66. LUST, Juni/Juli 01
 
Die Unterhaltungsbranche
Ist das lesbische und schwule Leben unserer Zeit eine Inszenierung der Unterhaltungsbranche? Sind wir selbst nur eine Erfindung dieser Branche? Die rührenden kleinen Initiativen und die Projekte, die von engagierten Lesben und Schwulen betrieben wurden, sind so erfolgreich geworden, dass Großveranstalter zunehmend dies als rentabel ansehen, solche Veranstaltungen zu inszenieren und die Gruppen verdrängen. Was sind wier? Was ist die Unterhaltungsbranche, wie sind ihre inneren Gesetze?
 
1. Das Leben in unserer Szene
Irgendein Junge (ich hätte auch ein Mädchen nehmen können, aber da ich ein Mann bin, liegt mir der Junge näher) bemerkt bei seinen Pollutionsträumen, dass das geliebte Gesicht männlich ist: ein Mitschüler, ein Lehrer, ein Bekannter aus dem Umfeld seiner Familie, seines Hobbys, seiner altergleichen Peer-Group, deren raue Spiele ihm nicht liegen, zu der zu gehören er sich jedoch genötigt fühlt. Und schon ist ihm die heimliche Frage auf die Stirne gebrannt: bin ich etwa so einer, von denen man in letzter Zeit in den Medien so viel liest und hört? Modisch gekleidete Männer, in Diskotheken, auf Reisen und bei großen Festen, die schwul sind, Aids bekommen, Männer lieben aber wohlhabend sind?

So einer, der schwul ist, soll ich sein? Man kennt die Witze in der Peer-Group, die von den altersgleichen Freunden mehr oder weniger gehässig erzählt werden. ”Du bist wohl schwul, oder?” verspotten sich die zu Rauheit getrimmten Bürschlein gegenseitig, um sich gegenseitig die Sensibilität auszutreiben. Das ist aus der Sicht konservativer Pädagogen notwendig, da sie damit ”lebenstüchtig” werde: in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. In den Witzen und den Späßen verbirgt sich soziale Erziehung, soziale Kontrolle. Sie schaffen Distanz gegenüber dem einen da, der kein Mann ist, der schwul ist. Zwar könnte das Dazugehören, zu dieser Szene schon auch irgendwie verlockend sein, sie kommt ja so farbenprächtig daher, aber es gehört sich nicht, dazu zu gehören.

Professor Gunter Schmitt aus Hamburg meint sinngemäß: das selbstbewusste Auftreten von Lesben und Schwulen bewirke, dass weniger Mädchen und Jungen (homo)sexuell experimentieren, denn selbstverständlich sind sie gemäß ihrer Sozialisation nicht homosexuell. Auch spätere Homosexuelle tun sich schwer, sich mit einer offenen anderen Szene zu identifizieren.

Und die Jugendlichen befinden sich auf dem Weg in eine ”geordnete” und damit heterosexuelle Beziehung mit Treue und Eifersucht, wie man sie in den Soups sieht, woran man sich unmerklich orientiert, ohne sich dessen bewusst zu sein. Homosexuelle Menschen sind dort zwar meist Menschen wie du und ich, aber auch irgendwie tragisch.
 
So wie Leute, die normal sein wollen, es aber eben nicht ganz schaffen. Man möchte nicht zu ihnen gehören. In einer Gruppe Erwachsener beobachtete ich das Buhlen eines aus Polen stammenden Schlesiers um Anerkennung, ein Deutscher zu sein. Die einheimischen Deutschen empfanden sein Buhlen als lästig, denn sie erkannten ihn nicht als einen von ihnen an. Auch ein Nazi, der immer von den vertriebenen Deutschen aus Polen sprach, machte Front gegen ihn.
 
Zu seiner Herkunft kam, dass er rechte Positionen kritisierte. Dies erschwerte seine Integration. Ein offener Schwuler, eine geoutete Lesbe in einer altersgleichen Gruppe machen auf ihre Art ähnliche Erfahrungen. Sie können sich noch so angepasst verhalten, man wird sie nicht als gleichartig sehen. Sie können sich höchstens selber etwas vormachen. Der Glaube an die individuelle Lösung ist ein solcher Irrglaube, mit dem man sich und anderen gerne etwas vormacht(Bei meinem Coming-out damals war das anders.
 
Das schwule Leben hatte etwas mit Selbstbehauptung und lustvollen Widerstand gegen Spießer, Ehe-Apostel und Moralapostel, gegen Kirche und CDU zu tun. Das imponierte damals so manche Jugendliche. Vor dem Bewusstwerden der eigenen Homosexualität gab es homosexuelle Spielereien zwischen Altersgleichen, in Toiletten und an anderen Orten mit Männern unterschiedlichen Alters, aber das hatte nichts mit dem ”Schwulsein” zu tun, wie man meinte. Es schien ein Teil der ”normalen” sexuellen Entwicklung zu sein. Sehr viele hatten damals solche Erlebnisse, einige von ihnen letztlich einen solchen Einstieg ins Schwulsein.)

Wenn es heutzutage nicht brisant deutlich und unerträglich wird, dann wird sich der jungen Mensch mehr denn je an heterosexuell genormten Strukturen orientieren. Der Schritt, der hin zu experimentellen homosexuellen Handlungen zu machen wäre, ist recht groß geworden, weil es nicht um eine mehr oder weniger lustvolle Spielerei geht, sondern weil vor ihm das Akzeptieren eines anderen Lebens in der Szene der Gays steht, von der man in den Medien berichtet. Größer, viel größer ist die Barriere also geworden. Und würde er in die Szene der Gays eintreten, dann würde er dort natürlich versuchen, so “normal” wie möglich zu ein.
 
1.1. Sogenannte Gruppen
Nehmen wir an, dass homosexuelle Verlangen wird deutlich. Nehmen wir an, der Junge spricht mit seiner verständnisvollen Mutter darüber. In ihrem Kopf befinden sich die möglichen Gefahren, denen der Junge ausgesetzt ist: Aids, Drogen, Verführung durch Ältere. Aber da gibt es ja staatlich anerkannte homosexuelle Jugendgruppen, wo die jungen Menschen schonend auf ein anständiges Leben in der homosexuellen Szene vorbereitet werden. Sie werden dort aufgeklärt, wie man sich vor Aids schützt und vor älteren Männern (Mädchen vor Frauen). Das jedenfalls erfährt die Mutter in den Medien. Und sie kann sich außerdem in einer Elterngruppe engagieren, die mit Pro Familia zusammenarbeitet und die in der Räumen der Caritas tagt. Ihr Sohn wird sich im geschützten Rahmen dieser Jugendgruppe in einen sauberen und anständigen jungen Mann verlieben, dann erst seine ersten sexuellen Erfahrungen machen, vielleicht vorher noch, zumindest danach aber eine ”eingetragene Partnerschaft” eingehen und lernen, wie man Verantwortung für einen anderen Menschen trägt. ”Der Unterschied zu meinem Leben ist nicht so groß”, meint die erleichterte Mutter, ”nur Enkel werde ich keine bekommen”. Es geht um ein möglichst ”anständiges” Leben. Es geht um kein lustvoll freies Gegenmodell mehr, sondern um Integration.
Die Szene der ”Unanständigen”, denen es nur um ihre verantwortungslose Lust geht, bekommt keinen Nachwuchs mehr, stirbt und trocknet aus. Die wenigen ”Unanständigen”, geraten in die Isolation, weil man nun mehr denn je in der Lage ist, die Generationen zu trennen. Es geht um den Wandel einer ganzen Szene, die sich bisher allen Moralisierungs- und Integrationsbemühungen verschloss. Durch kleine Zugeständnisse auf der einen Seite (es gibt keine Strafgesetze mehr, die Partnerschaften werden akzeptiert aber damit auch steuerbar) schafft man es so, sie von einer, die sexuell die Moral immer wieder unterlaufenden Szene zu einem konstruktiven gesellschaftlichen Faktor zu machen und so die Menschen in gesellschaftlich wünschenswerte Bahnen zu integrieren.
 
