wurde man so etwas wie ein
Verfassungspatriot, und es wurde schon der Witz erzählt,
den Franz-Josef Degenhard sang. Nämlich dass der Ausschussvorsitzende
der Gewissensprüfung den Wehrpflichtigen, der aus Gewissensnot
nicht zum Militär wollte, fragte: Grundgesetz ja Grundgesetz,
Sie berufen sich hier dauernd auf das Grundgesetz, sagen Sie
mal sind Sie Kommunist?
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- Man durfte nicht aus politischen Gründen
verweigern, sondern nur aus Gewissensgründen. Das Gewissen
ist also ein hohes Gut in unserer Gesellschaft, lernten wir,
eigentlich schon das höchste, denn Gewissensgründe
rangieren über den politischen Gründen.
- Als ich zur Bundswehr kam, ich gehörte
damals zu denen, die nicht verweigerten, erfuhren wir dort, dass
es sich hier um eine reine Verteidigungsarmee handele. Man erzählte
damals zum Beispiel von einem Bundeswehrsoldaten, der von einem
älteren Offizier angeschnauzt wurde, mit dieser Wehleidigkeit
und Undiszipliniertheit könne er nicht in Russland bestehen.
Der Bundeswehrsoldat jedoch erklärte, dass es auch gar nicht
sein Aufgabe sei, in Russland zu bestehen, sondern dass er nur
hier der Abschreckung dienen solle. Denn die Tatsache seiner
Existenz bedeute, dass es nicht zum Krieg kommen werde. Das jedenfalls
sei seine Aufgabe, so sei ihm das erklärt worden. Also auch
ein Friedensheer?
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- Aus der Union waren zwar immer mal ganz andere
Töne zu hören, aber das spielte ja keine Rolle. Wir
hatten ja den Friedenskanzler Brand. Man machte Witze darüber,
dass ausgerechnet die christlichen Parteien sich so weit von
der Bergpredigt entfernt hatten, dass man ihnen ihr Christentum
kaum glauben konnte: Wenn man Dir auf die eine Wange schlägt,
dann halte auch noch die andere hin.
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- Die Bundeswehr, die nur in den Verfügungsräumen
im Inland Position bezieht, wenn ein Angriff erfolgen sollte,
aus dem heraus dann die Verteidigung erfolgen sollte, war ganz
anders als die NVA z.B. drüben, die mit in die CSSR einmarschiert
war, um den Prager Frühling zu beenden. Aber die Amerikaner
stellten hier ihre Raketen auf, als Schmidt Kanzler war, wogegen
sich eine gewaltige Friedensbewegung bildete. Darauf konnten
wir alle Stolz sein.
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- Na ja, dann kam Kohl. Und es kam seine geistig-moralische
Wende. Und wir erlebten, dass Schritt für Schritt
die Bundeswehr von einer reinen Verteidigungsarmee zu etwas anderem
wurde. Einsätze zu zivilen und humanen Zwecken an verschiedenen
Stellen der Welt gab es, und manche hatten Angst vor der Salamitaktik,
nämlich dass man sich daran gewöhnt, dass auch deutsche
Soldaten irgendwo in der Welt wieder mit ihren Waffen rumfuchteln.
Gegen den Slogan der Friedensbewegung: Frieden schaffen
ohne Waffen, setzte Kohl Frieden schaffen mit immer
weniger Waffen und man fand unter Planen versteckt als
Landmaschinen getarnte Panzer auf dem Weg nach Israel. Überhaupt
meinten wir, es wird Zeit für den Wechsel, weil auch der
Sozialabbau zunahm und CDU/CSU/FDP sogar das Sozialversicherungssystem
privatisieren wollten, was ja genau genommen einer
Enteignung gleichkommt.
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- Man wunderte sich über das Gewissen
der Abgeordneten, die dort zustimmten und einige Leute sagten,
die Koalition handele gewissenlos. Wir amüsierten uns mit
den Medien, als Rühe in Somalia stolperte, und wir sagten
uns, es wird Zeit, dass diese Regierung abgelöst wird, sonst
kann es noch passieren, dass Deutschland auch wieder Soldaten
überall in der Welt einsetzt, um die Kapitalakkumulation
deutscher Konzerne dort zu sichern.
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- Die neue soziale, linke Regierung kam, der
ehemalig Juso-Boss Schröder wurde Kanzler, ehemalige 68er
Revoluzzer wurden Minister und, kaum im Amt, stoppte die neue
Regierung die Renten-Abbau-Pläne der alten, setzte die 100-prozentige
Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle wieder in Kraft, stoppten
das Atom-Programm (allerdings mit einer Rest-Laufzeit,
die der Industrie passt), verbesserte das Mietrecht und stellte
eine positive Änderung der Betriebsverfassungsgesetz in
Aussicht. Das Kindergeld wurde erhöht, die Homo-Ehe eingeführt,
Prostitution legalisiert.
