64. LUST, Februar/März 01
Homosexualität im Alter
Ab welchem Alter werden wir nicht mehr attraktiv sein?
Ab welchem Alter können wir nur noch mit Spott rechnen?
Werden wir uns in einem bestimmten Alter diskret zurückziehen?
Eine Aussprache über ein Thema, was uns bleibt, wenn wir älter werden.
 
1. Träume
Der älteste schwule Mann, den ich derzeit kenne, ist 84 Jahre alt. Wenn ich ihm mit dem Farbdrucker Bilder aus dem Internet ausdrucke, dann ist er besonders an Abbildungen ganz junger Typen, so 16 - 18, interessiert. So nennt er das aber nicht, sondern die „älteren Typen“ (ab ca. 22-24 Jahre), die ihn nicht interessieren, die sind ihm „zu maskulin”, wie er sagt.
 
Die jungen Typen also, die ihn wegen ihrer Jugend genügend „feminin“ vorkommen, die faszinieren ihn, der aufgrund seines Alters unterdessen sexuelle Erlebnisse für völlig ausgeschlossen hält, aber sie sich sicherlich doch noch wünscht. Natürlich hatte er in seinem Leben Freunde und Sexpartner unterschiedlichen Alters gehabt. Aber die Sehnsucht nach dem unbekümmerten Jugendlichen, nach der vergangenen vergötterten Jugend, die sich in spritziger unbekümmerter Geilheit ausdrückt, diese Sehnsucht hat ihn seit seiner eigenen Jugend wohl nie verlassen.

Was ist die erträumte Altersgruppe für die meisten 60er und älteren? Natürlich die Teens. Was ist die ersehnteste Altergruppe für die meisten 40er und 50er? Die Teens. Und auf welche begehrteste Altersgruppe lauern die meisten Twens (20er) und 30er? Natürlich auf die Teens. Tja, und wen suchen die Teens?

In unseren Medien wird mit sexueller Begehrlichkeit, verknüpft mit Jugendlichkeit geworben, die Verkaufszahl gesteigert, das Interesse geweckt. Sexualität mit Jugendlichkeit verknüpft soll Begehrlichkeit wecken. Warum wird es gemacht? Weil es funktioniert, natürlich. Und nach wen suchen also die Teens?

Das ist abhängig von ihrer ideologischen Konditionierung. Sie werden wieder mehr von moralischen Vorstellungen beeinflusst: Sex gehört in eine auf Dauer angelegte Beziehung. Die aber ist nicht in Sicht, wenn sexuelles Verlangen wahrgenommen wird. Viele begnügen sich mit dem, was die Medien bieten. Andere wollen wirkliche sexuelle Erlebnisse.

Wenn es ihnen also um sexuelle Erlebnisse geht, spielt das Alter ihrer Partner, anfänglich zumeist, keine große Rolle. Da sind die Gleichaltrigen mit ihren moralischen Barrieren sogar uninteressanter. Wenn es ihnen um die lebenslange Beziehung geht, dann muss es ein Gleichaltriger oder nur wenig Älterer sein.
 
Es kommt also darauf an, wie ein jugendlicher Schwuler sein Coming-out erlebt. Erlebt er es in einer altersgemischten Szene, dann probiert er sich lustvoll durch alle unterschiedlichen Leute. Erlebt er es in einer Szene nur unter Jugendlichen, vielleicht noch mit schwuler Ehemoral beeinflusst, dann sucht er den mehr oder weniger Gleichaltrigen fürs Leben.

Es ist aber auch eine Neigungsfrage: wenn er sich an die erotischen Leitbilder der Gesellschaft (in Werbung, Filmen und Serien dargestellt) gewöhnt, ist er für eher Ältere nicht zu sprechen. Wenn er aber in seinem zerwühlten Bett haarige oder massige Männerkörper ersehnt, ist seine Neigung, in eine altersgleiche Clique zu gehen, etwas geringer.

Wenn man die Verhaltensweisen in der Szene beobachtet, die Paare und Cliquen sieht, die sich in den Lokalen unterhalten und in den Darkrooms anonym begegnen, glaubt man nicht der Vermutung, dass sich alle nach den Teens sehnen. Dieser Widerspruch ließe sich hinlänglich dadurch erklären, dass ein schwuler Mann während der langen Wartezeiten auf die Traumprinzchen, denen man im Leben doch auch hie und da mal begegnet, eben Kompromisse eingeht. Er will nicht das ganze Leben bis auf die 3 oder 5 Mal, wo ein Teen Lust hat, sich mit ihm zu erproben, gänzlich ohne Sexualität zu sein.

