65. LUST, April/Mai 01
 
Die Gen-Datei
Ein Mensch wurde ermordet. Das ist tragisch, berührt aber die Menschen in der mediengepeitschten öffentlichen Meinung nur am Rande, vielleicht nur, wenn man ihn kannte. Ein Mädchen wurde ermordet. Sie wurde aber nicht nur ermordet, sondern im Zusammenhang mit einem sexuellen Missbrauch ermordet. Das ist nun ein Thema, das über die Schrecklichkeit des Auslöschens eines Lebens hinaus noch ganz andere Gefühle anspricht.

Der schreckliche Tod des Mädchens erscheint deshalb besonders sinnlos, weil es keinen anderen Sinn für diesen Tod gib als die egoistische sexuelle Befriedigung eines Menschen, dessen Handeln uns völlig unverständlich, uns sehr fremd ist. Relativ hilflos und schaudernd schauen wir in die Nachrichten und hören die Kommentare. Das passt nicht in unser Bild, dass Menschen im Grunde doch anständig seinen und kriminelle Übergriffe nur Unglücksfälle, dass es daher um die individuelle Freiheit geht und nicht um das Überwachen der Menschen.

Und nun kommt das, war alle freiheitsliebenden Menschen befürchten: Sowohl Menschen, die unsere erkämpften sexuellen Freiheiten zurückdrängen wollen, als auch solche, die überhaupt Freiheiten zurückdrängen wollen, überwinden schneller als andere die Sprachlosigkeit über das Ungeheuerliche des Geschehens und haben ihre Patentrezepte zur Hand, die dann die „Lufthoheit über den Stammtischen” gewinnen, wie es so schön heißt.
 
Es scheint, als seien sie ständig auf der Lauer nach solchen Vorfällen, um loslegen zu können. Unter dem Eindruck solcher Ereignisse und solcher Stimmungen kann man dann doch froh sein, wenn in den großen und den meisten kleinen Parteien genügend vernünftige Leute sitzen, die mäßigend wirken und dazu beitragen, dass die Diskussionen wieder in sachliche Bahnen gelenkt werden. Auf die Medien kann man da kaum setzen, denn die Nachricht ist ein Ware, und Geld verdienen wollen ja alle. Da nutzt das „Öl ins Feuer gießen” mehr als die ausgewogene Bewertung der vorliegenden Probleme.

Politische Demagogen würden sicherlich nach solchen Ereignissen über die Todesstrafe abstimmen lassen oder über die sicherheitsdienstliche Erfassung möglichst der ganzen Bevölkerung diskutieren: „Du bist nicht für die allgemeine Sicherheitsüberwachung? Hast du denn was zu verbergen?“ Nur die Kriminellen können doch dagegen sein.

Wenn über die Todesstrafe diskutiert wird, gibt es immer wieder einige Menschen, die den Durchmarsch in den Polizeistaat dadurch bremsen wollen, dass sie das politische Argument ins Feld führen. Sie verweisen darauf, dass es politische Kräfte gibt, denen skrupellos jedes zur Verfügung stehende Mittel recht ist, das sich für sie auszuzahlen verspricht. Und das stört natürlich die Stimmung, die durch ohnmächtige Wut gekennzeichnet ist, über den furchtbaren Tod des Mädchens. Haben wir deshalb das Recht, zur Tagesordnung zu gehen, über das Geschehene nicht weiter zu sprechen, als sei nichts vorgefallen? Kann es sein, dass wir in Wirklichkeit Angst vor einer ins Rasen geratenen Volkswut haben, die dann nicht differenziert?

Wir Lesben und Schwule haben aber keine Angst vor solch einer Volkswut. Wir vertrauen darauf, dass es in den großen Parteien genügend mäßigende politische Kräfte gibt. Und Homosexualität scheint auch nicht mehr das Thema zu sein, das durch Angriff und Einschüchterung zum Wahlerfolg führt. Und auch an den Stammtischen haben die Leute ja erkannt, dass die wirklichen Verbrecher, die die Jugend gefährden, nicht unter den Lesben und Schwulen zu suchen sind.

Und auch die Lesben und Schwule brauchen darum keine Angst vor einer Gen-Datei aller Männer zu haben. Die Lesben ohnehin nicht, die Schwulen deshalb nicht, weil sie keine Verbrecher sind, zumindest seit der diversen Reformen am § 175 StGB und schließlich dessen Abschaffung im Westen seit der Rechtsangleichung zwischen DDR und BDR, denn in der DDR gab es ihn nicht mehr.

Der Spiegel beschreibt, dass der Schutz der Privatsphäre derzeit in der öffentlichen Meinung gar kein Schutzgut zu sein scheint. Im Gegenteil sei die Tendenz zu bemerken, dass sich die Menschen in unserer Gesellschaft den Drang haben, sich zu offenbaren, beinahe: sich zu exhibitionieren. Man schließt sich an die Gesellschaft und den Staat an, der alle Freiheiten zu garantieren scheint und kann die Leute nicht verstehen, die den Staat kritisch sehen. Sie sehen das so, als würden sie dem Staat geradezu unterstellen, dass er nicht demokratischsei, und so etwas will man natürlich nicht annehmen.

Die vernünftigen mäßigenden Kräfte in den großen Parteien in allen Ehren. Ich glaube aber, dass man sich nicht auf sie verlassen kann. Und jeder Fußbreit individueller Selbstbestimmung und Schutz der Persönlichkeitsrechte, die man an höhere Institutionen und Ziele abtritt, könnte unser Leben einmal sehr begrenzen. Das war nach dem Ausbruch von Aids zu spüren, als Herr Halter vom SPIEGEL die Schwulenlokale als Seuchenherde beschrieb und Schwule um ihren Job fürchten mussten, der angeblichen Ansteckungsgefahr wegen. Und da traten Leute wie Gauweiler auf, der als Kreisverwaltungsreferent in München Saunen schließen ließ. Süßmut, vom SPIEGEL und anderen deshalb gegeißelt, gab damals eine andere Politik vor, die sachorientierter war. Aber die ScharfmacherInnen lauern immer auf Gelegenheiten. Man sollte nicht allzu obrigkeitsgläubig sein.