1.2. LSVD und seine Netzwerke
Längst geht es nicht mehr um den LSVD, wenn man von ihm spricht. Es geht um ein halbstaatliches System in unserer Szene, das sich immer weiter ausdehnt. Es gibt ein ganzes Netzwerk, eine ganze Infrastruktur von Organisationen mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern. Teilweise sind sie in Personalunion mit dem LSVD, teilweise konkurrierend aber im gleichen Boot sitzend mit ihm. Nehmen wir zum Beispiel die binationalen Partnerschaften.
 
In vielen Städten ansässige Gruppen kämpfen einerseits um das Bleiberecht ihrer PartnerInnen mit der Forderung, dass der Staat die ”eingetragenen PartnerInnenschaften” in dieser Frage wie heterosexuelle Ehen anerkennt. Niemand wird bestreiten, dass dies auch ein Problem der betroffenen Menschen ist. Aus ihrer Notlage heraus ergeben sich Interessen, die sie an die Ehe, staatliche Anerkennung und Integration in die Gesellschaft fesseln. Mit der feministischen Umgestaltung der Gesellschaft, dem freien sexuellen Leben der selbständigen Schwulen können sie nichts anfangen.
 
Das feministische Bemühen nach einem anderen Geschlechterverhältnis stört nur die Ordnungsstrukturen der Ehe, ist bestenfalls Privatsache fossiler Reste unserer Szene. Das feministische Thema ist für die StreiterInnen für binationale PartnerInnenschaften eine Diskussion im akademischen Rahmen, während sie selbst ”Basisarbeit” leisten, wie sie meinen. Sie benötigen dabei möglichst viel Ehe, öffentliche Mittel für Beratungstätigkeiten, Netzstrukturen zu JuristInnen, MitarbeiterInnen in vielfältigen Stellen einschließlich der Kirchen.

Wer diese Anpassungsarbeit kritisiert, muss sich sagen lassen, dass ihm am Wohl der betroffenen Menschen und Paaren nicht gelegen ist. Oder hast Du eine andere Lösung? Wir müssen zugeben, dass sich Vorstellungen nach einer anderen Form der Lösung von Problemen binationaler Paare nicht zeigen oder völlig utopisch sind, indem die Lösungen, die nun für sie greifbar erscheinen, in weite Ferne gerückt würden.

Nehmen wir die Gay-Manager, Führungskräfte in Wirtschaft und Politik und ihren sie bewundernden Anhang, denn nicht alle führen dort. Bisher stand ihrer Karriere ihre Sexualität im Wege. Entweder auf Karriere verzichten oder auf homosexuelle Partnerschaften. Man konnte zwar nach Marokko fahren, konnte sich im Lande aber nicht ungefährdet einen Hausburschen halten. In den Managerkreisen gilt es als schicklicher, sich mit einer Ehefrau zu bewaffnen und sie dort vorzuzeigen.
 
Na klar, die schickliche und anerkannte Ehe für Lesben und Schwule, so hoffen sie, bringt ihr Privatleben aus dem Bereich des karriereschädlichen Schmuddellebens in den Bereich der anerkannten ehelichen Hierarchien. Das ist übrigens einer der Gründe, warum unsere Lebensgemeinschaften nie voll anerkannt werden. Man will weiterhin über uns stehen, so unterwürfig wir uns auch verhalten. Natürlich sind sie für die LSVD-Ehe-Initiative. Die Fahrt nach Marokko wäre dann ihre Privatsache, für die sie sich nicht zu rechtfertigen brauchen, wenn sie genug ”verdienen”.

Die LSVD-Gruppen und die mit ihnen vernetzten Organisationen übernehmen zunehmend die politischen und gesellschaftlichen Infrastrukturen unserer Szene, verdrängen den ortsansässigen ”Wildwuchs”. Und die ”professionellen” Coming-out-HelferInnen, die Homosexualität aus der verachteten Schmuddelszene in anständiges Fahrwasser geleiten, sofort, wenn sie auftritt, tun ihr übriges. Hier gelingt es, eine ganze Generation von homosexuellen Menschen in die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen zu integrieren.
 
(Homo)Sexualität hört auf, spontane Lust zu sein, sondern hat nun auch im homosexuellen Bereich einem ”höheren Zweck” zu dienen, wie das allgemein in der Gesellschaft üblich ist: zur Stabilität einer auf Dauer ausgerichteten PartnerInnenschaft. Dass diese Form des Zusammenlebens dennoch teilweise sinnlos ist, nur die Zeiten spontaner Verliebtheit überdauert, ist denen, die sie gerade anstreben, ziemlich egal. Sie wollen, dass es die große Liebe wirklich gibt, die ihren Höhepunkt in der Eheschließung hat, und deshalb glauben sie daran.

Weil aus diesen Begegnungen keine Kinder als Kitt einer Beziehung resultieren, werden sie nach Abflachen der Verliebtheit dann schrittweise als lästig oder sinnlos empfunden. Es folgt deshalb sicherlich die Forderung nach dem Adoptionsrecht. Bisher müssen Haustiere für diesen Zweck herhalten. Für uns ist die ”Ehe” besonders dann relativ sinnlos, wenn sexuelle Monogamie ihre Struktur auch noch nach der Zeit der Verliebtheit absichern soll.

Doch da bietet die moderne Gesellschaft ja auch schon den heterosexuellen PartnerInnen Strukturhilfen an: Telefone mit 0190er-Nummern, Läden mit diversen Mittelchen und Bildchen, das Internet und letztlich den beziehungsunschädlichen, weil mit Geld statt mit Nähegefühlen verknüpften Seitensprung in der Prostitution.
 
1.3. Zahlenspiele
Einerseits die sozialpolitischen Netzwerke unserer Szene, von denen ich unter 1.2. berichtet habe, anderereits ein an Werbung interessierter Medienmarkt ist an Zahlen im Sinne von Masse interessiert. Manch ein schwuler Coming-outler, eine lesbische Coming-outlerin freuen sich über möglichst hohe Zahlen von Lesben und Schwulen in der Gesellschaft. Genau wie bei berühmten Lesben und Schwulen glauben sie so, mit den Problemen ihres Schrittes in die ”schöne neue Welt” leichter fertig werden zu können. Dabei haben sie es allerdings im realen Leben mit ihren MitschülerInnen und LehrerInnen, mit ArbeitskollegInnen und Vorgesetzten, mit MitbewohnerInnen im Mietshaus und den HausbesitzerInnen zu tun, wahrscheinlich aber mit den Menschen in ihrem Freizeitumfeld, denen sie so zu imponieren hoffen.

Kommerzielle Betriebe und Organisationen, die von ”Märkten” sprechen, wollen einerseits die Märkte unter ihre Kontrolle bringen, sie unter ihrer Kontrolle halten, sie andererseits nach außen möglichst groß erscheinen lassen. Und ein Markt ist unsere Szene unterdessen geworden. Und die Vernbands-sprecherInnen sind sich der kommerziellen Kraft unserer Szene bewusst geworden. Vorbei ist die Zeit, in der uns unsere GegnerInnen deshalb besonders gut abmelken konnten, weil sie uns in einem ausgegrenztem Umfeld ein Stückchen Lebensqualität nur zu einem hohen Preis gewähren konnten.
 
Wir werden zunehmend von Betrieben gemolken, die der eigenen Szene angehören. Damit meine ich nicht die Kneipen an der Ecke, die auch oft nur mehr schlecht als recht existieren, sondern ihre Konkurrenten, die GroßveranstalterInnen, die teilweise kommerziell sind und teilweise aus den halbstaatlichen Gruppen stammen.

Es wäre nun widersinnig, mit klassenkämpferischen Parolen gegen die erfolgreichen kommerziellen Medien unserer Szene, kommerziellen Treffpunkte und VeranstalterInnen, die kommerziellen Hilfmittelchenmärkte (vom Ersatzbild-Hersteller über die Video-Produktion bis zur Mode-Boutique, vom Penis-Vergrößerer bis zum Brust-Toupe´, vom Produzenten zarter Romatik-Romane zur Krimi-Herausgeberin) vorzugehen. Falls sie von einer (nicht vorhandenen) sozialrevolutionären Szene ”besiegt” würden, wäre dann die Marktwirtschaft abgeschafft? Würden die Verhältnisse zwischen den Menschen ihre Marktgesetze verlieren und echte Humanität einziehen? In Wirklichkeit hätten wir gar nichts mehr, denn unsere Szene organisert sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen eben marktwirtschaftlich. Das ist alles.