Diese 3 bis 5 Mal im Leben, in denen die Träume einsamer Nächte real in Erfüllung gehen, erfüllen sich die Träume gar nicht. Die „Jungs“ erproben sich selbst und ihre Gefühle auf ihrem Weg in ihre Möglichkeiten in der Schwulenszene. Sie achten in der Regel eher auf die Technik im Sinne von Reibung und Reizentwicklung als auf Nähe und zwischenmenschliche Zufriedenheit. Sie entwickeln selten ein Nähe- oder Wärmegefühl gegenüber ihren ersten Sparringpartnern.
 
Sie sind ruheloser als wir es notgedrungen in all den Jahren wurden und streben aus der Umarmung, kaum dass die erregten Tropfen versprüht sind. Für den männlichen Teen ist dieses belanglose Zwischenspiel nicht der Rede wert gewesen, wie eine flüchtige Selbstbefriedigung, auf seiner Suche nach seinem Traum schon vorbei, da seine Gedanken und Empfindungen schon seit Beginn der konkreten Handlung unruhig mit der Frage beschäftigt war, mit wem er sich auf welche Weise das nächste Mal erproben will, auf der unruhigen Suche nach Befriedigung seiner unstillbaren Begierde.

Und der ältere Träumer, kaum dass er sich traute, daran zu glauben, dass ihn dieser traumhafte junge Mann, dieser Junge, ihn spontan Umarmt, erkennt, dass der lange erträumte Augenblick nun auch schon vorbei ist. Mit ein wenig Wehmut im Blick schaut er vielleicht hinter dem Jungen her, unzufrieden wegen seiner eigenen ungestillten Sehnsucht, die sich so nicht befriedigen ließ, die sich so auch nicht befriedigen lässt. Was der Junge sucht, in seiner flüchtigen spontanen unbekümmerten Umarmung, und was der Ältere in seinen Armen hält, zärtlich liebkosen und beglückt noch lange verliebt ansehen möchte, ist schlicht nicht dasselbe. Die schwärmerichsten Liebesgedichte, -Geschichten, -Lieder stammen aus den unerfüllbaren Träumen der älteren Liebhaber Jugendlicher.

Ergiebiger, faszinierender, zufriedenstellender erweisen sich im Leben die anderen, die relativ älteren Partner, die partnerschaftlicher sind, vielleicht, weil sie dieses Spiel genauso kennengelernt haben. Und so entstehen die Partnerschaften zum Glück mit anderen Menschen, nicht mit den unerreichbaren Traumboys. Das partnerschaftliche Leben kann zufriedenstellend verlaufen, doch die Sehnsucht nach den unerfüllbaren Träumen bleibt zurück, vielleicht das ganze Leben lang bis ins hohe Alter.
 
Immer seltener lässt sich eine Situation noch vorstellen, wo ein Junge auf die Idee kommen könnte, einen kleinen Zwischenstopp gerade hier einlegen zu wollen. Dann aber, wenn das sexuelle Ausleben der Träume auch im realen Leben kaum eine Rolle mehr spielt, weil es sich auch aus eigenen körperlichen Gründen auch kaum mehr befriedigen könnte, bleibt das Träumen zurück und auch das sehnsüchtige Betrachten der Bilder.
 
2. Realitäten 1
Man mag nun nachdenken, wo diese Konditionierung herkommt, die Verklärung des jugendlichen Gesichts, des jugendlichen Körpers, der jugendlichen Unbekümmertheit und Spontanität, der Geilheit und der jugendlichen Lebensart, die aus der Sicht des Jugendlichen doch so sehr anders ist als der Träumende sie wahrzunehmen vermag.
 
Viele kluge Erklärungen darüber sind in der Literatur zu finden, auch Erklärungen dafür, warum selbst bei einer gelegentlichen „Erfüllung“ sich diese Träume physisch und psychisch nicht erfüllen. Sicher ist eine Kombination verschiedener Sehnsüchte als ursächlich anzusehen, und dass sie sich nicht erfüllen, hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich Träume nie erfüllen lassen. Realitäten, auch die traumhaftesten, sind eben Realitäten und keine Träume.

