63. Ausgabe Dezember00/Januar01
 
DieDeutsche Leitkultur
Da haben wir es also, das Wahlkampfthema der Bundestagswahlen 2002, mit dem die Union wieder den Kanzler stellen will. Die „Leitkultur in Deutschland”, wie die unterdessen etwas entschärfte Version dieses Kampfbegriffes lautet.

In diesem Wort steckt der Begriff „Leiten” und der Begriff „Kultur“. Und dass die Union weiterhin den Begriff „Deutsche Leitkultur” meint, wenn sie neuerdings „Leitkultur in Deutschland” sagt, wissen wir spätestens seit der Koch-Hessenwahl, wo man gegen die erleichterte Staatsbürgeschaft für Ausländer war, und zwar mit Hilfe eines „Ausländerintegrationsgesetzes”.
 
Es kommt also nicht auf den Begriff an, den man wählt, um einerseits scharfzumachen und andererseits dem politischen Gegner wenig Angriffspunkte zu geben, sondern es geht um den Geist, der dem Begriff innewohnt, der intendiert ist und der in der Lage ist, Verhaltensweisen stillschweigend zu bestätigen, die man andererseits mit Krokodilstränen in den Augen beklagt. Und was der Geist der Begrifflichkeit „Deutsche Leitkultur“ ist, das will ich nun näher untersuchen.

Was ist eigentlich Kultur? Es ist (lt. cultura, Bearbeitung des Ackers, geistige Pflege, Ausbildung) die Gesamtheit der geistigen (Wissenschaft, Kunst, Ethik, Religion, Sprache, Erziehung), sozialen (Politik, Gesellschaft) und materiellen (Technik, Wirtschaft) Formen der Lebensäußerungen der Menschheit, mit denen diese die eigen Umwelt hervorbringt und die menschliche Natur fortentwickelt, veredelt und überschreitet (Meyers Taschenlexikon in 24 Bänden). Kultur ist also das, was Menschen über das Natürliche hinaus errichtet haben.

Da haben wir in den modernen Industriestaaten kulturelle Standarts, die sich immer mehr annähern, während besonders in den armen Ländern noch traditionelle kulturelle Unterschiede zur Geltung kommen, Beispielweise die Unterdrückung der Frauen in den klerikalfaschichtischen Staaten, das Kastensystem, wo man von Geburt aus zum Dienen verurteilt wird, offene Formen der Sklaverei usw.

Was ist nun das speziell „Deutsche” an dieser „Lebensäußerung der Menschheit”? Wozu sollen ZuwanderInnen angeleitet werden, die von der Wirtschaft gerufen werden und die, glaubt man den politischen und wirtschaftlichen Autoritäten, auch zum Weiterentwickeln „unserer” Wirtschaft unabdingbar sind? Werden die deutschen Anteile an die „Wissenschaft, Ethik, Religion, Sprache, Erziehung der Menschheit” durch solche repräsentiert, die sich ermutigt fühlen, andere Menschen zu diskriminieren, verfolgen und zu ermorden, weil sie aus einer „anderen Kultur” seien, weil sie „Fremde” seien?

Ich sehe das so, dass den nationalistischen (oder in anderen Ländern religiös-fundamentalistischen) Verfolgern von Menschen die oben definierte Kultur ziemlich fremd ist. Ich meine, dass die Systeme, die sie errichtet haben, genau das Gegenteil von Kultur sind. Das massenhafte Ermorden von Menschen, weil sie eine andere Haut- oder Augenfarbe haben, weil sie eine andere religiöse Vortsellung haben oder anders sprechen, das ist das Gegenteil von einer Kultur. Und die TäterInnen berufen sich auch gar nicht auf Kultur, also was Menschen über die Natur hinaus geschaffen haben, sondern auf die Natur, auf Gene und Veranlagung, auf Biologie wie Rasse usw. Das ist zwar noch absurder, belegt aber nur ihre selbsteingestandene Unkultur, die sie auch „Kultur” nennen.

Traditionen seien „das Deutsche“ an der Kultur? Was aber sind deutsche Traditionen? Geht es um die sogenannten deutschen Volkstänze und die volkstümliche Musik? Die liegen mir nun tatsächlich nicht. Werde ich deshalb aus der „Deutschen Leitkultur” ausgeschlossen? Was ist denn traditionell in Deutschland? Beruft man sich da auf das deutsche Kaiserreich oder die Weimarer Republik, auf den deutschen Nazistaat oder die Bundesrepublik? Gehören die „Lieder der Arbeiterklasse” aus der Arbeiterbewegung zur deutschen Volksmusik oder nur die eher rechtsgerichteten Lieder? Oder diese eben gerade nicht?

2/3 der Jugendlichen glauben, dass der Döner ein deutsches Gericht sei. Wieviele glauben das von dem Hamburger? Die Pizza kommt nicht aus Italien, wie viele Menschen vielleicht galuben, sondern aus den USA. Was ist eigentlich fremd und was ist vertraut?
Ehrlich gesagt, mir ist ein schwuler Inder, Türke oder Bulgare nicht so fremd. Er hat sich in seinem Herkunftsland wie wir auch hier mit den gleichen Idioten auseinanderzusetzen gehabt wie ich. Und im Bett verstehen wir uns auch besser miteinander als mit einer deutschen Hete. Andererseits ist mir ein deutscher Schwulenschläger genauso fremd wie ein türkischer Schwulenschläger. Soll ich mich nun mit dem deutschen Schulenschläger identifizieren, weil er ein Deutscher ist, und sein vielleicht türkisches Opfer für fremd empfinden? Was ist eigentlich Fremdenfeindlichkeit?

