67. LUST, August/September 01
 
Tourismus und sexuelle Abenteuerlust
Es soll in diesem Referat um Fernweh gehen, um projizierte Sehnsüchte, Freiheitssuche und auch um Ausbeutung. Die ,,schönsten Wochen des Jahres“ sind etwas, auf das sich der/die Berufstätige freut. Hier hofft man, das zu erleben, was man in den Zwängen des Arbeitsalltags schmerzlich vermisst. Der Urlaub ist mit vielen Gefühlen besetzt. Und immer dann, wenn viele Gefühle im Spiel sind, wird die nüchterne Analyse als störend empfunden. Das Traum-Wunschbild hat schließlich über viele alltägliche Widerwärtigkeiten hinweggetröstet.

In diesem Referat beschreibe ich zuerst die Sehnsüchte, dann dazu Beispiele aus der Literatur und schließlich auch die Gegenseite, die Seite der „schönen jungen Menschen mit dem natürlichen Charme und der unbekümmerten Lust an der Sexualität, den glutbraunen Augen unter rauschenden Palmen und der Romantik der untergehenden Sonne über dem Meer“.
 
1. Fernweh
In unserer Arbeitswelt ist, wie aus den Medien erkannt werden kann, die Sehnsucht nach dem Ausbruch schon formuliert und definiert. Der Ausbruch wird zur Urlaubsreise definiert. Sie hilft, die Widerwärtigkeiten des Alltags zu ertragen, denn der Urlaub ist die Belohnung für die erlittenen Entsagungen. Die Urlaubsreise hat für den Zufriedenheitsstatus des Menschen, der sich festen Regeln unterwerfen muss, eine feste Funktion.

Ein ,,normaler Mensch“ würde zum Beispiel dann ins Bett gehen, wenn er dazu Lust verspürt, und dann aufstehen, wenn er nicht mehr müde ist. Im Urlaub, so hofft der Arbeitnehmer (die Arbeitnehmerin), steht er wirklich dann auf, wenn er will. Leider wird er dann aber ständig zu der Zeit wach, zu der er das Aufstehen gewöhnt ist. Er will essen, was er in der Kantine immer vermisst hat. Nach dem ersten Durchfall bleibt er dann doch bei Schnitzel mit Pommes. Und natürlich will er dort Menschen treffen, nach denen er sich hier immer gesehnt hat. Und diese Menschen werden ihm genau die Träume erfüllen, die seine Einsamkeit (auch in Beziehungen) immer begleiten.
 
Denn diese Leute da, das hofft der Arbeitnehmer (die Arbeitnehmerin), diese sind anders, ursprünglicher, natürlicher, spontaner. Und genau deshalb wollen sie uns das geben, was wir entbehren, hoffen die UrlauberInnen.

Ein Mann rennt durch die Wüste und begegnet dort einem anderen Mann, der ihm entgegenkommt. ,,Ich hau’ ab,“ ruft der eine, ,,ich auch“, ruft der andere und beide bleiben irritiert stehen. Kann man seine Sehnsucht dort erfüllt bekommen, wo andere aus dem gleichen Grund oder anderen noch schlimmeren Gründen das Land verlassen? ,
 
,Warum reisen wir?“ fragt Max Frisch in ,,Du sollst Dir kein Bildnis machen“ aus seinem Roman ,,Andorra“ und antwortet: ,,Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen, ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei - Es ist ohnehin schon wenig genug.“ Frisch geht so weit, dass er meint, nicht nur die Arbeitswelt mit ihren Zwängen fesselt uns, sondern auch die Auffassung eines Freundes, einer Freundin, der/die meint, dass er/sie uns kenne und somit in Verhaltensrollen binden.
 
Das Lieblose ist für ihn, wenn unser Bild von dem/der anderen fertig ist. Dann sei man fertig mit ihm/ihr und beklage, dass der/die andere nicht so sei, wofür man ihn/sie gehalten habe. Jemanden kennen und erkennen zu wollen, sei das Lieblose, was den anderen fesselt, weil man ihm die Kraft des Lebendigen entziehe, weil man ihrer müde geworden sei, weil man den/die andere(n) nicht (mehr) liebe.

Wie dem auch sei, Reisen ist Flucht vor den alltäglichen Zwängen in der Arbeitswelt und in auch in der Szene, deren Möglichkeitsgrenzen wir auch schon längst erreicht haben. Eine Reise ist also der Versuch, vorübergehend aus dem ,,Bildnis“ befreit zu sein. Ohne die Vertröstung auf den Urlaub wäre die Trostlosigkeit der Lebensrealität kaum zu ertragen.
 