Aber wir haben diese Zusammenhänge in Rechnung zu stellen, wenn wir Erscheinungsformen unserer Szene beurteilen und verstehen lernen. Wir benötigen dieses Wissen, um unsere Rolle realistisch einschätzen zu können, und wenn wir die tödliche Einsamkeit von schwulen Männern mitten im Trubel unserer Feste zur Kenntnis nehmen wollen. Die Männer, die suchen, sehen diese Zusammenhänge nicht, weil sie den Träumen nachjagen, die sich nicht erfüllen werden.

Daraus ergibt sich für unsere Fragestellung, dass wir in jedem Alter als zu alt gelten. Nicht für alle, aber vielleicht für die, auf die es uns gerade ankommt.

Wir haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass viele schwule Männer in dieser Frage unehrlich zu sich selbst oder zu anderen sind. Sei es, um nicht in den Sog der Kindersex- und Kinderpornographiekampagne zu geraten, denn die Definition, bis zu welchem Alter ein Mensch ein zu schützendes und deshalb unmündiges Kind ist, wird je nach Gustus verschoben.
 
Wenn ein 16jähriger Jugendlicher zum Beispiel nun seine Erlebnisse sucht, wenn für ihn Gleichaltrige vorerst uninteressant sind, weil er immer mit ihnen zusammen war, wenn für ihn nicht die Altersfrage, sondern die Gelegenheitsfrage und seine Neugier im Mittelpunkt stehen, dann wird er weiter nach Gelegenheiten suchen und sie auch finden, unabhängig von der Auffassung beobachtender Dritter, die entsprechend ihrer eigenen Vorurteils- und Interessenslage urteilen. „Unschuldige Jugend?“ Wunschtraum vieler Moralisten.

Ich bin diesen angenehmen Situationen in meinem Leben auch gelegentlich begegnet, freilich, je älter ich wurde um so seltener, doch habe ich immer erlebt, dass besonders solche Personen besonders aktive Bedenkenträger waren, die selber ständig auf der Lauer nach solchen jungen Suchenden waren.

Wenn sich eine solche Situation in unserer Szene anbahnt, wenn sich abzeichnet, dass dieser Junge sich irgendeinen, nämlich gerade diesen Mann aussucht, der sich natürlich darüber freut, dann finden wir überall BedenkenträgerInnen, die das irgendwie für schädlich halten. Jeder Zeuge dieser Situation aus unserer Szene denkt über sich, dass er/sie sicherlich dafür besser geeignet wäre als der andere.
 
Nennen wir es, was sich hier hinter dem Schutzgedanken verbirgt beim richtigen Namen: es ist Eifersucht. Menschen anderer Szenen stellen Vergleiche mit ihren eigenen Vorlieben und Neigungen an und mischen ihre eigene Homophobie mit hinein. Die Zeit, in der automatisch die älteren Liebhaber straffällig wurden, ist noch nicht lange vorbei.

Oft verbirgt sich in den Kontaktanzeigen hinter der Bezeichnung „gleichaltrig“ der Wunsch nach einem Jüngeren, weil sich so mancher für weit jünger einordnet, als die anderen ihn einordnen, als er in der Szene also ist.
 
2. Realitäten 2
Es gibt aber auch in unserer Szene eine kleinere Gruppe solcher Männer, die gar nicht an jüngeren Männern interessiert sind, sondern die ältere Partner tatsächlich für erotischer, für interessanter hält. In früheren Jahren haben viele von ihnen sich das Signalverhalten „Tunte“ angewöhnt, heute müssen auch sie Mann sein, da es kaum mehr einen akzeptierten Spielraum in unserer Szene mehr für sie gibt.
 
Und diese Minderheit in unserer Szene findet sicherlich den Text bisherher für falsch oder übertrieben. Auch sie trifft irgendwann auf das brutale Urteil: Du bist mir zu alt! Die „Alte Tunte“, das ist der soziale Tod, der Ausschluss aus unserer Gemeinschaft.

Dieses Schicksal teilt ein zu dieser Minderheit in der Minderheit gehörender Mann mit der Hälfte aller Menschen: den Frauen, genauer: den heterosexuellen Frauen. Sie erhalten ihre erotische Wertschätzung in der Regel durch einen solcher heterosexueller Männer, der es gewöhnt ist, eine Frau als gleichaltrig zu empfinden, die mindestens 5 oder gar 10 Jahre jünger ist als er und als gleichgroß, wenn sie einen Kopf kleiner ist.
 
