63. LUST, Dezember00/Januar01
 
Achim Schmitz
Linke und ihr gestörtes Verhältnis zur Religion
In den letzten Ausgaben der LUST waren einige Beiträge zur Auseinandersetzung mit lesben- und schwulenfeindlichen Tendenzen in religiösen Gemeinschaften (v.a. Sekten und Kirchen) zu lesen. Auch wenn ich die Problematik sehe, so ist es mir ein Anliegen, auch unter linken Lesben und Schwulen das Thema “Religion” ein wenig differenzierter zu betrachten, als es in linken Diskursen sehr oft üblich ist. Deshalb danke ich Joachim für seinen Vorschlag, zu diesem Thema zu schreiben und rege eine Diskussion zu diesem Thema an.

Unvereinbarkeit?
Linke (1) und Religion - passt das überhaupt zusammen? Und Homosexualität und Religion - das passt doch meistens auch nicht. Aufgrund vieler verletzender Erfahrungen mit Bevormundung, repressiver Moral, Ausgrenzung bestimmter sozialer Gruppen und sogar Kriegen im „Namen Gottes”(2) liegt die Vermutung nahe, daß sich Religion grundsätzlich nicht mit emanzipatorischen Ansprüchen verträgt. Die diffamierende antihomosexuelle Hetze in römisch-katholischen Stellungnahmen wie zuletzt von Erzbischof Dyba („importierte Lustknaben”) kurz vor seinem Tod und die ebenso schlimmen Reaktionen auf das Theaterstück „Corpus Christi” sowie einige Sekten, die für uns beten, liefern reaktionären und rechtsextremistischen Kräften weitere „Munition” für Vorurteile, Diskriminierungen und Gewalt gegen Lesben und Schwule.
 
Zwei Gottesbilder
1. Für derartige menschenverachtenden Stellungnahmen und Verbrechen ist meiner Ansicht nach ein autoritäres Gottesbild mitverantwortlich, das insbesondere von religiösen Eliten und den Menschen vertreten wird, die von diesen (psychisch) abhängig sind. Im Sinne der bürokratischen Amtskirche existiert das Bild des allmächtigen, gerecht strafenden Gottes. So habe ich es in meiner Kindheit gelernt: Gott wurde als autoritärer Richter vermittelt, der beim „Jüngsten Gericht” die „bösen” Menschen bestraft und die „guten” Menschen belohnt. Die damit verbundene neurotisierende Angst vor Strafe führt bei vielen Menschen zu einem übertriebenen Leistungsstreben, das auch ins kapitalistische System mit Verwertungsideologie und Entfremdung passt.

2. Das emanzipatorische Gottesbild handelt von einem bedingungslos liebenden Gott, der keine Macht über Menschen ausübt, sondern allen ihre Freiheit lässt. So habe ich es in den achtziger Jahren von einem Pfarrer gelernt, der sich zudem im Sinne der Friedensbewegung gegen die atomare Aufrüstung und für Kriegsdienstverweigerung aussprach. Nach diesem Gottesbild schränkte Gott „seine Allmacht ein und gab seiner Schöpfung Gesetze, nach denen sie sich selbst entfalten, verändern, aufbauen und umbauen konnte. Und er schwor, diese Gesetze nicht umzustoßen.” (4)

Der Glaube an einen bedingungslos liebenden Gott kann eine Kraftquelle für emanzipatorisches Handeln von linken Lesben und Schwulen sein. Unter emanzipatorischen Aspekten halte ich es für wichtig, sich von einem Gottesbild mit einem allmächtigen und herrschenden Gott zu verabschieden. Entscheidend ist für mich die Kommunikation mit einem bedingungslos liebenden Gott, dem das Schicksal seiner Schöpfung nicht gleichgültig ist und der einen Anstoß für Befreiung geben kann. Heribert Fischedick beschreibt mit Hilfe der tiefen psychologischen Deutungsmethode den Weg der Selbstwerdung und Befreiung des Menschen von Fremdbestimmung am Beispiel der biblischen Exodus-Geschichte vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten: „Ja, Gott ist gar nicht anders als auf dem Weg zu erfahren, jede Gotteserfahrung reißt aus dem Gewohnten und Vertrauten heraus, um in Bewegung zu bringen; eine Bewegung, die emanzipatorisch ist, weil sie aus Unfreiheit in die Freiheit führen will.” (5)

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, wie notwendig es sein kann, sich von der Altlast einer repressiv-konservativen religiösen Sozialisation zu befreien. Das muss aber nicht zwangsläufig zu einer atheistischen Einstellung führen.