2. Sehnsuchts-Literatur
Die Formulierung der Sehnsucht nach den ursprünglichen, glücklichen und glücklich machenden Menschen ist ja auch in der entsprechenden Literatur wiederzufinden.

Sehr oft sind die Autoren der Männer-Sehnsüchte von der politischen Einstellung her utopische Sozialisten oder Anarchisten und von der sexuellen Identität her doch recht oft schwul. Sie schreiben die romantischsten (heterosexuellen) Liebesgeschichten, bisweilen auch aus weiblicher Sicht.

Während in der für Frauen (zumeist von Frauen) geschriebenen Literatur sich die Sehnsucht nach anderen Menschen und Verhältnissen durch den blonden Chefarzt, den Graf von Schloss Adelstein oder den jungen Oberförster erfüllen, verlagern Männer die Befriedigung ihrer Sehnsüchte lieber ins Ausland.
 
Frauen suchen irgendwo in der Stadt oder in den Verhaltensweisen den jungen aber vom Leben weise gewordenen, wohlhabenden aber doch freigiebigen, von allen Frauen umschwärmten aber doch treuen Mann, das, was sich in ihrem täglichen Leben nicht erfüllt. Aber für Frauen gibt auch im Urlaub genau solche Bekanntschaften, glaubt man der Literatur, und neuerdings sucht die erfolgreiche Unabhängige auch den „ursprünglichen“ Mann, den edlen Wilden, männlich imponierend aber jung und anpassungsfähig, der sich liebevoll aufopfert und sich nur um sie kümmert.

Aus der zeitgenössischen lesbischen Literatur ist mir die Formulierung solcher Sehnsüchte und sind mir solchen Erfüllungsversprechungen nicht bekannt, wohl aber gibt es Ähnliches in der lesbischen Literatur der Weimarer Republik.
Und in der Literatur für Schwule?
 
Der junge ursprüngliche Hirte in Arkadien taucht in der Literatur der Gründerjahre auf, während im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik die geilen edlen Wilden eher auf den Trobiander-lnseln, also in der Südsee, vermutet werden. Dass gerade die Indianer (ohne genauere Angabe, bei welcher Indianernation es so sein soll oder so war) solche Wünsche erfüllen könnten, wird heutzutage vermutet.
 
Die Reisen gehen indes nach Thailand, auch wenn es anrüchig wurde, darüber zu berichten. Die utopischen Völker mit ihren ,,natürlichen“ Verhaltensweisen sind immer sehr weit entfernt angesiedelt. So verlegen englische Schriftsteller, die die Realität in den Kolonien besser kennen, den ,,natürlichen ursprünglichen Menschen“ in noch weitere Ferne, in die Arbeiterklasse, wo sie solche ,,ursprünglichen“ Tugenden erhoffen, die der Aristokrat entbehrt. Viele kennen z.B. den Roman „Maurice“ von Forster, er ist ein Beispiel aus einer ganzen Reihe solcher literarischer Erzeugnisse.
 
3. Realitäten
Ein spanischer Freund, kennen gelernt in dem Touristen-Silo Playa del Ingles, beschrieb mir seine Lage so, dass er Angst habe, sich in einen der deutschen Touristen zu verlieben Nach 14 Tagen sei der wieder weg. Es blieben vielleicht Briefe, deren Inhalt man schlecht verstehen könne, oder Anrufe: „Hola Joacimo!“ und dann ,,Hallo, Nico!“ Vielleicht käme es auch einmal zu einem Besuch in Deutschland. Dann sei der Freund aber ganz anders.
 
Er habe keine Zeit, müsse ständig zur Arbeit und sei überhaupt nicht mehr so freigiebig. Und falls sich die beiden im nächsten Jahr tatsächlich wieder begegnen sollten, dann habe sich in dem Jahr so viel verändert, dass man sich gegenseitig als fremd empfinde. Der Freund hatte ja in der Erinnerung weitergelebt, hatte in den Gedanken ein Eigenleben geführt. Und nun sitzt mir dieser Mensch gegenüber, der so ähnlich aussieht, wie der Partner von früher und der Träume, der aber doch ein ganz anderer Mensch ist als der meiner Träume und der, den ich erwartet habe.

