66. LUST, Juni/Juli 01
 
Eisbrecher
Man gehe einmal am Samstag um die Mittagszeit durch die Fußgängerzone. Am Anfang läuft man ständig im Zickzachkurs um die Leute herum, die auf einen zugestürzt kommen, die geradeaus auf einem zulaufen und uns mit ihren Blicken zum Ausweichen nötigen wollen.
Die Gesichter der Leute, die auf uns zulaufen, sind verbissen; es ist, als ginge es um eine wichtige Sache, den anderen zum Ausweichen zu zwingen, manchmal sogar beinahe in Angst, dass wir nicht ausweichen könnten. Schwierig wird es, wenn man ausweichen will, aber von der anderen Seite her stürzt noch jemand genau in der gleichen Weise auf uns zu. Man kann also nirgendwo hin ausweichen.
 
Was passiert? Man wird angerempelt, in diesem Fall von zwei Seiten. Entschuldigt sich nun jemand? Meistens nicht. Im Gegenteil bekommt man noch eine blöde Bemerkung. Man bekommt den Eindruck, dass es nach dem Willen dieser Leute besser wäre, wenn man gar nicht da wäre. Oder jemand ruft “tschuldigung!” und stürzt weiter und man hat das Gefühl, das war gar keine Entschuldigung, sondern der Signalruf, dass man auszuweichen habe.

Noch schlimmer ist, wenn man dann mit dem Einkauf beladen versucht, sich einen Weg durch die Fußgägerzone zu suchen. Menschen rempeln an die Gepäckstücke, in denen auch Zerbrechliches ist. Es sind oft junge Leute, Teens, wie man sagt. Oft junge Mädchen. Hat denen denn niemand beigebracht, dass man bepackten Leuten den Vortritt gewährt?
 
Muss man über arbeitende Leute auch seinen kleinen Sieg haben? Im Regen versuche ich, für jeden sichtbar, einen Regenschirm aufzuspannen. Zwei junge Kerle kommen grinsend so dicht an mir vorbei, dass sie mich und meinen Schirm anrempeln. Einer sagt: “Können Sie denn nicht aufpassen?” und beide lachen laut. Ich sage: “Müsst ihr denn so dicht an mir vorbeigehen?” Da ruft einer der jetzt ganz schnell weglaufenden Jungen: “Erst uns anrempeln und dann noch ein großes Maul.” Dann rennen sie lachend weiter.

Ich baue einen Infostand auf, die Kisten und Stangen liegen griffbereit, junge Leute latschen da durch, treten auf einige Dinge drauf. Erst als das Gerüst steht, beinahe wie ein Zaun, läuft niemand mehr durch. Beim Abbauen das gleiche Spiel. Kaum ist der “Zaun” weg, latschen die Leute auf die Sachen drauf.
 
Wenn wir sie wegtragen müssen wir um einige die schweren Klamotten herumtragen, mit dem kleinen Rollwagen vom Bürgersteig runter, wo sich einige unterhalten. Jemand hat das beobachtet und sagt zu den jungen Leuten: “Das war aber wirlich nicht nett von Euch.” “Gib dich doch mal locker”, raunzt einer der jungen Leute ihm zu. Keine Einsicht, nur agressives Selbstbehaupten.

“Jeder Mensch ist eine Insel,” las ich in einer schwulen Kurzgeschichte, und in der beschrieb ein ehemaliger US-68er sein Verzweifeln an der neuen gesellschaftlichen Mentalität unserer Tage. Er hat untertrieben. Eine Insel? Ein Eisbrecher vielleicht, doch um die Menschen herum sind doch auch nur Menschen, kein Eis. Kann man sich nicht mehr leisten, menschlich zu sein?