Aber die Marktverhältnisse zwischen den Menschen, die den kommerziellen Erfolg der entsprechenden Betriebe ermöglichen, gaukeln uns eine Welt vor, die uns immer wieder neu in Situationen bringt, in denen wir durch Konsum erträglich zu leben hoffen. Es ginge uns besser, wenn viele von uns die Strukturen durchschauen, denn nur dann haben wir eine Chance, nicht zu ihren Opfern zu werden.

Nun versuchen die medialen Geschäftsleute immer mit möglichst großen Zahlen rumzufuchteln, um suggerieren zu können, dass Werbung bei ihnen einen großen potenziellen KundInnenkreis erreichen kann. Da war es eine wirklich entsetzliche Situation für die, die von 5% der Bevölkerung ausgehen, andere 10% und wieder andere schon 20%, dass der SPIEGEL in einem Artikel behauptete, dass nur 1,8% der Bevölkerung homosexuell, also lesbisch bzw. schwul sei. Sofort meldete sich eine wissenschaftliche Stelle über E-Mails, dass man bei ihrer Studie, auf die sich der SPIEGEL berief, überhaupt keine Aussagen über den Anteil der Homosexuellen an der Gesamtbevölkerung machen könne. Auch wir selbst haben ja Umfragen gemacht und können ebenfalls bestätigen: es gibt keine derartigen wissenschaftlichen Untersuchungen und es kann sie auch nicht geben.

Niemand, der für sich definiert, homosexuell zu sein, geht zu irgendeiner Zählstelle und lässt sich dort registrieren. Und wenn es dies gäbe, wäre er/sie dann automatisch Teil eines bestimmten Kundenkreises? Und wann ist man denn zugehörig? Wenn man Sehnsüchte hat aber sich nie traut, sie auszuleben? Wenn man gelegentlich außerhalb der heterosexuellen Ehe auf dem Prostitutionsmarkt Kunde/Kundin für homosexuelle Spiele ist? Die Zahlenakrobaten sagen dann: ... dann ist er/sie eben bisexuell. Schon hat man eine neue Kategorie mit klaren Grenzen und Schubladen und möglichen Märkten mit Gewinnbeteiligung. Besonders wer Märkte zusammenhalten will, ist an solchen Zahlen und Abgrenzungen interessiert. Das Leben aber ist anders als man darzustellen versucht.
 
1.4. Das ”wahre” Leben
Wahr ist allerdings, dass die GrenzgängerInnen nicht mehr so einfach mit unserer Szene Kontakt aufnehmen. Mit zunehmender Präsenz unserer Szene stellt sich die Frage, ob man zu ihr gehört oder nicht. Wie eine Lesbe zu sein hat und deshalb ist, wie ein Schwuler ist, wird nicht von uns gesteuert, sondern von den Medien, die darüber berichten. Und wir halten uns daran. Halten wir uns nicht daran, gelten wir auch in unserer Szene als AußenseiterInnen und werden dafür abgestraft. Um homosexuelle Erlebnisse über die Szene haben zu können, muss man zunehmend Teil der lesbischen oder schwulen Szene sein, die eine kommerzielle Szene ist.
 
Um erfolgreich Kontakte bekommen zu können, muss man einen schwierigen Hürdenlauf bestehen, und an jeder Hürde steht jemand, der die Hand aufhält. An Sexualität haben wir alle so viel, dass alle unproblematisch genug davon erleben könnten. Stattdessen sind überall Mauern zwischen den Menschen errichtet, so dass wir erst viele Bedingungen erfüllen müssen, an ganz gewissen Türchen Eintritt zahlen müssen, und das nutzt denen, die unser Leben strukturieren. Unser Leben in der Szene ist von vielerlei Sachzwängen umstellt, so dass der Traum vom freien ungezwungenen Leben in unserer Szene in Vergessenheit geraten ist.

Die oder der Coming-outler(in) kommt nicht aus einer ihn belastenden eng strukturierten heterosexuellen Gesellschaft in die Freiheit des lesbischen und schwulen Lebens, sondern in neue Strukturen, die oftmals noch enger und schwieriger sind, als das Leben vorher war, wo man meinte, dass einem nur ”das eine” fehlt.

Meiner Meinung nach ist die Szene, in die wir müssen, wenn wir nicht alleine sein wollen, eine Inszenierung der Freizeitindustrie. Und das zwischenmenschliche Leben, wie wir also dann miteinander auskommen, wenn wir uns näher sind, gestaltet sich am Rande dessen als immer problematischer. Das Leben als Wurmfortsatz einer gut durchorganisierten Industrie mit einer sie flankierenden Verwaltung hat immer weniger mit eigener Erfüllung zu tun. Nur mittels Selbstbetrug kann man noch zufrieden sein. Aber es nützt nichts. Um das eine zu erhalten, muss man vorher in unserer Szene erst vielfach das andere tun. Und über diesen Weg wird man schrittweise davon abgebracht, was man eigentlich will, und da hingeführt, wo wir anderen Nutzen bringen.
 
2. Was ist ”in”, was ist ”out”?
”Tunten zwecklos” stand lange Zeit in den Kontaktanzeigen. Man distanzierte sich also bei Strafe der Ausgrenzung und Einsamkeit von solchen Männern, die einen femininen Habitus an den Tag legten. In ähnlicher Absicht war eine Zeitlang in den lesbischen Kontaktanzeigen zu lesen, dass man keine ”Emanzen” mochte. Was den SchreiberInnen der Anzeigen hier nicht auffällt, ist, dass sie gar keinen Menschen suchen, sondern die Verpackung eines Menschen, das Outfit.
 
Man muss also mit seiner Freundin, seinen Partner in der Öffentlichkeit was hermachen? Wo ist das Menschliche? Wo ist das liebevolle? ”Bi zwecklos” war eine lange Zeit in lesbischen Kontaktanzeigen zu lesen. Frauen, die sich nicht mit Haut und Haaren der Szene und der Partnerin unterwerfen, sind also nicht gewünscht. ”Kein BBB” war eine Zeitlang der Trend in den männlichen Kontaktanzeigen: kein Bart, Brille, Bauch. Wer also noch die Attribute der 68er aufwies, der gemütliche, rotweintrinkende Stammtischphilosoph war ”out”.

Man zeigte sich eher rechts mit kurzen Haaren, elitärer Kleidung und elitärem Gehabe. Die Gespräche über ein anders organisiertes gesellschaftliches Leben wurde abgelöst vom überheblichen Gerede über die ”Hungerleider” und ”Assoziale”.

Ein Jugendlicher, der aus einer anderen Gruppe zu uns kam, berichtete, dass in der Szene jemand (den wir kennen) rumläuft und gegen uns Stimmung macht. Er erzählte, dass der behauptet, ich sei ein Linker. Er war überrascht, dass mich das gar nicht geärgert hat. Noch überraschter war er, als ich ihm erklärte, dass es mich ärgern würde, wenn er sagen würde, ich sei ein Konservativer oder ein Rechter. Das scheint im Moment in der Szene nicht ebenso ehrenrührig zu sein wie das Erscheinungsbild ”Linker”.
 
Wohl bemerkt, es geht hier gar nicht um echte Inhalte, sondern um das Outfit und das Image. An einem Menschen mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen inneren Zweifeln und seinen Wandlungen ist man gar nicht interessiert. Niemanden interessiert, dass Du zur Zeit einsam bist. Aber es interessiert vielleicht, mit wem Du gerade zusammen bist. Manchmal mit Verachtung, manchmal mit Neid.