Heten-Männer um die 50 oder 60, so erfahren wir aus der Literatur und auch den volkstümlichen Stücken, haben einen sogenannten 2. Frühling, und der entschuldigt den wirklich enormen Altersunterschied zu ihren jungen Geliebten oder Ehefrauen der 2. oder 3. Ehe. Zurück bleiben Frauen, die den meisten Männern dann als „zu alt“ gelten.
 
So ist das also meistens zwischen Männern und Frauen und so ist das auch mit den älter gewordenen Schwulen, die den Mann suchen und nicht die Jungs. (Kinder, heut Abend, da such ich mir was aus, einen Mann, einen richtigen Mann. Kinder, die Jungs hängn mir schon zum Halse raus, ...). Einsamkeit überall, Vereinzelung, sehr oft auch Alkoholismus. Aber das ist kein Naturgesetz, sondern hat etwas mit den oben beschriebenen Träumen zu tun, die überall in der Werbung zu gesellschaftlichen Leitbildern erhoben werden. Es hat auch etwas mit den Strukturen unserer kommerziellen Szene zu tun.

Wenn du im Rheinland bist, gib acht auf den Jahrgang,“ heißt ein Schunkellied, das in Rüdesheim von angetrunkenen Männern und Frauen gesungen wird, „der Wein muss alt und jung das Mädchen sein,” singen Gruppen von Frauen des reiferen Jahrgangs, angeregt schunkelnd.
Für mich ändert die Frau mit sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren das Geschlecht; sie wird etwas anderes als eine Frau, sie wird etwas, das man nicht mehr begehrt.” Henry de Montherland
 
3. Unser Leben
Wie ist das eigentlich zwischen Frauen? Gibt es da auch das romantische Bild der unbeschwerte Jugend, das seine Faszination in Richtung auf ein erotisches Begehren lenkt? In der Literatur taucht das weibliche Anlehnungsbestreben an starke Persönlichkeiten auf, die Sehnsucht nach Geborgenheit durch eine starke Schulter zum Beispiel. Und außerdem: Geld macht geil, sagt Mann.

Gibt es für Frauen nicht auch den Wunsch, diese starke Schulter einmal einer jungen Frau zum Anlehnen zu bieten? Ist eine „Xena” denkbar, die einer „Gabrielle” die Schulter zum Anlehnen bietet und sie ansonsten auch gegen die böse Welt verteidigt? Vielleicht schon, beachten wir nur das Rollenspiel Butch und Femme, denn hier sind entweder herbe und weiche Frauen zusammen oder älteren und jüngere, wobei selbstverständlich die ältere die herbe spielt.
 
Hat die ältere und die herbe Frau auch Macht über die sanfte und/oder jüngere Frau? Das kann sicherlich so gradlienig nicht abgeleitet werden. Den Bullen am Nasenring führen, das gibt es hier schließlich auch, und äußere Erscheinungsformen bedeuten nicht, dass man hier von den Rollen der Heten auf uns schließen kann, und auch bei den Heten ist dies gelegentlich anders als erwartet.

In der Literatur taucht (bis auf einige Ausnahmen) zumeist die Sehnsucht nach Gleichheit und egalitäre Partnerschaft auf. Steckt hinter der Gleichheit die Sehnsucht nach Dominanz, wie die “Gleichaltrigkeit” in den Kontaktanzeigen der Männer den Wunsch nach einem Jüngeren verbirgt? Die Jugend einer Frau wird in der Literatur meist mit Hilfsbedürftigkeit gleichgesetzt, was sich aus der Mann-Frau-Literatur übertragen hat.
 
Vielleicht steckt hinter der Unterstellung der Schutzbedürftigkeit die Auffassung, dass in der Beziehung eines oder einer Älteren mit einer Jüngeren dieser noch die Erfahrung und Klugheit fehlt, ihre sexuelle Attraktivität auch zur Vergrößerung ihres Einflusses zu nutzen. Es gibt auf jeden Fall den Zusammenhang zwischen der Unterstellung, dass erstens die Jüngeren eher Opfer sind und zweitens aus dem (Aus)Nutzen der femininen Rolle Einfluss und das Abhängmachen durch sexuelle Atraktivität zu bewirken.