Und leider gibt es Anzeichen, dass die Union derart wild um sich schlägt, dass sie verantwortungslos mit der Volkswut rumzündelt, dass sie mit ihren demagogischen Sprüchen den Rechtsradikalen in die Hände spielt. Sie scheint keine Chance auszulassen, um populistische Kampagnen zu starten, besonders kurz vor Wahlen. Nehmen wir die Vorwürfe gegen Trittin, er habe gesagt, dass der CDU-Generalsekretär Maier sich wie ein Skinhead gebärde und auch selbst so aussehe. Mit letzterem hat er zweifellos unrecht. Aber der seit Jahren von Nazis vorgebrachte Spruch: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein”, nun aus dem Mund dieses CDU-Politikers, wie kann man das anders verstehen?
 
Hier kann man nur sagen, Trittin hat recht. Und nun greift Herr Goppel von der CSU den Bundespräsidenten an, ihm fehle es als Repräsentant der Deutschen an Patriotismus, wenn er sage, dass er sich einen solchen Spruch nicht zu eigen machen kann. Als Bundespräsident müsse man sich mit der deutschen Geschichte in ihrer Gesamtheit identifizieren. In ihrer Gesamtheit? Identifizieren?

Muss man denn „Patriot“ sein, um in einem Staatsamt anerkannt zu sein? Ist es schon wieder so weit? Was den Stolz betrifft, den man dafür haben soll, ein Deutscher zu sein, da kann ich nur sagen, auf sehr vieles, was von Deutschland ausging und ausgeht, bin ich überhaupt nicht stolz. Eher im Gegenteil. Und nun soll man sich z.B. mit der Nazi-Vergangenheit positiv identifizieren, weil man Deutscher ist?

Stolz ist man, wenn man aus eigener Kraft etwas erreicht oder geleistet hat. Soll ich nun dafür stolz sein, dass ich 1. auf dem Boden der Bundesrepublik geboren bin und 2. den deutschen Pass habe? Worin besteht denn dabei meine Leistung, auf die ich stolz sein könnte? Oder ist die Eigenschaft „des Deutschen“ auf Grund seiner angeborenen „Mentalität“, also seiner Rasse, besser oder höher die der anderen Rassen? Ist es das, was mich stolz machen soll? Ist man also ein Patriot, wenn man ein Rassist ist?

Es scheint, dass sich derzeit in der Union die abenteuerlichsten und rechtslastigsten Kräfte durchsetzen. Das kann man nur mit großer Sorge und Unruhe sehen. Solche Äußerungen ermutigen die rechten politischen Kräfte nur, gegen die man angeblich sei. Mit noch größerer Unruhe kann man sehen, dass sich eine solche Verhetzung der Bevölkerung bei Wahlen für die Union in der Regel auch noch auszuzahlen scheint, wenn man von der zu kurz angelegten Kampagne in Rheinland-Pfalz absieht. Und nun noch die Forderung, alle Männer sollen in einer Gen-Datei gespeichert werden. Da kann man nur Allerschlimmstes befürchten.

Zwar hat sich inzwischen in der Genetik herausgestellt, dass es zwischen den einzelnen Menschenrassen überhaupt keine anderen erkennbaren genetischen Unterschiede gibt als zwischen Nachbarn und Familien. Aber hat das jemals irgendwelche Demagogen davon abgehalten, die Stammtische mit neuen Scheußlichkeiten zu bedienen? Denen geht es ja nicht um den wissenschaftlich Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern um ihre Ziele. Und wenn es so nicht geht, dann geht es eben anders.

Ein „schwules Gen“, das scheint auch nur noch in einigen besonders seltsamen Köpfen herumzuspuken, die These ist zu abenteuerlich. Aber sind wir deshalb sicher, dass eine solche unwissenschaftliche Theorie nicht doch von irgendwelchen Populisten aufgegriffen wird, was sich für alle lebenden Schwulen katastrophal auswirken Würde?

Es gibt ja leider auch zahlreiche Lesben und Schwule, die von einer solchen Demagogie erreichbar sind, und die sich dann in unseren eigenen Reihen gefallen, Stammtischparolen zu verbreiten. Dass sie damit ihren politischen GegnerInnen in die Hände arbeiten, fällt ihnen dabei nicht auf, und viele sind ja auch bei den politischen GegnerInnen anzutreffen, gefallen sich dabei und bemerken nicht, dass sie sich damit selber in den Hintern treten.

Gen-Dateien sind kein Selbstzweck, sondern ein Mittel. Es war schon immer so, dass nach kurzer Zeit alle interessierten Kreise über die gleichen Mittel verfügten. Aus dem Unterricht der Gymnasialen Oberstufe wissen wohl noch einige, dass man uns mit dem „Missbrauch“ zu beruhigen versuchte. Atomkraft ist schlimm, wenn man sie als Waffe missbraucht. Waffen sind schlimm, wenn man sie kriminell missbraucht.

Solche Mittel dürfen nicht in die Hände von solchen kriminellen Kräften geraten können. Und wenn es solchen Mittel gibt, dann können sie eben auch in solche Hände geraten und werden es demzufolge auch.

Der genetische Code kann nur dann als Ermittlingshilfe wirksam sein, wenn es auch genetisches Material am Tatort gibt. Also lassen sich nur sehr wenige Verbrechen mit ihm aufklären. (js)
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