Plötzlich kamen Kontaktanzeigen auf, bei denen im weinerlichen Ton behauptet wurde, allen ginge es ”nur” um Sex, ihr (ihm) aber ginge es um eine wahre Beziehung. Und tatsächlich, allen geht es plötzlich um ”wahre Beziehungen”, und man überbietet sich in der Szene mit der Beteuerung, dass man da ganz anders sei als die anderen, die immer nur Sex wollten. Und das offene Ansprechen sexueller Fragen, Absichten oder Sehnsüchte löst nur noch ein Stirnrunzeln aus, als mache man etwas völlig Unanständiges.
 
Und wer offen über Sexualität redet, hat Absichten, nämlich sexuelle. Und schiere sexuelle Absichten zu haben, das gehört sich nicht in unserer neuen heilen homosexuellen Welt. Man ist nicht ”die (der) Richtige”, wenn man sie offen zugibt und hat. Sexualität ist in unserer Szene unanständig geworden, die gehört in eine auf Dauer angelegte Partnerschaft, die Doppelmoral ist also auf dem Vormarsch.
 
2.1. Meinungsführer- Innen
Jeder(r) von uns hat sicherlich schon erlebt, dass man in die Schusslinie irgendwelcher männlichen oder weiblichen Tratschtanten gerät und dann gelingt oftmals vieles überhaupt nicht (mehr). Plötzlich wird man geschnitten, plötzlich redet keiner mehr mit uns. Anstatt uns zu fragen, ob da tatsächlich etwas dran sei, erzählt man lieber weiter, was man gehört hat.

Für die/den, die/der manche Vorgehensweisen von Leuten, die man als FreundIn betrachtet hat, völlig unverständlich ist, bricht eine Welt zusammen. Nicht die blöden Tratschtanten regen uns auf, sondern die enttäuschenden Reaktionen von Menschen, die wir für FreundInnen hielten.

Es ist so, auch in unserer Szene, dass es MeinungsführerInnen gibt, denen geglaubt wird. Sie machen sich damit wichtig. Je primitivere Vorurteile sie strapazieren, desto erfolgreicher sind sie. Kaum betritt jemand ein Lokal, schon be- und verurteilen sie. Und das Seltsame ist: sie finden Publikum, das ihnen glaubt. Auch ich bin hier und da ganz gegen meinen Willen Meinungsführer.
 
Irgend ein Arbeitskollege sagt zu mir, er habe sich jetzt auch einen solchen Wagen gekauft, den ich fahre. Seltsam, mir ist die Marke ziemlich gleich. Aber ich nehme auch immer noch an, dass es Menschen gibt, an deren Urteil viel Richtiges ist, auf deren Urteil ich mehr gebe. Ich unterstelle denen ein höheres Wissen, die sich in diesem Bereich Wissen angeeignet haben, die zum Beispiel studiert haben. Aber unter ihnen gibt es auch Idioten. Man kann vor Angebern nie sicher sein.

Das mit den MeinungsführerInnen scheint etwas Menschliches zu sein, was von PolitikerInnen und Wirtschaftleuten auch ausgenutzt wird. In der Werbebranche macht man sich dieses Phänomen zunutze, und manche Kampagne ist auf die MeinungsführerInnen ausgerichtet, nur merken wir es nicht so einfach.

Und hier muss nun die Erklärung kommen, woher die MeinungsführerInnen ihre Meinung eigentlich beziehen. Das ist gar nicht so schwierig. MeinungsführerInnen sind Leute, so habe ich oben geschrieben, die ihren Gewinn daraus ziehen, dass sich Leute an ihnen orientieren. In der Werbebranche macht man sich dieses Phänomen zunutze, und manche Kampagne ist auf die MeinungsführerInnen ausgerichtet, nur merken wir es nicht so einfach.

Und hier muss nun die Erklärung kommen, woher die MeinungsführerInnen ihre Meinung eigentlich beziehen. Das ist gar nicht so schwierig. MeinungsführerInnen sind Leute, so habe ich oben geschrieben, die ihren Gewinn daraus ziehen, dass sich Leute ihnen anschließen, dass sie ein von ihnen lenkbares Umfeld haben. An jeder Stelle, wo Menschen zusammenkommen, gibt es sie, die ”informellen FührerInnen”. Um ihre Stellung zu halten und auszubauen, müssen sie gut beobachten können, müssen die Bedürfnisse und Sehnsüchte sowie Ängste und Aversionen ihrer AnhängerInnen kennen und nutzen.
 
Es geht ihnen nicht wirklich um eine Meinung, sondern um das persönliche Ankommen. Seltsamerweise können die platten Vorurteile mit einer Mischung an Aggressivität gegenüber denen von außen, verknüpft mit gelegentlichen Schmeicheleien gegenüber den AnhängerInnen, nicht platt genug sein, denn diese Plattheit entspricht dem, was die kommerziell erfolgreichen Medien uns vorgaukeln. Und wenn es alle sagen, muss es doch stimmen.

Wer für eine Meinung eintritt, für diese auch MeitstreiterInnen sucht, der ist kein Meinungsführer. Der muss sich auch sagen lassen, dass er so manche Meinung (die zu ihm gegenteilige) nicht gelten lasse. Ein Meinungsführer ist nämlich ein Meinungs-Oportunist. Es geht ihn ums Führen und insofern Recht haben und nicht um seine Meinug.
 
2.2. Medien
Für das Meinungsmachen wird viel Geld ausgegeben. Kaum passiert was, sind auch schon die platten Sprüche vorhanden, die ankommen und alles systemgerecht erklären.

Medien müssen sich kommerziell rechnen, und so kann ihr Schulterschluss mit den GroßveranstalterInnen natürlich auch zu den lukrativen Webeeinnahmen führen, zu großen ganzseitigen Anzeigen. Wer eher die kleinen Szene- oder gar Bewegungsveranstaltungen hofiert, wer auch noch Partei gegen das Schlucken der Szene durch die Unterhaltungsbranche ergreift, der bleibt zwar irgendwie sauber, aber er ist pleite.

Die Szene wird es gar nicht mitbekommen, weshalb da jemand aufgehört hat, zu existieren, denn in sich auftuende Lücken dehnen sich sofort die aus, die längst da sind und auf Gelegenheiten lauern.

Als wir mit der NUMMER (Vorgänger der LUST) anfingen und die in den Lokalen werbefinanziert verteilten, waren die Wirte froh, dass ihre Anzeigen auf den Seiten Platz finden konnten. Die Artikel waren für die Themen der Bewegung. Das änderte sich dann, als kommerzielle Blätter dort Märkte sahen. Während wir die Wirte als Partner der gleichen Szene ansahen und mit einem Veranstaltungskalender auf sie zugingen, begannen die kommerziellen Medien mit sogenannten Promotions-Texten (Texte, die wegen der offenen oder versteckten Werbebotschaft geschrieben werden).
 
Fragestellungen aus der Bewegung fanden dort nur gelegentlich aus Konkurrenzgründen Platz oder wenn man nichts anderes hatte und die Seiten irgendwie zwischen den Werbeanzeigen füllen musste.

Themen, die Lesben und Schwule im Leben bewegen, werden im wesentlichen dann aufgegriffen, wenn die Lösung dieser Fragen etwas mit dem Kauf von Gütern zu tun hat, was Werbung vom Einzelhandel einbringt, mit Reisen oder Fitnessstudios, mit Modefragen oder Frisuren usw. So entstand zunehmen ein Bild des konsumorientierten Schwulen und der konsumorientierten Lesbe, was seinerseits dann wieder Rückwirkungen auf die Szene hat, indem die Leute naserümpfend verachtet werden, die nicht nach den neuesten Modeschrei gekleidet sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die MeinungsführerInnen in der Szene, die durch verächtlichmachende Bemerkungen über unmodern gekleidete Menschen die Kontaktchancen der BesucherInnen durchaus beeinträchtigen können.

Der schlanke und sonnengebräunte jugendliche Mensch ist das Leitbild, dafür sorgen schon die Anzeigen und Promotionstexte der Fitnessstudios mit ihren Bauchtrainern und Solarien. Und die konsumkritischen Menschen in Nachfolge der 68er werden mit BBB und altersfeindlichen Sprüchen lächerlich gemacht und sind eben out. Wer nicht mitschwimmt, der wird bestraft.
Die kommerziellen Medien, die den Wildwuchs und die Meinungsvielfalt aufgefressen haben, sorgen schon im Verein mit den profilsüchtigen MeinungsführerInnen dafür, dass alles so funktioniert, wie es dem Markt nutzt.
 