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- Und von der alten Regierung kam raus, dass
es schwarze Parteispenden, verschwundene Akten im Kanzleramt
und andere seltsame Umstände gab. Da waren wir aber alle
froh, dass es so gekommen war und dass wir nach 16 Jahren Kohlsuppe
eine neue Regierung hatten. Und nun nahmen wir an, dass auch
die schleichende Militarisierung der Außenpolitik endlich
beendet würde, weil das ja eine Militarisierung auch im
Inneren nach sich ziehen müsste. Und wir nahmen an, dass
im Inland endlich auch das schleichende Dulden der Neo-Nazis
beendet würde (bis hin zum Schulterschluss mit ihnen in
einer Reihe von Fällen), die schon so viele Menschen in
Deutschland ermordet haben. Einige sagten aber immer noch, das
sei eigentlich nur eine andere sattsam bekannte Suppe, diesmal
mit Rotkohl Schröder und Grünkohl Fischer, ach ja,
und Volkerchen Beckchen als Rosaverkohlerchen, aber das ist eine
andere Geschichte.
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- Und dann ging es um die Renten-Reform und
hier zeigte sich, dass der Weg in private Versicherungen eingeschlagen
wurde, wie es vor ihrer Abwahl schon von CDU/CSDU/FDP drohte.
Dann ergab es sich aber, dass ausgerechnet diese neue Regierung
aus Jusos und Pazifisten Deutschland an einen Angriffskrieg teilnehmen
ließ, nämlich gegen Serbien.
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- Und mit dem Gewissen dieser Abgeordneten
war das wohl in Übereinstimmung zu bringen, schließlich
ging es ja darum, etwas Schlimmeres zu verhindern und die Bomben
waren Friedensbomben. Und deutsche Soldaten sichern in Mazedonien
und im Kosovo den Frieden. Und dann kam es am 11. September 01
zu den Anschlägen in New York und Washington, zu einer Anfrage
des Kanzlers nach nahezu 4.000 deutschen Soldaten, die zum Frieden-Schaffen
nach Afghanistan abkommandiert werden sollten. Und in Zukunft
soll so etwas die Regierung ohne Parlament entscheiden dürfen.
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- Eine Reihe von Abgeordneten aus den Regierungsparteien
konnten nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass deutsche Soldaten
nach Afghanistan geschickt werden sollen. Es waren für sie
nämlich nun alle Scheibchen der Salami abgeschnitten. Da
wurden sie aber, wie auch der Kanzler und seine Regierung, von
den Christen und Liberalen ausgelacht, die früher die Regierung
gestellt hatten und deren Gewissen es schon damals und auch heute
überhaupt nicht verbot, deutsche Soldaten in der Welt umherzuschicken.
Und schnell beeilte sich der Kanzler, darauf hinzuarbeiten, dass
seine beiden Regierungsparteien mehr an die Politik als an ihr
Gewissen denken. Denn das Ansehen des Kanzlers und die Koalitionsregierung
sind eben wohl doch wichtiger als das Gewissen einzelner Abgeordneter.
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- Und die Parteien der früheren Regierung,
die in dieser Frage keine Gewissensprobleme haben, schimpften
nun auf den Kanzler, dass er die Gewissensnot der wenigen Abgeordneten
nicht achte, die gegen den Krieg sind.
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- Also ist es in Wirklichkeit unsinnig, dass
man in die Parlamente geht, um verhängnisvolle Kreisläufe
zu durchbrechen? Politiker ist einfach ein gut bezahlter Job,
wo man die Hand zu heben hat, wenn man soll? Nutzt es gar nichts,
wenn man andere Abgeordnete in die Parlamente wählt, um
andere Politik zu erreichen?
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- Da wurde uns aber allen eine Lehre darüber
erteilt, dass es in der Demokratie gar nicht so sehr demokratisch
funktioniert. Man kann also doch nur von außerhalb der
Parlamente Druck machen, weil es innerhalb sinnlos ist?
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- Und bei den Kriegsdienstverweigerer-Beratungsstellen
sammeln sich immer mehr Menschen, die vielleicht mit immer weniger
Waffen zur Abschreckung in der Heimat bereit gewesen wären,
aber nicht dazu, in der Welt mit Waffen rumzulaufen. Und nun
ist ihnen wahrscheinlich auch noch unklar, ob sie mit Gewissen
oder mit Politik argumentieren sollen, falls sie wieder gefragt
werden, weil es so viele sind. (js)
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