Befreiungstheologie
Die v.a. in Lateinamerika von einigen bekannten Persönlichkeiten (Ernesto Cardenal, Paulo Freire, Leonardo Boff, Dom Helder Camara, Paulo Evaristo Arns, Gustavo Gutierrez) vertretene Bewegung zielt auf eine Systemüberwindung mit politischen und pädagogischen Methoden ab: “Im Unterschied zur staatlichen Entwicklungspolitik, die oft von oben verordnet wird, geht die Veränderung im Sinne der Befreiungsethik von den Betroffenen, den Basisgruppen aus. (...) Denn der lange persönliche Kontakt mit den Unterdrückten hat gezeigt, dass bei den Betroffenen ein Bewusstsein für ihre Situation geschaffen werden kann und muss. Es muss also nach dem Bewusstsein der Betroffenen über ihre Situation gefragt werden. Wie jeder Mensch haben sie das Bedürfnis nach Freiheit, Selbstverwirklichung und menschlichen Lebensbedingungen.” (6)

Das Gottesbild der Befreiungstheologen ist nicht hierarchisch und paternalistisch, sondern emanzipatorisch. Nach diesem Ansatz ist Gott eindeutig auf der Seite aller Armen und Ausgebeuteten, die für eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse kämpfen.
 
Selbstorganisation und soziale Gerechtigkeit wird angestrebt in konkreten Beispielen wie Produktionsgemeinschaften; Ernesto Cardenal dokumentiert das Zusammenleben mit Bauern und Fischern in „Das Evangelium der Bauern von Solentiname”. Die Befreiungstheologie kann auch als Impulsgeberin für Befreiungsbewegungen in anderen, auch reicheren Regionen angesehen werden, so z.B. für die Ökologie-, Friedens- und Frauenbewegung, vielleicht auch für eine emanzipatorische Lesben- und Schwulenbewegung. Sie kann auch das Bewusstsein für die Not von Wohnsitzlosen, Flüchtlingen, Behinderten, usw. auch in der Bundesrepublik schärfen.
 
Christliche Kirchenkritik
Der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann kritisiert die Kirchen, denen die Mitglieder verloren gehen:
„Die Kirche als beamtete Institution tut nicht, was Jesus wollte und was die Menschen brauchen - das ist der allgemeine Eindruck; sie verwaltet im wesentlichen nur noch sich selbst, vor allem ihre beachtlichen Immobilien und Ländereien; sie redet eine unverständlich gewordene Sprache; ihre ‚Gottesdienste‘ beeindrucken als feierlich kostümierte Langeweile; und nicht zuletzt: Die Kirche scheint zu einer anonymen Behörde entartet, die sich eher an großen Mitgliederzahlen als an den Nöten und Fragen der einzelnen interessiert zeigt.
 
Mit ihren fertigen dogmatischen Formeln, ausgefeilt in Jahrhunderten, verfügt sie nicht mehr über die Kraft, Menschen in den entscheidenden Fragen des Lebens Halt und Orientierung zu geben.” (7) Drewermann äußerte in verschiedenen Büchern Kritik an Teilen im Christentum, z.B. „Der Krieg und das Christentum” „Der tödliche Fortschritt” und „Kleriker. Psychogramm eines Ideals”. Er kritisierte aber auch Kriegspolitik, Abschiebung von Flüchtlingen und Grausamkeiten gegen Tiere (gerade im Christentum). Im Oktober 1991 wurde Drewermann die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen; im Januar 1992 wurde ihm sogar die Predigterlaubnis entzogen. Bereits 1956 erfuhr er, wie sich die römisch-katholische Amtskirche entgegen seiner Auffassung, die ich dem emanzipatorischen Gottesbild zuordnen würde, verhielt: Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde dort abgelehnt.
 