3. Kommerzielle Betriebe
Jeder hat das Recht, einen Betrieb zu gründen. Diese Gewerbefreiheit ermöglichte eine Szene auch unter den Bedingungen der Illegalität. Wenn man ein Kneipe eröffnen wollte, brauchte man die entsprechenden Verträge mit der besitzenden Brauerei und dem Ordnungsamt, und dann konnten die Gäste kommen. Und wenn diese Gäste zufällig homosexuell wären, dafür konnte der Wirt ja nichts. Die Gewerbefreiheit ermöglichte also trotz Homosexualitätsverbot das Entstehen einer Szene. Die Wirte haben insofern Gründungsarbeit für eine Szene geleistet.
 
Natürlich ist eine solche Szene auf die Kneipe und deren Wohlergehen angewiesen. Und der Wirt benötigte zwischen seinen Gästen ganz bestimmte Umgangs- und Verkehrsformen, damit sie dort zwar oft Getränke verzehren, ab nicht ständig verhaftet und verurteilt würden. Was sich hier also als Szene entwickelte, war abhängig von den Rahmenbedingungen, um die sich die Szene entwickelte. Die polizeilichen Spitzel und Tugendwächter tolerierten solche Treffpunkte, weil sie ihnen den Überblick erleichterten. Was sexuelle Verhaltensweisen betrifft, die waren dort natürlich unmöglich. Man gab sich kulturell usw. und man pflegte andere gesellschaftliche Ereignisse.

Martin Dannecker und Reimut Reiche haben 1974 in ihrer grundlegenden Untersuchung der Schwulenkneipe, der ”Subkultur” im allgemeinen, bescheinigt, dass sie die Funktion der Wahlfamilie hatte. Die ”familiären” Umgangsformen zwischen den Gästen untereinander, zwischen ihnen und den Wirten, waren also die Grundlage eines Wir-Bewusstseins, einer Inszenierung also, die ihrerseits das Leben von homosexuellen Männern beeinflusste.
 
Und diese Beeinflussung richtete dann auch die in dieser Subkultur verkehrenden lesbischen Umgangsformen aus. Man kann hier niemanden einen Vorwurf machen, dass diese Szene so wurde, wie sie wurde. Die homosexuelle Subkultur ist in Nieschen angesiedelt, die Umgangsformen waren Zerrissen, die Homo-Sedxualität war etwas, worüber man weniger sprach, sondern man vergötterte die höheren Werte und Gefühle, die wahre Liebe und war kitschiger als heterosexuelle Schulmädchen.
 
3.1. Abgestützte Normen
Die Auffassung darüber, was die homosexuelle Identität sein könnte, wird von den Sexualwissenschaftlern nur scheinbar widersprüchlich beantwortet. Identität sei, was man davon halte, sagt Martin Dannecker, die Erfindung der homosexuellen Identität führt Gunter Schmitt auf Ulrichs zurück, der in seinem Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen mit homosexueller Sehnsucht und Praxis daraus eine abgegrenzte Gruppe von Menschen mit besonderne Eigenschaften machte. Aus dem Widerstand gegen die Diskriminierung ist also die schwule Identität entstanden? Vielleicht. Aus dem Einrichten (und nicht dem Widerstand) im Nischenleben der Subkultur unter den Bedingungen der Illegalität und Verfolgung ist die homophile Identität in der Szene geworden. Zwei Identitäten gibt es also:
 
3.1.1 Die homophile Identität mit ihrem verkitschten kulturellen Ansatz und der Angst, erkannt zu werden, mit dem Wunsch, so zu sein wie die anderen, diese Identität wurde schon immer in der Linken mildtätig toleriert. Es ist interessant, dass sich diese Identität und ihre dazugehörige Politik bei den Grünen durchsetzen konnte. Volker Becks Homo-Ehe, die Gay-Manager und die gesellschaftlich anerkannten Jugendgruppen, die junge Schwule vor älteren ”schützen” wollen, sind heutige Formen dieser Integrationspolitik, die letztlich auf gesellschaftliche Anpassung herausläuft.

Die 68er Sudentenrevolte und die jugendliche Sexrevolte attackierten die Spießer der Nach-Adenauer-Zeit mit deren Mythos von der heiligen Ehe mit ihrem ”Schutz”, dem Homosexualitätsverbot, den dazugehörigen Seitensprung und den Ort des Sprunges, die Prostitution. Als Slogans wie ”wer dreimal mit der selben pennt gehört schon zum Establishment” Furore machten, Kommunen gegründet wurden usw. entstand auch eine dort angesiedelte freche und laute Schwulenszene, die aber von den Homophilen in den Lokalen bis hin zur Denunziation bekämpft wurde, weil man Angst hatte, dass die doch nur die Aufmerksamkeit auf die auf Anpassung bedachte Szene richten würde.
 
3.1.2. Diese Schwulenszene benutzte das Schimpfwort ”schwul” für sich, trug offen den rosa Winkel als Solidaritätszeichen mit den im KZ ermordeten Schwulen, provozierte mit Röcken und hochhackigen Schuhen, wenn gesagt wurde, Schwule seien keine ”richtigen Männer”, machte aus dieser idiotischen Aussage eine Tugend (Männer müssen zur Bundeswehr, wir nicht!). Schwule würden die Ehe zersetzen? Die Ehe ist doch ohnehin ein überholtes Fossil. Schwule würde die Moral gefährden? Die Moral ist doch ohnehin eine heuchlerische Doppelmoral. Schwule würden die Jugend sexuell gefährden? Jugend hat doch selbst Sexualität und würde gerne mehr Gebrauch davon machen, und zwar gerade mit uns. Sex ist Lebensqualität und die Gefährdung der Jugend geschieht nicht durch die Sexualität, sondern durch das Lehren der verklemmten Ehe-Moral. Und je mehr Experimente, um so besser. Soweit, so gut.

Und dann kamen die vielen Irrtümer dieser Szene: die Lokale sind doch nur Ausbeuter die Schwulen, die Partner suchen und deshalb auf Lokale angewiesen sind. Man müsste also nichtkommerzielle selbstverwaltete Zentren ausbauen. Über dieses Thema später mehr.
Wir haben also zwei Identitäten mit unterschiedlicher Werten und Normen entwickelt, jeweils vor dem Hintergrund ihrer Szene. Beide hatten ihren erklärbaren Hintergrund, beide hatten aus heutiger Sicht ihre Lächerlichkeiten und Irrtümer.
 
Auf jeden Fall gab es einmal eine Schwulenszene, die nicht eine Inszenierung der Unterhaltungsszene war und die andere Werte und Normen vertrat, als die verschwitzte (Doppel)Moral der späten 50er. Das hatte wohl auch etwas mit dem Eingreifen der Sexualwissenschaftler zu tun, deren bahnbrechenden Veröffentlichungen ihrer Analysen zur ideologischen Rechtfertigung einer sexuellen Befreiung wurden.
 
Die heterosexuellen 68er sahen sie nicht gerne, kamen nicht gut damit zurecht, waren wohl auch der Meinung, dass sie dafür ihre Sexrevolte nicht unternommen hatten. Dass sich die bürgerliche Homophilenbewegung dann nach einiger Zeit vorerst durchsetzen konnte, hatte teilweise auch damit zu tun, dass die NachfolgerInnen der 68er ihnen gegenüber offener waren, während ihnen die frechen linken Schwulen immer suspekt blieben.
 
3.2. Halbstaatliche Initiativen
Während die Lokalszene, ”Subkultur” genannt, Zulauf aus der bürgerliche Mitte bekam, die eher konservativ war, liefe nur ein kleiner Teil der jungen nachwachsenden Schwulen den 68er Schwulen zu, den Homosexualität war auch unter den Linken suspekt. Der Jugendkult war hier auch nicht weniger vorhanden und die älter werdenden Revoluzzer fanden sich dann doch in den plüschigen Etablissements den einen oder anderen Partner, der ihnen in der 68er Szene versagt blieb.