Vielleicht sucht der Besucher gar nicht die Wahrheit im Reiseland, sondern die Bestätigung seiner Illusion? Klar, die jungen Männer in den Tourismus-Hochburgen sehen zum Teil so aus, wie die Traumprinzen der einsamen Nächte. Es gibt hier auch Palmen, eine Sonne, die nie aufhört, zu lächeln oder zu lachen. Die hellen schwulen Lokale, die Promenaden, die schönen gebräunten Körper, die Offenheit uns gegenüber. Und die jungen Leute geben und nehmen die Sexualität sichtlich gerne.
 
Sie wissen genau, wovon ihre Kunden träumen: dass sie nicht so deutlich spüren, Kunden zu sein, sondern dass sie glauben, sie, die Touristen, seien großzügige Freunde aus dem wohlhabenden Ausland. Und diese jungen Leute haben es ja auch wirklich in ihrer Heimat gar nicht so gut. Und da sie so nett sind, hilft man schon gerne, besonders im Urlaub, auf den man sich das ganze Jahr gefreut hat und wo man nicht knauserig sein will.

In den Urlaubs-Hochburgen der schwulen Touristen beschenken die Armut des Landes, die Sozialstruktur und/oder der Umgang mit den einheimischen Schwulen dort die Touristen mit einer größeren Menge schwuler Menschen. In den Ländern mit schwulenfeindlichen Strukturen stellen die Touristen oft die einzige Möglichkeit dar, dass Homosexualität, leider dort nur für die jüngeren einheimischen Schwulen, ohne größere Risiken ausgelebt werden kann.
 
Je weniger die Schwulen dort im Lande verfolgt werden, um so häufiger stehen den Schwulen lediglich Sexkontakte aus wirtschaftlichen Erwägungen zur Verfügung, denn den Menschen der Länder mit den Tourismus-Hochburgen geht es meistens wirtschaftlich nicht besonders gut. Das ist ja der Grund, warum die Touristen dort so gerne hinfahren: alles ist so preiswert, mit der DM kann man dort König, also auch Profitierender an der Not sein.
 
4. Prostitution
Ersparen möchte ich mir hier eine moralische Diskussion über Prostitution. Für Menschen, die so konditioniert sind,
-dass Sexualität etwas mit Nachwuchs zu tun hat und deshalb in eine geschützte Dauerbeziehung gehört,
-dass Sexualität in eine gewisse Sentimentalität, Verliebtheit genannt, eingebunden gehört,
-dass um Sexualität die Aura einer besonderen Erfüllung in einer exklusiven Situation geflochten werden muss, damit die Partnerin geneigt dazu ist,
-dass eine Beziehung einen Anspruch auf ausschließlichen sexuellen Besitz über den Körper des Partners, der Partnerin begründet,
-dass spontane sexuelle Lustbefriedigung mit dem Ziel, einfach miteinander mehr oder weniger Spaß zu haben, wie es eben klappt, abzulehnen sei, da dies unmoralisch, triebhaft, tierisch sei und/oder andere Sehnsüchte nach Bindung nicht mitliefere und deshalb zu wenig sei,
für solche Menschen eben ist Prostitution aus den oben genannten Gründen logischerweise unmoralisch, was sie nicht an der Nutzung der Einrichtungen der Prostitution hindert.

MoralistInnen finden nämlich für ihr eigenes Verhalten immer entschuldigende Gründe. Doch es bleibt ihnen ein schales Gefühl dabei, vielleicht. Sie finden bei spontaner Lust eben nicht das Umfeld, was sie als notwendig für ihre Sexualität erachten, bei der sie ein gutes Gewissen haben können.

Für mich ist Prostitution in einem anderen Zusammenhang problematisch. Zum Beispiel macht mir große sexuelle Lust, wenn der andere an und mit mir sexuelle Lust verspürt. Es ist für mich schon weniger schön, wenn der andere es nur aus einer gewissen Verlegenheit heraus tut, also ihm nichts oder niemand anderes dazu eingefallen ist. Aber das hat er mit sich selbst auszumachen. Wenn ich aber vermuten kann, dass ihn wirtschaftliche Not zwingt, sich auf mich einzulassen, hat sich meine Möglichkeit, Lust zu empfinden, gegen Null bewegt. Dann komme ich mir im Gegenteil schuldhaft vor wie ein Ausbeuter einer Notlage, was für mich äußerst unerotisch ist. Vielleicht könnte ich zu meinen Gunsten annehmen, dass Sex für ihn ohnehin eine relativ unbedeutende oberflächliche und kurzfristige Sache ist, damit ich nicht annehmen muss, er leide auch noch darunter.