Christliche Akteure sozialer Bewegungen
Es gibt zahlreiche Gruppen von linken, pazifistischen und homosexuellen ChristInnen: Dazu zählen einige christliche Friedensorganisationen (z.B. Ohne Rüstung Leben, Pax Christi, Versöhnungsbund, Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, EIRENE), studentische und basisorientierte christliche Gruppen (z.B. Evangelische StudentInnengemeinde, Katholische Hochschulgemeinde, Initiative Kirche von unten), christliche Lesben- und Schwulengruppen (z.B. Homosexuelle und Kirche, Metropolitan Community Church). Inwieweit diese Gruppen emanzipatorisch aktiv sind oder sich zum Teil vielleicht sogar den Autoritäten anbiedern, um kleine und evtl. unbedeutende Reformen zu erreichen, habe ich jetzt nicht im einzelnen geprüft.
 
Es geht mir hier nur darum, das breite Spektrum auch im christlichen Bereich kurz darzustellen und darauf hinzuweisen, dass dazu nicht nur die reaktionären Eliten und Sekten gehören, sondern auch die basisorientierten Gruppen. Unter emanzipatorischen Gesichtspunkten ist mir das „Empowerment” (8) dieser Gruppen wichtig, sowohl innerhalb der Religion als auch gesamtgesellschaftlich.
 
Abschließende Gedanken
Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Aufsatzes sind mir auch folgende Gedanken wichtig:
- Es geht nicht um selbstlose Moral, wie sie in christlichen Kreisen oft gepredigt wird. In dem Prinzip „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” ist die Selbstliebe als ebenso wichtig genannt wie die Nächstenliebe (in linken Zusammenhängen wohl eher als „Solidarität” bezeichnet). Ich finde es sogar wichtig, sich selbst zu lieben, als Voraussetzung, um andere zu lieben. Außer der Selbstverwirklichung ist aber soziale Gerechtigkeit genauso wichtig.

- Der selbstbestimmte Glaube ist von der (sehr oft repressiven) Institution „Kirche” und auch von (ebenso bedenklichen) Sekten zu unterscheiden. Auf die in der Linken weitverbreitete Esoterik-Kritik möchte ich hier nicht näher eingehen. Wenn aber der Begriff „Spiritualität” („Geistigkeit”) auftaucht, muß es nicht immer um „Psycho-Sekten” gehen. Es geht mir darum, dass der Mensch m.E. nicht nur körperliches, sondern auch geistiges Wesen ist. Der anarchistische und sozialistische Marxismus-Kritiker Gustav Landauer (1870-1919) setzte der materialistischen Geschichtsauffassung einen Geist-Begriff entgegen: „‘Geist‘ ist die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, ist Verbindung und Freiheit.” (9) Der „utopische” Sozialist Landauer setzte sich vom „wissenschaftlichen” Sozialismus ab, bezeichnete den Marxismus als „Geistlosigkeit” und kritisierte an der materialistischen Geschichtsauffassung, dass sie keinen Raum für Idealismus habe und aus ProletarierInnen „feigherzige Leutchen ohne Jugend, ohne Wildheit, ohne Wagemut, ohne Lust am Versuchen, ohne Sektierertum (sic!), ohne Ketzerei, ohne Originalität und Absonderung” gemacht hätte. (10)

- Der Sinn eines Glaubens erschließt sich im Handeln in dieser Welt; er ist also nicht auf Vertröstung auf ein besseres Jenseits ausgerichtet. Nach Landauer kann sozialistisches “Beginnen” nicht auf eine in einer fernen Zukunft liegenden Revolution warten, sondern die Revolution muss aktiv durch sozialistisches Beginnen eingeleitet werden. (11) Er schlug vor, anfangs im Kleinen zu beginnen, indem mehrere Menschen Konsumgenossenschaften gründen, größere Geldsummen zusammenlegen und damit Landstücke und Gebäude kaufen, um sie zu besiedeln.