Einige, die sich an den ”Marsch durch die Institutionen” anschlossen, versuchten, nichtkommerzielle Schwulenzentren einzurichten und, um diese finanzieren zu können, dafür öffentliche Mittel zu erhalten. Dies gelang auch gelegentlich und im Laufe der Jahre zunehmend.
Nun sind die öffentlich geförderten Schwulenzentren und andere Projekte nicht ganz problemlos. Zwar zahlen Lesben und Schwule genauso Steuern wie Heten, die ja auch für ihre Volksbelustigungen, Trachtenvereine usw. öffentliche Gelder erhalten. Oft fanden in den Zentren oder von der mit öffentlichen Mitteln geförderten Szene große Veranstaltungen statt, die in der kommerziellen Szene schon gespürt wurden.

Gähnende Leere am Samstag in den Lokalen, wenn z.B. im näheren Umkreis eine Disco stattfand, in öffentlichen Räumen, für die von der veranstaltenden Gruppe nichts gezahlt werden musste, während die Wirte, falls sie selbst eine größere Veranstaltung vorhatten, Räume teuer anmieten mussten. Zum andern fand hier auch eine Selbstzensur statt.
 
Die Arbeiten konnten, je erfolgreicher man war, nicht mehr von den nach dem Lustprinzip handelnden Laien bewältigt werden, und die dort dann angestellten MitarbeiterInnen mussten ja um den Bestand ihrer Arbeitsplätze besorgt sein. Sie selbst sorgten dafür, ebenso wie die Wirte in den Betrieben, dass allzu provozierende und gesellschaftskritischen Aktivitäten in Schranken gehalten wurden. Der Höhepunkt dieser Entwicklung zeigte sich in einem CSD in Bremen, wo der CSD-Verein, bestehend aus Vertretern der Lokale, öffentlich geförderten Gruppen usw. die Teilnahme einer frechen linken Lesben- und Schwulengruppe ausschloss und, als die mit einem Wagen trotzdem mitfahren wollte, die Polizei zur Hilfe rief, um deren Teilnahme zu verhindern.

Je größer die Förderung dieser Gruppen war, desto mehr kamen natürlich auch öffentliche Kriterien zum Tragen. Zur Betreuung von Gruppen von Schwulen, zur Coming-out-Hilfe, zur Aids-Beratung und für andere derartige Zwecke benötigt man heutzutagn nicht andere Schwule, die engagiert im Normbruch sind, sondern staatlich geprüfte Sozialarbeiter, denen die Integration ihrer Schäfchen zum Ziel gesetzt wurde. Dinge, die von den heterosexuellen Normen abweichen, werden (mit den homosexuellen Menschen, die dies zu praktizieren wünschen) ausgegrenzt und isoliert, so dass die Mehrheit der Lesben und Schwule heutzutage solche Bürger werden, die treu sein wollen, heiraten wollen und die Sehnsucht nach einem adoptierten Kind haben.

In der Februar-Ausgabe der Zeitung Queer, im Mgazin auf S. 9 zum Beispiel, wurde von der Lebensberaterin Tina Sengewich die Partnerin einer Frau kritisiert, die keine Ambitionen hatte, sich der Kinder ihrer Freundin anzunehmen. Frauen sind eben für Kinder zuständig, auch lesbische Frauen. Und die in unsrer Szene entstandenen Verkehrsformen von den Klappen über die Parks, von den Beziehungsnetzwerken über die Promiskuität, von altersungleichen Freundschaften bis hin zum Spiel mit der Frauen- und Männerrolle, all dies gilt zunehmend in der eigenen Szene als unmoralisch und verfehlt vor dem Hintergrund der Homoehe. Selbst Symbole wie den Rosa Winkel lehnen die Nachwachsenden ab, der habe nichts mit ihnen zu tun, man lebe heute und nicht in der Vergangenheit.

Bei den neu entstandenen Verbänden, wie dem LSVD handelt es sich um große Netzwerke, die aufgrund öffentlicher Förderung großen Einfluss auf die Szene und auch die Medien der Szene haben. Sie bekämpfen die unkonverntionellen Lesben und Schwulen wie auch die konservativen Skeptiker der Homoehe. Die linken Kritiker der Homoehe haben ihrerseits keine Unterstützung durch die heterosexuelle Linke, denn die wollen ja auch heiraten und können die Kritik daran nicht verstehen. Constanze Ohms kritisierte in ihrem Inteview in der 65. LUST die LSVD-Netzwerke, die in Zusammenarbeit mit den Grünen (ich möchte hinzufügen der SPD und den Gay-Managern) mit immer größeren finanziellen Mitteln immer größeren Einfluss bekommen.

Der Streit zwischen verschiedenen Gruppen über die ”Wiedergutmachung” an den homosexuellen Verfolgten des deutschen Nazi-Staates entbehrt hier nicht einer gewissen Pikanterie. Da viele der homosexuellen Häftlinge mit dem rosa Winkel tot sind, verlangt der LSVD Wiedergutmachung in Form der Unterstützung an die Verbände. Schon wird kritisiert, dass sich der LSVD damit weitere finanzielle Mittel beschaffen wolle.
 
3.3. Wirtschaftliches Überleben
Die kleinen alternativen selbstverwalteten Zentren und Projekte sterben ab, das niemand aus der Szene mehr hingeht. Man möchte nicht zu den gesellschaftlichen Außenseitern und Outdrops gehören, die sich angeblich dort treffen. In den Lokalen ist mehr los, die Leute sind lustiger, alles ist eleganter, man ist besser gekleidet und zeigt, dass man Geld hat, auch wenn dies nicht der Fall ist.
 
Was soll man da also noch in solchen Zentren? Die alternativen Betriebe, die sich nicht mit öffentlichen Mitteln mondän aufmotzen, gehören eben nicht zu einer bunten Glitzerszene. Die Rettung: die Umwandlung in öffentliche Einrichtungen oder in Privatbetriebe. Eine ganze Reihe heutiger Privatbetriebe unserer Szene hatte eine öffentlich geförderte Vorgeschichte oder ihren Ursprung in alternativen Betrieben. Als die Ökobank entstand, um selbstverwalteten Betrieben zu helfen, wie man sagte, fragte mich der Wirt eines Lokales, warum er keine Hilfe bekäme. Er verwalte doch seine Kneipe auch selbst. Der Unterschied ist oftmals fließend bis gar nicht mehr erkennbar.

So etwas wie zum Beispiel die LUST, die zwar noch existiert, aber noch schlechter als rechter, ist an keinem Punkt kommerziell. Aber nirgendwo ist irgend eine Form der Förderung in Sicht, weil wir zwischen allen Stühlen sitzen. Die ehemalige linke Lesben- und Schwulenszene, die inzwischen halbkommerziell oder halbstaatlich ist, hat ihre Werbung in der LUST eingestellt, weil es sich für sie nicht rechne, wie man uns erklärte (man wirbt in den kommerziellen Blättern mit großer Breitenwirkung), während langjährige kommerzielle Betriebe weiterhin in der LUST werben, teilweise als bewusste Hilfe aus alter Freundschaft verstanden.
 
3.4. Interessenszusammenhänge und –konflikte
Von der Wortwahl bis hin zum Bewusstsein hat man sich an Vorgegebenen zu orientieren. Wenn man die Dinge richtiger benennt, wird man nicht mehr verstanden. Werte, auch zwischenmenschliche Werte orientieren sich an den Marktwerten. Ich kann zwar etwas anders leben, entsprechend meinem etwas anderen Bewusstsein, aber dies eben nur in Isolation, da es schwer wird, dafür MitstreiterInnen zu werben, die ja auch Produkte der selben Gesellschaft sind.

Bei all diesen zu beobachtenden Zusammenhängen bleibt die Frage, ob es überhaupt ein lesbisches und schwules Leben jenseits der Vergnügungsindustrie und ihren Wurmfortsätzen gibt. Wenn man zu Hause zusammen lebt, ist es erst einmal aus mit der Verpackungsästhetik unserer Tage. Der liebenswerte langjährige Partner hat keinen Waschbrettbauch mehr, denn das ist eine Altersfrage, auch eine Berufsfrage, nicht nur eine Frage des Bodybuildings.
 