Aber ich hatte auch schon unangenehme Gefühle bei der Sexualität mit Partnern aus den mir üblichen Zusammenhängen, und ich habe auch schon Rückmeldungen (meist über Dritte) von ehemaligen Sexpartnern gehört, die das Vorgefallene nachträglich eher negativ einstufen, was mich dann irritierte und beschämte. Missverständnisse und Widersprüche kann es immer geben, auch ohne Existenz der Prostitution.
 
Aber ich kann für meinen Teil ganz gut damit leben, dass z.B. manche sexuellen Begegnungen von mir aus eigentlich nicht so direkt angestrebt waren und ich sozusagen rumgekriegt wurde, oder dass eine sexuelle Begegnung für mich unter dem Strich weniger befriedigend verlief, denn meine Wertung des Vorgefallenen hat eben im wesentlichen etwas mit meinen Vorurteilen zu tun, für die meine Partner nichts können, und so meine ich, ihre Wertungen hängen mit ihren Vorurteilen zusammen, für die ich nichts kann.
Ich möchte nicht missverstanden werden und betone deshalb hier noch einmal ausdrücklich, dass ich Menschen, die dem Beruf der Prostitution nachgehen, in keiner Weise zu kritisieren habe.
 
Es handelt sich um einen Dienstleistungsberuf, darauf kann man sich heutzutage sicher verständigen. Und mir scheint, auch andere Berufe verlangen vom Berufstätigen einen hohen körperlichen und psychischen Einsatz aus dem Zwang heraus, dass sie Geld verdienen müssen, und nicht deshalb, weil sie diese Tätigkeit so gerne verrichten. Machen sie ihre Berufsarbeit aber gerne, um so besser. Von Moralisten werden Prostituierte bemitleidet, weil diese gezwungen seien, die Moral der Moralisten dem Broterwerb zu opfern, dies besonders bei Strichern.
 
Und sie werden von den Moralisten gehasst, weil diese ,,Unmoral“ ermöglichen, weil diese den Beruf vielleicht sogar mit eigenen Lustgefühlen ausüben, was besonders schlimm und unmoralisch sei und ihnen den Anspruch auf Mitleid oder gar menschlichen Umgang nimmt, dies besonders bei Huren. Dass gerade die Moralisten zu den häufigsten Kunden der Huren und Stricher gehören, wird dabei übersehen.

Prostitution ist eine Berufstätigkeit und die kann nur nach den Arbeitsbedingungen bewertet werden, die erträglich sind oder unter denen der/die Berufstätige leidet. Kinderarbeit ist aus meiner Sicht generell abzulehnen, bei bestimmten Arbeiten aber ganz besonders. Niemand würde schon aus körperlichen Erwägungen heraus mit gutem Gewissen Kinder schwere Zementsäcke schleppen lassen. Ich meine, dass dies schon aus körperlichen Gründen bei der Prostitution von Kindern zu berücksichtigen wäre.

Es gibt aber auch Berufstätigkeiten, die von den Arbeitnehmern nur schwer psychisch zu bewältigen sind. Auch dies trifft für die Prostitution zu, besonders für Menschen, denen man bestimmte moralische Normen und Werte beigebracht hat, und die sie verinnerlicht haben. Doch bei Kindern unterstelle ich, dass der wirtschaftliche Zwang, anderen Menschen Zugriff auf deren Körper gewähren zu müssen, schwer psychisch verarbeitet werden kann.

Kinderarbeit lehne ich aber auch für alle Berufe aus dem Grund ab. dass sie nicht in der Lage sind, wirkungsvoll für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einzutreten. Und dies gelingt ja auch hier erwachsenen Arbeitnehmerlnnen nur unter ganz bestimmten Umständen. Wie viel mehr ist dies in den Ländern der Fall, wo die soziale Not größer ist und die Persönlichkeitsrechte noch eingeschränkter sind. Pädophile Sextouristen sollten daher in Rechnung stellen, dass die Inanspruchnahme von Kinderprostitution nicht unbedingt ein Beleg dafür ist, dass die Kinder die sexuellen Handlungen mit ihnen wirklich wollen, wie oft argumentiert wird. Aber auch bei jugendlichen und erwachsenen Prostituierten muss doch das Gefühl, der oder die andere macht dies nur wegen des Geldes, das Gefühl der Lusterfüllung beeinträchtigen.

