- 65. LUST, April/Mai 01
- Identität und Gesellschaft
In der taz vom 17. März schreibt
Professor Gunter Schmitt, ein Sexualwissenschaftler am Institut
für Sexualforschung in Hamburg, darüber, ob es eine
heterosexuelle Identität gibt. Dabei stellt er die Frage
auf, ob es denn eine homosexuelle Identität gibt. Gibt es
sie? Ja, es gibt sie, meine ich und die schwule Identität
ist unterschiedlich zur lesbischen Identität. Wie es üblich
ist, bezieht er sich bei seinen allgemeinen Aussagen lediglich
auf die schwule Identität.
Martin Dannecker hat einmal zu der Frage, ob es überhaupt
eine männliche Identität gibt, diese Frage bejaht.
Und bei der Frage, was das denn sei, sagte er, es sei das, was
man dafür halte. So ist es wohl, an dem, was man davon hält,
orientieren sich die davon betroffennen und die davon nichtbetroffenen
Menschen, die Toleranten und die FundamentalistInnen, die Freund-
und die FeindInnen.
Der Text von Gunter Schmitt beginnt mit der Beschreibung des
Theaterstückes Der letzte Gold, in dem es um
den schwulen David Gold geht, der von seiner Herkunftsfamilie
toleriert wird, auch wenn man dort nicht besonders traurig ist,
dass der Freund Davids zu einer Familienfeier nicht mitgekommen
ist.
-
- Die Schwester Davids wird schwanger und lässt
screenen, ob der Fetus zu einem normalen und gesunden
jungen Mann werden wird. Und als bekannt wird, dass der Fetus
zu einem schwulen Mann würde, lässt sie unter Zustimmung
der Eltern abtreiben. Die entdeckte Homosexualität (hier:
Weiblichkeit) im Zwischenhirn des männlichen
Fetus geht gleich von einer ganzen Serie von wissenschaftlich
unsinnigen Annahmen aus. Schmitt schreibt dann: Die Botschaft
des Stücks ist düster: Hinter der Toleranz gegenüber
Schwulen, die in den letzten 20 Jahren erheblich fortgeschritten
ist, lauert die Vision einer schönen neuen Welt ohne sie,
die Vision ihrer Abschaffung, sobald Gelegenheit dazu ist, präventiv,
ganz demokratisch und selbstbestimmt mit dem Elternrecht ....
Die beiden (offen schwulen) US-amerikanischen Forscher Dean Hamer
und Simon LeVay haben die angeblichen genetischen und hirnanatomischen
Besonderheiten schwuler Männer in die Diskussion gebracht.
Der Sexualwissenschaftler Schmitt meint dazu: Anders als
Hamer und LeVay glaube ich nicht, dass Homosexualität pränatal
festgestellt werden kann. Homosexualität ist ein komplexes,
zudem kulturelles Phänomen, und damit kaum geeignet, sich
biologisch vorhersehen zu lassen, bevor der Mensch die Welt,
die soziale Welt betreten hat. Keinen Zweifel aber habe ich,
dass es bald Wissenschaftler geben könnte, die reinen Herzens
und besten Wissens behaupten, solche Vorhersagen seien möglich.
-
- Auf dem freien Markt der Medizin und im Rahmen
pränataler Vorsorge werden dann Homosexualitätstests
angeboten - und von vielen Eltern auch genutzt werden. Die wissenschaftlichen
Grundlagen eines solchen Handelns werden fiktiv sein, die Konsequenzen
aber real - Abtreibung und medizinische Manipulation an für
homosexuell gehaltenen Feten.
Nicht das Problem der Diagnostik sei das eigentliche Problem,
sondern dass unterschiedliche sexuelle Orientierungen verschieden
beurteilt werden. Wie schon heute in einigen Ländern weibliche
Feten abgetrieben würden, weil Jungen mehr gelten, sei damit
zu rechnen, dass fast alle Eltern vermutlich keine homosexuellen
Kinder wollten. Es wäre, anders als bei den Nazis, kein
staatlicher Druck, sondern Wunsch der Eltern.
Eine solche Haltung nähme in Kauf, dass eine Gruppe
von Menschen, die anders sind als andere keineswegs nur
homosexuelle prospektiv abgeschafft werden, und zwar aufgrund
sozialer Bewertung. Der traditionelle, mächtige Heterozentrismus,
hochentwickelte Technologie und der freie Markt medizinischer
Dienste dieses Gemisch brächte viele Familien wie
die Golds (die Familie im o.a. Theaterstück) hervor.
Dann beschreibt der Sexualwissenschaftler, welche Anstrengungen
man in der Medizin unternommen habe, um mädchenhafte
Jungen im Sinne einer Vermännlichung zu behandeln.