Zwar kann man nach außen hin noch die oberflächlichen Werte der Vergnügungsindustrie zelebrieren, man selbst aber genügt ihnen schon lange nicht mehr. Gibt es ein Leben außerhalb dieser Szene? Natürlich. Es gibt es dort, wo die Partnerin aufgrund ihrer langjährigen Berufstätigkeit nicht mehr so aussehen kann wie ein schwebendes Engelchen und wo man sie trotzdem liebt und nicht verlässt. Es gibt es da, wo man die sexuelle Einsamkeit des älter gewordenen aber vertrauten Partners an seiner Seite zwar nicht mehr selber beenden kann, aber mit ihm zusammen auf der Suche ist, seine Sehnsucht zu erfüllen.

Wie könnte denn ein ”echtes” Leben von Lesben und Schwulen aussehen? Wir haben uns damals in unseren Utopien unsere Gedanken von alters-ungleichen Wohngemeinschaften gemacht, über Beziehungsnetze und eine zwischenmenschlich solidarische Szene. An die kommerziellen Anteile der Szene dachten wir nur am Rande, sie waren für uns nur relevant, wenn irgendetwas in unseren Utopien nicht zufriedenstellend funktionierte und deshalb einer kommerziellen Ergänzung bedurfte. Und nun erleben wir, dass die ganze Szene lediglich nur eine Inszenierung der politischen und Wirtschaftsinteressen sind.
 
Ja, viele Lesben und Schwulen sind in ihrem Denken und Streben selbst nur ein solches Produkt. Aber verachten wir nicht die Menschen die lediglich ohne größeren Widerstand Erfüllungsgehilfe wurden, denn die Kunst des Widerstandes haben sie nicht gelernt. Sie können es weit schlechter also wir ehemaligen Sexrevoluzzer es lernten, und auch wir konnten es nicht gut, denn schaut Euch doch die Resultate an. Ihnen ist beigebracht worden, dass Integration das Mittel des Erfolges ist. Und es gibt Viele, die dadurch auch erfolgreich wurden.

Wie sieht denn das ”echte Leben” der heterosexuellen Menschen aus? Sind diese freier und alternativer? Ist nicht ihr Leben ebenfalls eine Inszenierung der entsprechenden Wirtschaftszweige?
 
4. Leben in der Marktwirtschaft
Niemand lebt auf einer Insel. Wer unter den Bedingungen der Marktwirtschaft lebt, lebt nicht nur unter diesen Bedingungen, sondern ist in seiner Identität auch von dieser Wirtschafsform geprägt. Ein Mensch ist hier so viel wert, wie seine Kaufkraft wert ist. ”Brotlose Künste”, das sind Sachen von Spinnern. Mag sein, dass man irgendwann ihren ”Wert” erkennt, den streichen dann aber andere ein, nachdem man tot ist. Man erkennt immer nur dann den Wert einer Sache, wenn sie Werte für solche schafft, die es gewöhnt sind, sich die Werte anzueignen, die andere geschaffen haben.

Früher gab es mehr Schlupflöcher und Ressourcen, die nicht vom Markt kontrolliert wurden. Aber die waren deshalb nicht marktkontrolliert, weil sie von nochkonservativeren Kräften besetzt waren. Sie wurden dann nicht marktwirtschaftlich, sondern staatlich kontrolliert. Als Lesben ignoriert wurden, als männliche Homosexualität nur etwas schmutzige Unmoralisches war, gab es keine Ausbeutung der Schwulenszene durch marktwirtschaftliche Schwule. Oder doch? Es gab in der kriminellen Schattenszene Menschen, die sich mittels Erpressung usw. Werte schaffen konnten. Sie nutzten die staatliche Repression.

Jetzt ist Vieles nicht mehr illegal und deshalb natürlich auch gut zu vermarkten. Was haben wir denn erwartet? Wir wussten doch, dass Opposition und Subkulturen dort entstehen, wo der Markt nicht greift, weil es noch keinen Markt gibt, und wo der Staat nicht lenkend eingreifen kann, weil er es verbietet. Und dies benutzten wir doch als Argument gegen die Diskriminierung. Nun steigern sich Kommerzialisierung und gesellschaftliche Integration in die dort vorherrschenden Normen überall da, wo die Diskriminierung zurückgeht. Gäbe es eine Insel in der sich Gegenkultur erhalten könnte, wäre auch sofort gesellschaftlicher Druck und Diskriminierung einerseits da, um die Insel zu begrenzen, und andereseits die Integration der Insel bis sie aufgesogen ist, in die großen Marktsysteme.

Zwischenmenschlichkeit? Humanität wenigstens? Solidarität, wenn nicht politische dann doch persönliche? Natürlich nicht. Das heißt doch nur, wenn man die Möglichkeit hat, ein Geschäft zu machen, darauf zu verzichten? Warum sollte man? Sicher, der Gewinn des Einen ist der Verlust des Anderen. In unserer neoliberalen Zeit, in der humanitäre und soziale Modelle zugunsten krassester marktwirtschaftlicher Vorteilsnahme geschliffen werden, ist auch die Ideologie nur noch auf Vorteilsnahme ausgerichtet. Und im Zwischenmenschlichen Bereich verhalten sich die Menschen danten, damit man sich vergnügen kann, trotz seiner Grausamkeit gegenüber anderen, vielleicht gerade wegen sein Grausamkeit.
 
4.1. Rahmenbedingungen
Der Rahmen für unser Leben ist eng geknüpft, unsere Freiheitsspielräume sind aufs äußerste beschnitten. Überlegen wir einmal, was wir im Leben selbst bestimmen können. Morgens, wenn wir aufstehen, haben wir uns die Zeit meist nicht selbst ausgesucht. Wenn wir und durch die Staus auf dem Weg zur Arbeit quälen, dann besteht die Freiheit vielleicht darin, dass wir einen schnelleren Schlitten haben und deshalb flinkere LückenspringerInnen sind.
 
Auf der Arbeitsstelle schreiben uns Sachzwänge und Vorgesetzte vor, wie wir uns verhalten, und ungeschriebene Gesetze zwingen uns zu bestimmten Konventionen im Umgang auch mit lesben- oder schwulenfeindlichen KollegInnen. Kommen wir von der Arbeit, nach mühsamen Nachhauseweg, den wir nicht aussuchen, dann können wir uns vor die Glotze setzen bis wir müde sind oder wir gehen in die Szene, weil wir auch mal in der anderen Welt sein wollen, in der Welt der Vergnügungen.
 
Und vielleicht ist da ja wer... . Dazu müssen wir aber ganz bestimmte Kleidung, Frisur usw. haben. Und wie verhalten wir uns dort? Wie wir es können und auch müssen, um eine Chance zu haben. Schreiben uns das nicht die ungeschriebenen Gesetze der Szene vor? Und für alles benötigen wir Geld, das wir ausgeben müssen. Wenn wir nicht zahlen können, dann sind wir schnell ausgeschlossen, sofern wir nicht sehr jung und attraktiv sind, dass man uns (begrenzt) finanziell hilft.

Oftmals ist eine angeblich freie Entscheidung nur das Abwägen welchem größeren Druck ich lieber nachgebe, um möglichst wenig Konflikte heraufzubeschwören. Habe ich mir ausgesucht, dass ich lesbisch oder schwul bin? Ich kann mich lediglich dazu entscheiden, mich selbst zu unterdrücken, auf sexuelle Erfüllung vollständig zu verzichten. In vielen Ländern der Erde ist dies so, weil die Todesstrafe auf homosexuelle Kontakte steht. Oder es ist so, weil die Schwierigkeiten, einen guten Kontakt zu bekommen, derart groß sind, dass man statt dieser Kontakte autosexuell (selbstfebriedigend) lebt, die Sexualität mit sich selbst erlebt, weil keine PartnerInnen da sind.
 