Wenn nun Frauen diese Annahme auf die Schwulenszene übertragen, dann ist dies vollkommen falsch. In Beziehungen und auch in der Szene sind die Jüngeren die verwöhnten Prinzchen, die mit ihren zumeist älteren Bewunderern sehr rüde umspringen und dies noch nicht einmal bemerken. Hier wäre eigentlich eher ein Grund, genauer hinzuschauen, denn verwöhnte Jugendliche gewöhnen sich an eine Sichtweise über die Älteren, die absolut unerträglich ist. In der Arbeitswelt fühlen sie sich als schwule Jungs diskriminiert, wenn sie so behandelt werden, wie Leute heutzutage in der Arbeitswelt behandelt werden. Ihre Maßstäbe sind verschoben.

Unser Leben ist vielfältiger und vielgestalteter, als es in den einfachen Klatschrunden auftaucht. Die Rollenbilder, nach denen wir die Welt beurteilen (sollen), sind uns anerzogen, unser eigenes reales Leben entspricht ihnen aber derart oft nicht (mehr), dass ihnen allzuoft nur noch ideologische Bedeutung zukommt.
 
4. Unser Tod
Wenn man einer/m Jugendlichen auf den Kopf zusagt, dass es dafür einfach noch zu jung sei, dann ärgert sich diese(r), denn die Ungeduld ist das Markenzeichen der Jugend. Jugendliche könnten darin Trost finden, dass jeder Mensch ja automatisch ständig älter wird, und dass man deshalb eigentlich ruhig abwarten kann. Etwas völlig anderes ist es aber, wenn man einem Menschen sagt, er sei für eine Sache zu alt, denn da niemand jünger wird ist dies das Todesurteil, das soziale Todesurteil.

Ein Mensch, dem man dies sagt, dem sagt man, dass er für immer, also endgültig von einer Sache ausgeschlossen ist. Ihr kennt sicherlich die Redensart: der ist für mich gestorben! In unserer Szene laufen viele Tote rum. Bevor der körperliche Verfall einsetzt, bevor der körperliche Tod sich in Ansätzen erahnen lässt, lange vorher schon ist ein schwuler Mann in unserer Szene tot. Bei lesbischen Frauen, behaupten manche Frauen, sei das nicht so. Es gibt also nicht die isolierten alkoholabhängigen Frauen?

Sicher ist, dass das lesbische Leben keiner solch großer Subkultur bedarf, denn vieles spielt sich in Paarbeziehungen oder Cliquen ab, die nie in der Szene auftauchen. Das bedeutet aber nicht, dass es die einsame alte Lesbe nicht gibt, sondern dass man sie nicht so oft vorfindet. Es gibt natürlich tatsächlich mehr einsame alte Frauen als einsame alte Männer, weil Männer früher sterben als Frauen. Dauernd unter Strom stehen, das verlangt eben seine Opfer. Unter den alten Frauen wird kaum jemand eine Umfrage starten, wer von ihnen lesbisch gelebt habe und nun einsam und isoliert ist. Oder interessiert es jemanden?

Sicher ist, dass schwule Männer eine größere Subkultur benötigen, weil sie als Männer immer auf der Suche nach Kontakten sind, auch dann, wenn sie in einer Beziehung leben. Deshalb fallen hier auch ältere Männer auf. Aufgrund der oben beschriebenen Konditionierung suchen Jugendliche unserer Szene nicht die Nähe Älterer, es sei denn, sie gehören zu der beschriebenen Minderheit oder sie versprechen sich materielle Vorteile davon.

Wer einmal beobachtet hat, mit welcher verachtenden Herablassung manchmal junge Stricher ihre älteren Freier behandeln, der kann den Vergleich mit der Prostitution von Frauen nicht aufrechterhalten. In der mannmännlichen Prostitution gilt der Freier als Täter, der sich an unschuldige Jungs ranmacht, und der Stricher als Opfer. Viele älteren Männer haben das Erlebnis des ausgeraubt, misshandelt Werdens, ja viele ältere Schwule werden Mordopfer durch jugendlichen Kriminelle, die gleichzeitig auch Stricher sind. In der Szene erzählte man sich folgenden Witz.

„Detlef (natürlich, alle Schwulen heißen in Witzen Detlef, sicherlich deshalb, weil die heterosexuellen Witzeerzähler diesen Namen so aussprechen können, wie sie behaupten, dass Schwule sprechen.) erzählt von einem Traum. Ihm träumte, dass er sich einen Stricher mit nach Hause genommen hat. Als er kurz ins Badezimmer geht, wird die Badezimmertüre von außen abgeschlossen.
 