Sowohl die These der biologischen wie der kulturellen Ursache
der Homosexualität sei gegen die Homosexualität gewendet
worden.
Eine Kultur der Vielfalt sei immer noch nur rudimentär
vorhanden. Männer, die schon Kinder haben und später
zu ihrer Homosexualität fanden, behaupten, sie hätten
ihre Homosexualität erst später entdeckt. Noch immer
werde an eine scheinbar naturgegebene Polarität von Homosexualität
und Heterosexualität geglaubt. Warum komme niemanden in
den Sinn, dass zum Beispiel Männer eine Zeitlang eine Frau
lieben könnten und dann einen Mann?
Warum müssen wir ihnen eine lebenslange Diagnose verpassen?
Weil wir unter dem machtvollen Vorurteil der Monosexualität
leben und, betrachtet man unser Verhalten und Fühlen, so
tun, als sei Monosexualität, die eingeschlechtliche Ausrichtung,
ein ehernes Gesetz: Fast alle Zeitgenossen, Männer wie Frauen,
Homosexuelle wie Heterosexuelle, über 95% der Bevölkerung,
sind in merkwürdiger Uniformität lebenslang und ausschließlich
oder vorwiegend monosexuell, das heißt ihr Verlangen und
ihre Liebe werden vom Geschlecht ihres Partners dominiert.
Dazu ließe sich sagen, dass solche Fiktionen wie die lebenslange
Liebe und solche gesellschaftlichen Strukturen wie die Ehe diese
Monosexualität bestärken und die sexuelle Freiheit
begrenzen.
Lieber Gunter Schmitt, Deine rhetorische Frage nach dem Warum
lässt sich auch soziologisch beantworten: nämlich weil
sich in jeder Situation menschlichen Lebens Nutznießer
der Situation entwickeln. Und unter der Bedingung der Marktwirtschaft
ist eben wirtschaftliches Nutznießertum dominant. Es handelt
sich um Märkte, die die Nutznießer gerne unter ihrer
Kontrolle haben wollen.
-
- Es handelt sich auch um individuelle Identitätsbildung
unter dem Eindruck von Gruppenprozessen, die hinlänglich
untersucht sind.
Michel Foucault habe als erster darauf hingewiesen, dass
erst seit Ende des 18. Jahrhunderts aus der Sünde der Sodomie,
also aus einem bestimmten Akt oder Verhalten, allmählich
ein besonderer Typus, eine besondere Art von Mensch wurde, ausgestattet
mit besonderen Eigenschaften. Der Sodomit war ein Gestrauchelter,
der Homosexuelle ist eine Spezies.
Bei der Wertung des ersten Homosexuellen, Ulrichs,
meint Schmitt: Die negative Festsetzung homosexueller Eigenart
durch Mediziner und Juristen setzten Homosexuelle von Anfang
an einen Diskurs entgegen, der die homosexuelle Identität
positiv bestimmte. Gay pride und seine Vorformen entstanden in
den Homosexuellenbewegungen als Gegenentwurf zu gesellschaftlicher
Diskriminierung. Homosexuelle und heterosexuelle Identität
entstanden als reziproke Verrücktheiten.
In einem langen Prozess seien so zwei Identitäten entstanden,
meint Schmitt. Er beobachtet, dass noch 1970 achtzehn Prozent
der befragten 16- und 17jährigen Jungen angaben, schon einmal
Sex mit einem Partner des gleichen Geschlechts gehabt zu haben,
1990 berichteten nur noch 2% von solchen Erfahrungen.
-
- Durch die Allgegenwart der Kategorien heterosexuell/homosexuell
etikettieren Jugendliche gleichgeschlechtliche Erlebnisse
schnell als schwul; aus spielerischer Lust am gegenseitigen Onanieren
ist ein schwuler Akt geworden. So sei historisch zuerst
die Zwangsheterosexualität entstanden, aus der sich dann
die Zwangshomosexualität entwickelt habe, die ihrerseits
nun wieder zur Stabilität der Zwangsheterosexualität
beitrage.
-
- Mein Diskurs:
Warum ich über diesen Zeitungsartikel berichte? Weil ich
eingeschränkt die Auffassung von Gunter Schmitt, dem 64jährigen
Professor am Institut für Sexualforschung an der Uni Hamburg,
teile. Die Ausprägung der Homosexualität, die Verkehrsformen
zwischen Lesben und zwischen Schwulen, die Lebensführung,
die Verhaltensweisen usw., das alles sind kulturelle und nicht
biologische Erscheinungsformen.