Zur Selbst-Befriedigung würde gehören, dass wir in uns selbst narzistisch verliebt sind. Die Werbung erklärt uns aber derart nachhaltig, wie unzulänglich wir sind, dass wir ständig nach Hilfsmittel Ausschau halten müssen. Bestenfalls gibt es fiktive PartnerInnen in Form von Bildern, Video-Filmen, speziellen Telefonnummern, wo die Leute die dicksten Brüste, längsten Schwänze jüngsten sportlich trainierten Körper haben, uns ach ja, die Chat-Rooms.

Sind das Befriedigungen unserer Bedürfnisse oder lediglich Ersatzbefriedigungen? Nun, wer diese Ersatzbefriedigungen als einzige Befriedigungen hat, der wird sie verteidigen, wie ein/e eifersüchtige/r Liebhaber/in sein/ihr Liebchen. Als Sexualität in der Adenauerzeit außerhalb der Ehe kaum existierte, hielt die Kirche den Klingelbeutel vor die Seitensprünge.
 
Durch die Sexrevolte wurden neue Marktmöglichkeiten und Ressorcen aufgetan, die bis dahin vom Markt nicht erreicht werden konnten. Es ist nicht die Sexualität, die vermarktet wird, sondern die Sehnsucht nach Sex. Hier kann immer nur der Ersatz zur Einnahmequelle werden. Und dies gelingt durch das Dazwischenschieben von Barrieren, an denen auch wieder Geld verdient wird. Selbst beim Chat-Talk werden diese Mauern von den Betroffenen selbst ständig aufgerichtet.
 
Die erste Frage im Gay-Talk ist die nach dem Alter. Ist der Chat-Partner ”zu alt”, wird der Talk abgebrochen, als ob es hier um eine Lebensbeziehung ginge, wo man seine Beute, den möglichst jüngsten Chat-Partner, ich seinen privaten Chat-Room führen will. Woher kommt es, dass die Betroffenen sich derart lächerlich gegenseitig quälen, ausgrenzen, gegenseitig fertig machen usw.? Es kommt von den Strukturen des Marktes. die wir verinnerlicht haben. Denken wir daran, dass seit Beginn des Industriezeitalters die formalen Marktbeziehungen die traditionellen sozialen Beziehungen bestimmten und dass sich der Wert eines Menschen fast nur nach seinem Marktwert bemaß und bemisst.

In diesem Rahmen stehen wir alle, die Heten, die Lesben und die Schwulen. Und unmerklich erfüllen wir die Bedingungen, an denen die Wirtschaft verdient.

Ich will nur eine Frau, die nicht zu maskulin ist, sich anpasst und mich liebt, immer zu mir hält in guten wie in bösen Tagen, die mich trösten kann und aufheitert. Sie soll modisch gekleidet sein, soll sich nicht als Emanze aufspielen, soll mir treu sein und mich nicht überwachen und klammern, das sagen lesbische Frauen und türkische Männer.

Ich will nur einen Mann, der anständig gekleidet ist, einen tollen Wagen fährt, mich in finanziellen Notlagen unterstütz, weil er mich liebt, mich finanziell aber nicht ausnehmen will, der trotzdem so jung wie ein Lehrling ist. Er muss sich mir anschließen aber dennoch ein gleichberechtigter Partner sein. Blond muss er sein, einen Waschbrettbauch muss er haben, Humor muss er haben, aber auch für mich da sein, wenn mir mal zum Heulen ist. Er darf mir die Freiheit nicht einschränken, wenn ich mal nach was anderem schaue, aber er soll mich am liebsten mögen.

Dass das so nicht geht, ist uns zwar klar, dennoch streben wir danach. Und weil es das nicht geben kann, bleiben wir unser ganzes Leben klang auf der Suche und müssen das entsprechende Geld ausgeben, um überhaupt noch die eine oder andere Chance zu haben.

Wenn es im Inland aufgrund des Alters immer seltener klappt, tut es vielleicht die Urlaubsreise, wo Menschen leben, die wegen des zusätzlichen materiellen Anreizes das Alter des wohlhabenden Touristen nebensächlich behandeln. Das klappt aber nur, wenn es dort Menschen gibt, die ärmlicher sind als wir. Es leben die Marktverhältnisse. Wir kritisiere sie, wenn wir ein ”schlechtes Geschäft” machen und loben sie, wenn wir von ihnen profitieren.

Es ist wahr, unser Leben ist von a bis z in Strukturen eingefügt, die politisch und wirtschaftlich andere von uns profitieren lassen. Aber diese anderen werden allzu oft dadurch nicht reich, sondern arbeiten genauso, nur am Arbeitsplatz Szene, um leben zu können. Gibt es Chance, auszubrechen?
 
4.2. Gegen den Strom
Kann man gegen den Strom schwimmen? Kann man sich ein kleines Inselchen bewahren oder ist die angebliche Insel nur eine Zu-Arbeit zur großen Gesamtwirtschaft? Es gibt und gab ja Teile unserer Szene, die Alternativen darstellten. Viele sind ständig auf der Suche nach anderen Möglichkeiten, sich auszuleben. Das Gefühl der Unzufriedenheit.

Kostenlos sind die Klappen und Parks, die Autobahnparkplätze usw. Orte, die gefährlich sind aber auch das eine oder andere versprechen. Die gelten unter feinen homophilen Herrschaften als unfein, werden kritisiert.
 
5. Schlussfolgerungen
Jegliche Szene ist unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nur eine Inszenierung. Ohne diese Inszenierung uch. Aber das sind keine Alternativen, sondern Ergänzungen, wie die Ehe der Prostitution bedarf. ”Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt”, hieß der Film von Rosas von Praunheim, der die damalige kulturell aufgeplusterte Szene analysierte, bloßstellte, sich den Hass aus den früheren kommerziellen Betrieben zuzog und zur Gründung vieler Gruppe beitrug.
 
Die Situation ist anders geworden aber nicht weniger perverser. Am Schluss werden als Vorschlag schwule Wohngemeinschaften gegründet, so wie man damals in der studentischen Linken glaubte, durch Zusammenleben in größeren Einheiten statt in der Ehe würden viele Probleme gelöst. Man empfand sich als alternativ zum Bestehenden. Dass es heute kaum, mehr solche Ansätze gibt, heißt nicht, dass sie falsch sind. Aber wir überschätzten die Integrationskraft der offiziellen Gesellschaft. Die Inseln können nur dann überleben, wenn es den Insulanern gelingt, ihrerseits junge neue Leute zu integrieren. Und damit sieht es in der heutigen neoliberalen Welt übel übel übel aus.
 
5.1. Integration
Letztendlich hat sich gezeigt, dass jegliche Initiative, unter großen persönlichen Opfern oft errichtet und auf den Weg gebracht, entweder von außen liquidiert, von innen aufgefressen oder von der Gesellschaft geschluckt wurde. Manchmal bewegte sich die Gesellschaft dabei ein kleines Stückchen auf uns zu, um uns den Wiedereinstieg etwas leichter zu machen. Sind fast alle drin, werden die Grenzen gegenüber AbweichlerInnen wieder enger gezogen. Und genau an diesem Punkt stehen wir nun. Fast ist unsere ganze Szene integriert, da sind die Grenzen schon erkennbar.
 
6. Schlussfolgerungen
Jegliche Szene ist unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nur eine Inszenierung. ModemacherInnen aus den Medien sind in der Lage neue Szenen, gekennzeichnet an neuer Musik, neuer Kleidung und neuen Ritualen aus dem Bodensatz der Geselschaft zu stampfen. Ohne diese Inszenierung würde nicht nur diese Szene nicht existieren, sondern das bisschen „Freiheit“, das wir haben, wäre auch nicht da.

Der Traum vom anderen Leben könnte nur dann zur Realität werden, wenn sich viele Leute an diesem Traum beteiligen. Dann ginge das oben dargestellte Spiel vom neuen los und dann würden die neuen Leute die gleichen Fehler machen wie wir, weil es ihnen auch nicht gelingen würde, die Nachwachsenden für sich zu gewinnen. Ich weiß, dass sich das ganz schön pessimistisch anhört. (js)
 
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