Er muss durch die geschlossene Toilettentüre erleben, wie der Stricher auf der Straße wartende Freunde reinlässt, die gemeinsam die Wohnung durchwühlen. Verzweifelt ruft er durch die Türe: „aber lasst mir doch wenigstens die Briefe meines Freundes!“ „Sicher“, ruft ein Stricher zurück, schließlich ist das ja Ihr Traum!“

Wenn wir die Stricherszene mit der Hurenszene vergleichen, gilt festzuhalten, dass hier die Hure als Täterin gilt, die treusorgende Familienväter verführt, im Gegensatz zur Stricherszene, wo der Freier angeblich die unschuldigen jungen Stricher verführt. Und wenn es um Mord geht, sind nicht die Freier wie bei uns, sondern die Frauen dieses Berufes Opfer.

Der Versuch, sich ein wenig Lebensglück wenigstens zu erkaufen, ist mit großen persönlichen Risiken und schließlich oft doch nur einem schalen Geschmack verknüpft. Es geht jedoch für ältere Menschen unserer Szene nicht nur darum, noch ein Geschlechtsleben bis in höheres Alter zu haben, sondern darum, überhaupt noch soziale Kontakte mit gleichgesonnenen Menschen zu haben.
 
Irgendetwas aus der heterosexuellen Welt einfach damit gleichzustellen, ohne die Hintergründe und Zusammenhänge genau zu analysieren, bringt nichts. Aber wer ist schon an genauen Analysen interessiert, wenn er mit billigen Generalisierungen gegen andere Erfolge haben kann? Wer nicht mehr ausgeht, weil er dort aufgrund seines Alters nur noch geschnitten wird, wird schließlich nur noch im Hetenmillieu Achtung und menschliche Anerkennung erhalten können. Und auch dort ist es ja so, dass man ältere Menschen gerne abschiebt.

Das hat etwas mit dem Leistungsdenken unserer Gesellschaft zu tun. Man fühlt sich offensichtlich auch in der Freizeit nur dort wohl, wo Menschen mit ihren sozialen Stärkezeichen rumprotzen. Da möchte man nicht in den sitzengelassen Älteren seine eigen Zukunft vor Augen geführt bekommen. Und wer in unserer Gesellschaft gewöhnt ist, sich immer die besten Stücke rauszuschneiden, der wird versuchen, sich dort aufzuhalten, wo sich die Jugendlichen aufhalten, und sich dafür einsetzen, dass Ältere wegbleiben müssen, bis er selbst nicht mehr reingelassen wird.
 
5. Wir
Als ich die Zeitung „Nummer“, später die Zeitschrift LUST herausgab, hatte ich den Eindruck, ich könne durch Benennen von Missständen dazu beitragen, dass wir in unserer Szene, weil wir doch irgendwie eine Gemeinschaft sind, bessere und menschlichere Lösungen erreichen. Mir war klar, dass wir, wenn wir solche Themen den verlogenen EhemoralistInnen und JugendschützerInnen überlassen, uns selbst gegen das Schienbein treten. „Aufklärung“ war der Trend in der 60er Jahren, verknüpft mit Wissbegier und gegenseitigem sozialen Wohlwollen. Das ist schon sehr lange her.

Die Leute unserer heutigen Szene, die sich in brutaler Menschenverachtung die besten Stücke rausschneiden wollten, sehen in allem Sozialen, für das sich andere einsetzen, eine Konkurrenz und überlegen sich, wo der Vorteil im sozialen Engagement liegen könnte. Jedenfalls wollen sie nicht an Alterseinsamkeit, soziale Missstände usw. erinnert werden, wollen mit einer bunten Plastikwelt den Schaden zudecken, den sie selbst anrichteten. Der Bote, der die schlechte Nachricht brachte, wurde im alten Griechenland geköpft, so erzählt man wenigstens.

„Denn wer kein Unrecht duldet, wie soll der geduldet werden ...” (B. Brecht in „Die sieben Todsünden der Kleinbürger”)
Die schwule Bewegung hat in der Frage ihrer eigenen Ausgrenzungen und der Frage der besseren Lebensgestaltung nur noch Szenecharakter, Konkurrenz tritt an die Stelle der Solidarität. Die Bewegung ist einfach abgekippt.