“Die Brutalität zwischen den Menschen nimmt zu”, lese ich in einem gesellshaftspolitischen Artikel. Am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr, in allen Bereichen menschlichen Miteinanders. Es scheint so, als ob die Menschen den anderen nur noch als Gegner, Feind, Hindernis, ansehen, und tun sie das nicht, dann gibt es einen Zweck dahinter, im Geschäftsleben zum Beispiel, wenn wir einen Vertrag unterschreiben sollen, der uns ihnen ausliefert.
 
Im Zwischenmenschlichen, wenn sie uns gebrauchen und dann wegwerfen wollen. Jeder gegen Jeden? Kein bisschen Humanität mehr? Keiner gönnt Keienem was? Was ist denn das für ein Leben? Ich lese Texte von Tucholsky, zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nazis geschrieben, der ähnliche Sätze über seine Mitmenschen formuliert. Ist das die Mentalität, in der ein Haider, bei dem alle wissen, wie unmenschlich seine Thesen sind, ein Berluskoni, bei dem alle wissen, wie korrupt er ist, gewählt werden? Ist das die Mentalität, die solche Verbrechen an den Mitmenschen ermöglichte, wie wir sie aus der deutschen Vergangenheit (und zum Teil auch Gegenwart) kennen?

Ich laufe vollgepackt durch die Fußgängerzone und werde immer zorniger. Immer wieder drängen sich Leute an meine Sachen, zwingen mich anzuhalten usw. Wenn ich andere vorlasse, die das unbedingt wollen, danken sie nicht mit einer kleinen Geste, sondern demonstrieren, dass ihnen der Vortritt auch gebührt, sogar: dass sie gewonnen haben. Ich fange an, anfangs unmerklich, mich wie sie zu benehmen. Da geht es dann besser. Ich verschaffe mir Platz. Ich komme voran.
 
Dann bemerke ich, wie besonders solche Leute mir nun ausweichen, die gerade in die Fußgängerzone gekommen sind und ein wenig ratlos oder hilflos mein agressives Verhalten erdulden. Als mir das klar wird, schäme ich mich. Ich selbst erzeuge also nach einiger Zeit das, was mich peinigt. Dieses Verhalten ist ansteckend. Es ist so gefährlich wie ein Virus, MKS oder BSE. Es greift schnell um sich. Es muss bekämpft werden.

Wie kann man ein solches ansteckendes Verhalten bekämpfen? Zuerst einmal, man muss kein Monster werden, wenn man Monstern begegnet. Man kann sich auch dagegen wehren. Natürlich kann ich mich nicht als Volksredner in die Fußgängerzone stellen und um Menschlichkeit, menschliche Rücksichtsnahme, um Mitmenschlichkeit bitten. Es gäbe nur Gelächter, dessen bin ich mir sicher.

Wenn manche Lesben und Schwule am Beratungstelefon über die Skrupellosigkeit und Kälte in unserer Szene klagen, dann muss ich doch annehmen, dass es außer dem Bedürfniss, den im Alltag empfangenen Druck einfach weiterzureichen, auch ein Bedürfnis nach menschlicher Wärme gibt, das nicht befriedigt wird. Repräsentieren wir doch diese menschliche Wärme in der Szene, dann können wir uns vielleicht wenigstens dort schon einmal ein bisschen menschlicher fühlen. Sozusagen als Experimentierfeld.
 
Sehen wir den Anderen nicht erst einmal als Feind an, wenn wir ihm begegnen, sondern als Partner in gleicher Lage, als Mitmensch. Es muss ja nicht immer ins Bett führen, kann es aber.

Wenn es da klappt, dann sind wir vielleicht wirklich warme Menschen, bei deren Anwsenheit niemand zu frieren braucht. Das klingt jetzt aber sehr pfarrerhaft, was ich da schreibe. Aber vielleicht nutzt es ein wenig, wenigstens erst einmal zwischen uns. (js)
 
Dein Kommentar zum Artikel: hier

 Zum Artikelarchiv

 Zur Artikelhauptseite

 Zur LUST-Hauptseite