- Kann der Glaube aber rational verantwortet werden? An die nicht zu beweisende oder zu widerlegende Existenz Gottes lässt sich nach dem Schweizer Theologen Hans Küng im Sinne eines Grundvertrauens glauben:

„Eine innere Rationalität vielmehr, die eine grundlegende Gewißheit gewähren kann: Im Vollzug, durch die „Praxis” des wagenden Vertrauens zu Gottes Wirklichkeit, erfährt der Mensch bei aller Anfechtung durch Zweifel die Vernünftigkeit seines Vertrauens: gegründet in einer letzten Identität, Sinn- und Werthaftigkeit der Wirklichkeit, in ihrem Urgrund, Ursinn, Urwert.” (12) Das bedeutet für mich, dass niemand anders mir vorschreiben kann, was ich für vernünftig zu halten habe, sondern dass ich selbst lernen kann, auf das zu vertrauen, was mir Halt und Orientierung gibt. Auch dieser Gedanke ist eine Absage an Fremdbestimmung.
 
Achim Schmitz ist an gewaltfreiem Anarchismus, an emanzipatorischer Schwulen- und Friedenspolitik und an religiösen Fragen interessierter Nicht-Theologe. Für unser 2. NUMMER-Magazin schrieb er den Beitrag „Schwule Soldaten: Patriarchale und uniformierte Unmenschlichkeit als Emanzipation?”
 
Anmerkungen:
(1) Seit der Französischen Revolution steht “links” für bürgerliche “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” (besser: Geschwisterlichkeit), also auch für emanzipatorische Ansprüche. Vgl. dazu Schmitt, Hermann: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. In: Mintzel/Oberreuter Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 1992, S. 139 f.

(2) Unter dem Stichwort “Gott” schreibt Meyers großes Taschenlexikon (1992): “in der Religionsgeschichte heilige, übersinnliche, transzendente und unendliche Macht in personaler Gestalt, die als Schöpfer Ursache allen Naturgeschehens ist, das Schicksal der Menschen lenkt und die normative Größe für deren sittliches Verhalten darstellt.”

(3) Oder eine Göttin oder mehrere Göttinnen/Götter oder ein göttliches Prinzip; der Einfachheit halber spreche ich im folgenden von “Gott”, da ich dazu den besten Zugang finde. Ich befürworte auch keine christliche Vorherrschaft über andere Weltanschauungen, auch wenn ich in diesem Aufsatz nicht auf diese eingehe.

(4) Frör, Hans: Ich will von Gott erzählen wie von einem Menschen, den ich liebe. 7. Aufl. München: Kaiser,1988, S. 8.

(5) Fischedick, Heribert: Von einem, der auszog, das Leben zu lernen. Glaube und Selbstwerdung. München: Kösel, 1987, S. 29.

(6) Bender, Dominik: Kultur des Schweigens - Befreiungstheologie. In: http://www.rz.uni-frankturt.de/~dbender/ologie.htm, S. 2 (ausgedruckt am 27.10.2000).

(7) Drewermann, Eugen: Die Kirchen versagen; die Sekten gedeihen. Wie die Splitter eines zerbrochenen Kirchenfensters. Bizarrer Wunderglaube und aberwitziger Fundamentalismus vertreiben die Gläubigen aus den Gotteshäusern. In: http://www.religio.de/drewer.html, S. 1 (ausgedruckt am 27.10.2000)

(8) Die Wurzeln des Terminus “Empowerment” entstammen unterschiedlichen sozialen Bereichen: der Stärkung gemeinschaftlicher Potentiale als Grundlage einer solidarischeren Gesellschaft, den Erfahrungen der Selbsthilfebewegung und der neuen sozialen Bewegungen (Ökologie-, Frauen-, Friedensbewegung usw.) und den Forschungen zu Bedingungen, Strukturen, Chancen und Grenzen sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützungssysteme (social support). Vgl. dazu Galuske, Michael: Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Mannheim/Weinheim: Juventa-Verlag 1998, S. 229.

(9) Braun, Bernhard: Die Siedlung: der Beginn des Sozialismus. Gesellschaftskritik, Siedlung, Utopie bei Gustav Landauer. In: Delf, Hanna/Mattenklott, Gert (Hrsg.): Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer, 1997, S. 192.

(10) Landauer, Gustav: Aufruf zum Sozialismus. Erstmals erschienen 1911. 1. Auflage im Verlag Büchse der Pandora, Wetzlar, 1978, S. 45.

(11) Braun, a.a.O., S. 194.

(12) Küng, Hans: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit. 3. Aufl., München: Piper, 1995, S. 630.
 
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