-
- Und die Erkenntnis, nicht alleine ein Sünder
zu sein, sondern einer von Vielen zu sein, das Wachsen der homosexuellen
Identität also, das ist geprägt und geformt durch die
Angriffe der Medizin, der Justiz aber auch der Religion auf homosexuelles
Handeln und Sein. Und die heterosexuelle Identität entsteht
aus der Abgrenzung gegenüber der Homosexualität. Homosexualität
genießen können auch Menschen mit heterosexueller
Identität, aber es macht ihnen Konflikte mit ihrer Identität.
-
- Heterosexuell handeln können auch Menschen
mit homosexueller Identität. Hier kann man allerdings nicht
sagen, dass heterosexuelles Verhalten ihnen Konflikte mit ihrer
homosexuellen Identität macht, eher macht ihnen das Erkennen
ihrer homosexuellen Neigung Konflikte in einer heterosexuell
dominierten Gesellschaft, und zwar so lange, bis sie das Gegenmodell,
die homosexuelle Identität verinnerlicht haben.
Anders als Schmitt muss ich aber sagen, dass die homosexuelle
Identität (zwar eine Verrücktheit) sich notwendig aus
der Repression ergeben hat und auch noch heute notwendig ist,
da die antihomosexuelle Abgrenzung eine homosexuelle Selbstbehauptung
notwendig macht. Es ist ja nicht so, dass wir uns dies aussuchen
könnten, sondern homosexuelles Leben geschieht unter der
Dominanz der heterosexuellen Abgrenzung vor der Homosexualität.
Und das sind tatsächlich kulturelle und gesellschaftliche
Prozesse.
Überhaupt ist jegliche Identität Ergebnis kultureller
und gesellschaftlicher Prozesse, so auch die weibliche und männliche
Identität. Und die weibliche Identität scheint auch
aus der Selbstbehauptung gegenüber männlicher Repression
entstanden zu sein, und die männliche Identität aus
der Abgrenzung gegenüber dem, was man als weiblich definiert
hat. Dass das homosexuelle Erwachen in einer Zeit stattfand,
in der es auch stärkere männliche Abgrenzungen gegenüber
dem Weiblichen gab, hat meiner Meinung nach zu einer völlig
unsinnigen Vermischung dieser beiden Identitätsbereiche
geführt.
-
- Natürlich ist männliche Homosexualität
nicht auf Weiblichkeit im Manne zurückzuführen und
auch nicht Männliches in der Frau bei weiblicher Homosexualität.
Die Zuordnung, was männlich und weiblich sei, hat ja seinen
Ursprung in gesellschaftlicher Arbeitsteilung und nicht in der
Biologie. In dem Buch Lebenswelten Die Vielfalt
der Geschlechter von Christa Schuhbauer (Siehe Buchbesprechung
in dieser Ausgabe) wird von Kulturen berichtet, bei denen zum
Beispiel drei oder mehr Geschlechter (mit ihren entsprechenden
Identitäten) existierten, die an Staus-, Verhaltens- oder
Arbeitsrollen geknüpft waren und nicht nur an die Form der
Geschlechtsorgane. Da wird berichtet, dass eine Frau das Geschlecht
wechselt, zum Mann wird, wenn sie zur LandbesitzerIn wird, dass
sie dann einen männlichen Namen bekommt und Frauen heiraten
kann.
Jegliche Entstehung einer Identität schließt immer
andere Identitäten aus und die Arten und Formen der Identitäten
ergeben sich aus dem Wechselspiel zwischen ihnen, bedingen sich
gegenseitig. Und damit komme ich auf meine Kritik an Schmitts
Thesen zurück. In einer männerdominanten Gesellschaft
kann eine emanzipatorische weibliche Identität nur durch
das Verschwinden der Männerdominanz versiegen. In einer
heterodominanten Gesellschaft kann die homosexuelle Identität
nur durch das Verschwinden der Homosexualität ausgrenzenden
heterosexuellen Identität versiegen. Insofern sind das also
keine eigentlichen Verrücktheiten, sondern Ausdrucksformen
der Selbstbehauptung im vorgegebenen Rahmen.
Der Versuch aber, solche Identitäten biologisch zu rechtfertigen
oder begründen, hat sein Ursache in dem Wunsch, sich Wandelndes
irgendwie festschreiben zu wollen. Die angeblich angeborenen
Eigenschaften von Mann und Frau, von Heterosexuellen und Homosexuellen,
haben ihre Entsprechung in den angeblich angeborenen Charaktereigenschaften
von Menschenrassen. Ein Gegenrassismus gegen rassistische Unterdrückung
ist eben immer noch rassistisch und ein Gegensexismus gegen die
Unterdrückung der Frau ist immer noch sexistisch. Dies lässt
sich auch auf die homosexuelle und heterosexuelle Identität
übertragen. (js)
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