Menschen, die in die Bundesrepublik Deutschland einwandern, müssen sich einem gewissen kulturellen Standart anpassen? Welchem Standart? Sollen sie ihre religiöse Überzeugung nun für falsch halten, ihre Ernährungsgewohnheiten auf Sauerkraut umstellen, ihre Kleidung in Dirndl und Lederhosen umwandeln? Andererseits, geht es ohne gesllschaftliche Standarts?

Etwas erwarte ich von den EinwanderInnen, wie ich es von den Einheimischen auch erwarte: nämlich die erreichten emanzipatorischen Schritte zu akzeptieren, etwa wie die, dass es nicht das Recht das Ehemannes ist, „seine” Frau zu verprügeln, dass es aber das Recht jeder Einwohnerin und jedes Einwohners dieses Landes ist, die Partnerschaftsform mit dem Menschen zu wählen, die man will. Das ist noch mühselig im bayrischen oder hessischen Hinterland, doch ist da in vielen Bereichen die Gesetzgebung unterdessen auf unserer Seite. Auf die Gesetze können wir uns zumindest derzeit berufen. Und auf die kann sich auch die lesbische Tochter einer islamischen Familie berufen, die hier lebt. Auch wenn es in den Heimatländern noch die Tradition gibt, die Tochter schon als Kind zu verheiraten. Die Mädchen an ihrem Geschlechtsorgan zu verstümmeln, das darf in der Bundesrepublik Deutschland genauso nicht mehr sein, wie es hier auch derzeit nicht mehr möglich ist, den schwulen Sohn in eine Irrenanstalt einzuweisen oder seinen ersten Freund ins Gefängnis oder gar ein Konzentrationslager einweisen zu lassen.

Wenn wir bei solchen Themen nach einer deutschen Kultur oder Tradition forschen würden, an die sich die Neubürger halten sollen, müssten wir uns schamhaft verstecken. Es gibt sehr wenig Beispiele in unserer Geschichte, in denen es „traditionell” um unsere persönliche Freiheit geht, und die deutschen Traditionalisten sind eigentlich eher nicht auf der Seite der Emanzipation zu finden. Bebstenfalls als Krankheit ließen sie einiges durchgehen, und zwar nur dann, wenn die Betroffenen gesellschftlich isoliert werden, damit sie niemanden „anstecken” können.

Wenn irgendwelche Machthaber oder Politiker etwas von uns wollen, was uns nur Nachteile bringt, unsere Freiheit einschränkt oder uns sogar unterdrückt, dann können sie das ja nicht mit Demokartie begründen, auch nicht mit den Vorteilen, die das für uns hätte. Dann wird das mit Religion, Tradition oder Nation begründet, vielleicht noch mit den angeblichen Anlagen. Das soll dann wie ein ewiges Naturgesetz wirken, gegen das es keinen Widerspruch gibt.

Deutsche Leitkultur, damit können mir gerade die Leute gestohlen bleiben, die diesen Begriff neu nutzen wollen. Die Parteiführer der Union, die dieses Wort für ihre Auseinandersetzung mit den anderen politischen Kräften in unserem Lande nutzen wollen, spielen sich hier als eine Instanz auf, die an ihr wie immer geartetes Recht glaubt, anderen Menschen kulturelle und moralische Zensuren zu erteilen.
Von genau diesen Leuten lasse ich mich aber nicht moralisch belehren. Sie könnten mich allerdings mit Gewalt „belehren”, wie sie es schon taten. Nach der Neugründung der Bundresrepublik hat die CDU/CSU/FDP-Koalition den Naziparagraph gegen männliche Homosexualität weiter bestehen lassen, was zur Verurteilung zahlreicher homosexueller Männer führte. Die Polizei überwachte die Orte, die als Treffpunkte entdeckt waren und führte sogenannte „Rosa Listen”, denn Männer mit homosexueller Identität waren ja „potenzielle Kriminelle”, das heißt, sie könnten Sex miteinander haben. Schwule Männer taten dabei nichts anderes als das, was sich die Damen und Herren dieser Parteien selbst für selbstverständlich erlaubten, weil dies ja „normal” sei. Was aber die Schwulen machen, sei abartig, sei „widernatürliche Unzucht” usw.

Abgesehen davon, dass in der traditionellen „deutschen Leitkultur” Zucht (wie z.B. Zuchthaus) als ein positiver Begriff gilt, Unzucht als negativ bewertet wird, habe ich (politisch gesehen) nicht die Absicht, im angedachten „Zuchthaus Deutschland” leben zu wollen. Darauf können sich die Damen und Herren der entsprechenden Parteien verlassen. Und ich glaube, dass es viele LeserInnen unserer Zeitschrift gibt, die das ebenso sehen. Peinlich für uns in unserer Szene ist, dass es hier auch eine Menge Leute gibt, die gar nichts dabei finden, wenn solche politische Kräfte in solche Hörner tuten. Einige finden das sogar sehr schön. Aber auch das hat ja in der Geschichte dieses Landes seine Entsprechung und gehört wohl eher zu seiner Leid-Kultur. (js)
 
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