Jugendliche begegnen ihren älteren Partnern (und auch Freiern) oft auch lustvoll wegen ihrer jugendlichen Geilheit, was Moralapostel gerne verhindern möchten. Ich finde Begegnungen aus Geilheit aber in Ordnung. Ich wurde als Kind und Jugendlicher sehr moralisch erzogen, und es war eine riesige Strapaze für mich, Selbstzweifel, Schuldgefühle und Schuldzuweisungen zu überwinden.
 
Die ,,Schuld“ für die (homo)sexuelle Handlung hat nicht der andere, auch wenn nach dem Abspritzen die Moral wieder angekrochen kommt und nach Entschuldigungen sucht. Es wurde nicht meine ,,Notlage“ durch den anderen ausgenutzt. Im Moment der Geilheit wollte ich es, auch wenn ich im Dienst der Moral in mir später den anderen beschuldigte, mich verführt zu haben.
 
Es ist ein langer Weg, bis man sich erlaubt, ohne Schuldgefühle Lust zu genießen, besonders, wenn im Umfeld moralischer Druck existiert, wie das heutzutage wieder in Mode kommt. Dieser moralische Druck geschieht aber nicht, wie es früher war, deutlich erkennbar durch konservative Parteien und die Kirche, sondern durch die konservative Wende in der Jugendszene selbst. Und „Führer“ können zur Zeit sogar in schwulen Jugendgruppen Anhänger finden, wenn sie mit moralischen Verurteilungen ihrer vermeintlicher Gegner um sich schlagen.
 
Dies belegt zwar nur ihre Doppelmoral und populistische Machtgier, aber es kommt an, besonders bei Schwulen im Coming-out, die noch voller Selbstzweifel sind und die auch in ihren Ängsten und Schuldzuweisungen Bestätigungen erhalten wollen. Das Coming-out ist aber erst dann vollständig geglückt, wenn man sich von konservativen Ordnungsmodellen und Fesseln befreien kann und keine Schuldgefühle für seine sexuelle Lust mehr verspürt und keine Schuldzuweisungen mehr nötig hat. Das aber schaffen auch viele Erwachsene nicht.
 
4. Schlussfolgerung
Ich behaupte, dass es sinnlos ist, nach dem Land zu suchen, in dem die Menschen ohne wirtschaftlichen Zwang einfach auf uns warten, weil sie auf uns Touristen so geil sind, und das, weil sie so natürlich sind. Es gibt dieses Land aber vielleicht doch, und zwar zum Beispiel hier, und natürlich überall auf der Welt, wo sich Menschen von den andressierten und verinnerlichten sexuellen Schuldgefühlen lösen konnten.
 
Bei diesen Loslösungsprozessen können wir ja auf lustvolle und emanzipatorische Art sehr hilfreich sein. Und die Grenzen, die uns an der Erfüllung unserer zwischenmenschlichen Bedürfnissen hindern, sind keine Staatsgrenzen, sondern sie sind überwiegend zwischen und in uns selbst angelegt worden. Der Urlaub löst auch nicht die Probleme, die durch die Arbeitswelt entstehen. Auch hier ist es nötig, für eine Verbesserung und nicht für eine Verschlechterung der Verhältnisse einzutreten, nur weil die Nutznießer der Verhältnisse ihre Medienmacht nutzen, uns Verzicht ins Ohr zu blasen und uns mit dem möglichen Verlust des Arbeitsplatzes erpressen, damit es ihnen noch besser geht.
 
Besonders ist die Ausbeuterideologie zu bekämpfen, nach der sich für uns irgend etwas dadurch löst, dass wir unsere Probleme an Schwächere in den armen Ländern weitergeben. Wer nicht hier einigermaßen Selbstbewusst und zufrieden leben kann, wie soll der das woanders können? Und Urlaub ist nur eine kurze Zeit, das wirkliche Leben, das wir in der viel längeren Zeit zwischen den Urlauben verbringen, muss lebenswert werden. Natürlich haben Reisen, die unternommen werden, um ein Stück Welt kennen zu lernen, nichts mit dem allen zu tun, was ich hier beschrieben habe. Dieser Text richtet sich auch nicht generell gegen das Reisen.