So richtig angefangen hat das Verhängnis der Generationsspaltung nach meinen Beobachtungen in der Bewegung mit der Gründung von schwulen Jugendgruppen, wo relativ junge Schwule den Einfluss anderer älterer Schwuler verhindern wollten, so selbst zu Platzhirschen wurden und ziemlich schnell erleben mussten, dass auch sie selbst ausgegrenzt wurden. Und so wurden die 68er Sozialromantiker ziemlich schnell aus Schlüsselpositionen verdrängt, von jungen Schwulen, die noch jüngere suchten.

Die bewegten älteren Schwulen haben ihr eigenes Coming-out dadurch schaffen können, dass sie aufhörten, ihre Ausgrenzung und Diskriminierung auf ihre Homosexualität zurückzuführen, wie etwa eine akzeptierte Strafe, und dass sie stattdessen begannen, die gesellschaftlichen Normen, die Normalität überhaupt und den Zwang zur Anpassung daran als Ursache ihres Leidens anzusehen. Religion; Ehe; Strafgesetze, also der Staat, konservative Mitmenschen, dies alles musste misstrauisch und distanziert gesehen werden, damit ein schuldgefühlfreies und deshalb erfülltes Leben möglich wurde.

Die von dieser normenkritischen Selbstbehauptungs-Identität abgenabelten jugendlichen Schwulen haben diesen Coming-out-Weg selbst nicht gemacht, weil er aufgrund der heutigen Situation für die eigene Identität weniger notwendig erscheint. Sie möchten schwul und normal gleichzeitig sein und ärgern sich über die Alten, die ihre Idylle der heilige Normalität, in der sie sich einrichten wollen, zerstören wollen. Zum Generationenwchsel kommt also der Paradigmenwechsel hinzu.

Unser 84jährige Freund allerdings meint, dass er das auch erlebt hat, schon früher, dass also in der Szene so lange er sich erinnern könne, ältere Schwule ausgegrenzt wurden. Beides ist wohl richtig: der bewusste Generationswechsel durch Gründung von Jugendgruppen, wo Ältere nicht reindurften, der auch ideologisch in seiner Hinwendung zu konservativen Werten vollzogen wurde, und der Sehnsucht nach Jugendlichkeit, die es wohl schon lange gibt, in einer Szene selbstverständlich älter werdender Schwuler.

Man spricht vom Paradigmenwechsel der Bewegung: vom 68er Weltverbesserer zum gewinnorientierten Gay-Manager, vom Pazifisten zur Bundeswehrkarriere. Von der Emanzipation, der krtitischen Kompetenz des distanzierten Betrachtens gesellschaftlicher Vorgaben, Normen und Werten hin zum Kampf um Integration in die Strukturen bestehender gesellschaftlicher Zwänge.

Erfahrungen der Älteren sind in einer Jugendkultszene nichts wert, und so können auch aus den schon erarbeiteten Erkenntnissen keine Lehren gezogen werden. Der kleine Gernegroß dominiert die Szene und die Ideologie der Szene. Und all die Jugendliebhaber unterstützen ihn darin, zu ihrem und zum eigenen Nachteil.
 
6. Andere
Da es in der Lesbenszene mehr auf Partnerschaft von Dauer ankommt als in der Schwulenszene, obwohl das von Schwulen auch angestrebt und behauptet wird, treten die altersausgrenzenden Mechanismen hier nicht so offensichtlich auf. Sie sind aber durchaus vorhanden. Man wird zusammen älter. Unter Schwulen gibt es noch das Phänomen, dass Paare ältere Schwuler zusammen ausgehen, um junge Männer kennenzulernen, die sie dann zusammen oder jeder für sich genießen wollen.
 
Natürlich ist letztlich bei Lesben, Schwulen und sicher auch bei Heten oft die Einsicht in die Notwendigkeit vorhanden, die Notwendigkeit bescheiden zu werden, weil es nicht anders geht: die erzwungene Lösung also. Oder gibt es im heterosexuellen Bereich für die Männer und Frauen, die Sehnsucht nach jüngeren Frauen und Männer haben, bessere Möglichkeiten, sich zu erfüllen?

Bei genauem Licht betrachtet ist dies nicht so. Auch hier lässt sich zum Beispiel beobachten, dass wohlhabende und/oder prominente Frauen immer häufiger mit deutlich jüngeren Männern auftreten, was früher sicherlich in der Öffentlichkeit nicht so oft vorkam, denn dieses Rollenspiel war damals eigentlich nur dem Manne vorbehalten, der ganz andere gesellschaftliche Möglichkeiten hatte, sich dies zu erfüllen.