Arkadien, das wilde Leben ungebundener Menschen, alles das müssen wir dort erreichen, wo wir leben, indem wir es vorleben, sooft wir nur können, und indem wir es von unseren Freunden und Freundinnen erwarten, anstatt mit den konservativen Wölfen zu heulen und sie so in einem unglücklichen Zustand fesseln. Dass es so bleiben muss, wie es andere aus Eigennutz für uns so angelegt haben oder noch anstreben, ist kein Naturgesetz. Demokratie bedeutet doch wohl, dass wir da auch noch ein Wörtchen mitzureden haben. (js)
 
6. Nachtrag
Bis hierher war das ein älteres Referat von mir, dass schon einmal in der 37. Lust: Aug./Sept. 1996 von mir veröffentlicht wurde. Damals, so kann ich mich erinnern, war ich etwas beunruhigt, denn ich hörte drohende Untertöne von der Frauenbeauftragten der Stadt Wiesbaden, man müsse etwas gegen mich unternehmen, wegen dieses Artikels, der gehe doch zu weit. Natürlich folgte nichts. Warum auch? Auch nach heutigen Vorstellungen ist er immer noch ”politisch korrekt”, wie es so schön heißt, von irgendeiner Strafbarkeit ganz zu schweigen.

Was mich aber nun zu einem Nachtrag bewegt, ist die Tatsache, dass sowohl Urlaubwünsche als auch Urlaubsorte im Bewusstsein der TouristInnen problematischer geworden sind. Man weiß wohl nun, dass man keinen „edlen Wilden” begegnet, sondern einer Industrie, deren Zweck es ist, dem Touristen sein Geld abzunehmen, während die Einheimischen oftmals gar nichts davon haben. Oder man fürchtet sich vor den „bösen Wilden“.

Man weiß von den umweltzerstörenden Touristenanlagen, den wirtschaftszerstörenden Eingriffen durch die Tourismusindustrie. Was die sexuellen Ausbruchswunschträume betrifft, weiß man unterdessen, das es bestenfalls um Prostitution geht, schlimmstenfalls um Aids und für die Touristen um die Möglichkeit, ausgeraubt zu werden. Und wenn man sich der Hochburgen nicht bedienen möchte, mehr Ursprünglichkeit weiter weg sucht, dann fürchtet man sich davor, dass man entführt, als Geisel genommen wird.

Die Verhältnisse auf der Welt scheinen sich verschärft zu haben. Die Sonne lächelt nicht mehr über den Palmen, sondern sie brennt vom Himmel, man muss sich vor haukrebs schützen. Die strahlenden Augen jugendlicher Schönheiten betteln um Geld oder, in fortgeschrittenerem Stadium, betteln sie um eine Rolex. Die Unschuld ist längst auch im Bewusstsein der TouristInnen aus dem Gewerbe verschwunden. Und auch unseren Touristen sitzt das Geld nicht mehr so locker in den Taschen.

Bei diesen Aussichten orientiert sich wohl so mancher um. Statt des Palmenstrandes, wo man die Schönheiten betrachten und später dann auch anfassen kann, genießt man den Wellenschlag in einem Hallenbad, pardon in einem Center-Park. Wenn das Wetter es zulässt ist auch Bayern ganz nett geworden, oder die Ostseeküste lockt mit großen touristisch erschlossenen Inseln und dem Kreidefelsen. Mallorca und Ballermann, Handtücher besetzen Liegestühle, das alles interessiert nicht mehr so recht und erfüllt die Sehnsucht nach Fleisch auch nicht.

Da der „edle Wilde“ nicht existiert, entdecken sich die Touristen gegenseitig. Das kann man allerdings auch zu Hause haben. Und hier gibt es auch genügend Menschen, die exotisch aussehen, ihre wirtschaftliche Lage ist auch hier problematisch. Und um ausgeraubt zu werden braucht man eigentlich heutzutage auch nicht mehr in den Urlaub zu fahren.

Da sitzen neuerdings die UrlauberInnen an den Rechnern und finden nach kurzem Suchen genau die Leute, die so aussehen, wie man es in seinen Träumen schon erlebte. Man kommt zwar nun noch weniger an sie ran, aber man holt sich dabei kein Aids, wird nur schleichend ausgeraubt. Wenn sich die Spannung gelöst hat, verschwindet vielleicht auch die Sehnsucht nach der im Winde wippenden Palme, dem Sandstrand und den schmachtenden Blicken der süßesten PartnerInnen über unsere dicken Bäuche hinweg. (js)
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