In der Sendung Mann-O-Mann, die vor Jahren in Sat1 gezeigt wurde, entlarvte sich das starre Rollenbild sehr deutlich. Männer mussten zeigen, was sie konnten und hatten. Sie mussten singen, sportliche Übungen machen, Flirtszenen spielen, auf dumme Fragen kluge Antworten geben usw. Frauen waren das Publikum. Wer durch anonymen Knopfdruck der Frauen abgewählt wurde, wer also durchfiel, wurde von hübschen, leicht bekleideten Damen ins Wasser eines Pools gestoßen und musste gute Mine zu diesem bösen Spiel machen.
 
Es zeigte sich, dass Intelligenz, Unterhaltsamkeit, Sportlichkeit, Musikalität usw. überhaupt keine Rolle spielten, es war der jüngste Mann mit dem knabenhaftesten oftmals hilflos wirkenden Verhalten, der jedes Mal übrigblieb. Er mochte scheußlich gesungen haben, das wurde ihm verziehen, denn das war ja so süß, während bei den Älteren ein einziger falscher Ton, so wurde es später begründet, den Ausschlag gegeben haben soll. Also verhalten sich Frauen, wenn sie können, wie sie wollen, ganz genau so wie die Männer?

LeserInnen dieses Artikels werden sich ärgern, dass ich hier keine gute Lösung für die Erfüllung ihrer Sehnsucht bieten kann. Manche werden sich ärgern, dass von ihnen hier Anpassung verlangt wird, dass also letztlich auch auf sie die Ausgrenzung zukommt. Ältere heterosexuelle Männer und Frauen in den Heimen sehnen sich nach dem Besuch ihrer Kinder, die immer seltener Zeit und Interesse haben, zu kommen. Das ist möglicherweise das gleiche Phänomen vor einer anderen Kulisse. Die Sprüche junger Menschen: sollen sie doch mit den anderen Alten zusammen was machen, sind keine Lösung, weil Menschen wohl so nicht zu sein scheinen. Sie benötigen Anregung von Menschen unterschiedlichen Alters.

Auch die älteren Menschen wollen nicht ständig mit Älteren zusammensein, wie die jungen Leute, die den Vorschlag der Altengemeinschaft machen, um sich nicht mit älteren Leuten und dieser Frage auseinandersetzen zu müssen. Es bleibt doch die traurige Erkenntnis, dass oftmals lediglich deshalb ältere Menschen nicht einsam sind, weil Jüngere aus irgendeinem Grund die Verpflichtung empfinden, sie nicht alleine zu lassen, und nicht deshalb, weil ihnen dies so sehr viel gibt.

Würde niemand aus Altersgründen ausgegrenzt, hätten wir vielleicht in allen Fragen Kontakte mit Menschen (jeden Alters). Aber unsere Gesellschaft hat die Trennung der Menschen nach dem Gesichtspunkt des Alters gleich hinter die Trennung nach Geschlechtern zur Grundlage. Kinder werden in altersgleiche Kinderkrippen, in Kindergärten, in Schulklassen gestopft, von klein auf lernen sie, sich in der gleichen Altersgruppe untereinander zu orientieren und andere Altersgruppen als fremd zu empfinden.
 
Alte Leute sagen oft, dass sie immer einsamer werden, weil die Leute, die sie kennen, immer mehr wegsterben. Es sind dies Menschen der gleichen Altersgruppe.

Dieser widernatürliche Zustand des Trennens der Menschen in Altersgruppen, der wirtschaftlich und gesellschaftlich natürlich Sinn macht, schafft wohl dieses ganze Elend in einer Leistungsgesellschaft, in der der Mensch von allem Menschlichen frei zu sein hat, um für Arbeit in Diensten anderer möglichst uneingeschränkt da sein zu können, zum Beispiel zum Zweck der Lohnarbeit. Da ist es nur folgerichtig, dass auch das erotische Erwerben von Jugendlichkeit nicht ohne Gegenleistung geschieht und etwas mit Lohnarbeit zu tun hat.

Die Sehnsucht nach der Jugendlichkeit scheint Folge der geellschftlichen Strukturen zu sein, die uns geprägt haben und die wir in unseren Sehnsüchten und unserem Verhalten mitprägen. Deshalb kann es eine befriedigende Lösung in dieser Frage für uns nicht geben. (Joachim Schönert)
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